# taz.de -- 100 Tage Donald Tusk: Durchwachsene Bilanz in Polen | |
> 100 Maßnahmen sollten es werden, doch Polens Präsident Duda blockiert. | |
> Enttäuscht sind vor allem Polinnen bei ihrem Kampf um reproduktive | |
> Rechte. | |
Bild: Protest gegen restriktive Abtreibungsrechte: War der Kampf der Frauen ums… | |
WARSCHAU taz | Polens liberalkonservative Bürgerplattform (PO) hat es sich | |
selbst eingebrockt: „100 konkrete Maßnahmen in den ersten 100 Tagen“ hatte | |
sie im Wahlkampf 2023 versprochen. Jetzt wetteifern alle darin, der | |
Mitte-links-Regierung aus der PO, dem agrarisch-christlichen Dritten Weg | |
und der Neuen Linken die Rechnung vorzulegen. Die erste Bilanz fällt eher | |
durchwachsen aus. Zwar hatte Staatspräsident Andrzej Duda vor hundert | |
Tagen, genauer am 13. Dezember 2023, die neue Regierung vereidigt, die dann | |
sofort durchstartete. | |
Doch kaum jemand in der neuen Koalition konnte damals ahnen, dass Duda die | |
demokratische Wahl missachten und fast alle Gesetze des neuen Parlaments | |
sabotieren würde – entweder durch ein Veto oder durch die Weiterleitung des | |
[1][Gesetzes an das von der nationalpopulistischen Partei Recht und | |
Gerechtigkeit (PiS)] kontrollierte Verfassungstribunal. Von den | |
versprochenen 100 Maßnahmen sind daher gerade mal ein gutes Dutzend | |
umgesetzt. Die 100 Tage haben sich auf 500 verlängert. Dann wird Duda | |
abtreten müssen, und der neue Präsident Polens, so das Kalkül von Tusk, | |
wird einer aus seiner Mitte-links-Koalition werden. | |
„Am meisten enttäuscht bin ich von Szymon Hołownia und seinem Dritten Weg�… | |
ärgert sich die 22-jährige Krankenschwester Aneta. „Ohne ihn wäre die | |
Abtreibungsfrage längst geregelt.“ Die junge Frau mit den blauen Strähnchen | |
im schwarzen Haar trifft sich mit zwei Freundinnen in der angesagten | |
Milchbar Zabkowski im Warschauer Stadtteil Praga Nord zum Crêpes-Essen. | |
„Genau“, sagt Ewa, 21, legt das Besteck beiseite und fährt mit dem | |
ausgestreckten rechten Arm bis unter die Tischkante: „Ich hoffe, dass seine | |
Partei bei den Kommunalwahlen so was von abschmiert.“ | |
„Geht ihr überhaupt wählen?“, unterbricht die Abiturientin Olga, 19. „Im | |
aktuellen Wahlkampf spielen Frauen doch überhaupt keine Rolle, so als würde | |
es uns gar nicht geben. Tusk ist doch an dem Desaster genauso schuld wie | |
Hołownia.“ Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch und trinkt einen Schluck | |
Kirschsaft. | |
## „Schluss mit der Frauenverachtung!“ | |
Vielen Frauen in Polen geht es so wie Aneta, Ewa und Olga. Bei den | |
Parlamentswahlen im Oktober 2023 hatten sie mit 74 Prozent aller | |
wahlberechtigten Polinnen eine Rekordbeteiligung erreicht. Doch das | |
Top-Thema, die Fristenregelung für eine legale Abtreibung in Polen, war | |
nach den Wahlen plötzlich keines mehr. Hołownia als Vorsitzender des Sejms, | |
des polnischen Abgeordnetenhauses, hatte die Parlamentsdebatte über die | |
bereits eingereichten Gesetzesprojekte der Neuen Linken immer wieder | |
verschoben, weil angeblich „gerade nicht die Zeit“ sei, um über ein so | |
wichtiges Thema zu reden. | |
„Ich gehe in jedem Fall wählen“, sagt Aneta. „Wir Polinnen haben die PiS | |
abgesägt, wir können auch den Dritten Weg abstrafen. Dafür müssen wir aber | |
wählen gehen.“ Auch Ewa plädiert dafür, sich an den Wahlen zu beteiligen: | |
„Es muss endlich Schluss sein mit dieser Frauenverachtung der etablierten | |
Parteien. Vor ein paar Tagen wurde mitten in Warschau eine junge Frau | |
vergewaltigt und ermordet – am helllichten Tag. Das kann doch so nicht | |
bleiben!“ | |
Viele Wählerinnen fürchten, dass es für die Männer an der Macht nie einen | |
guten Termin geben wird, [2][um über die durch die PiS gesetzlich | |
verankerte Diskriminierung zu debattieren und den Frauen ihre Rechte | |
zurückzugeben.] Denn nach den Kommunalwahlen am 7. April stehen schon im | |
Juni die Wahlen zum Europäischen Parlament an. Nach großem Frauenprotest | |
legte Hołownia den Tag für die Parlamentsdebatte über das Abtreibungsrecht | |
auf den 11. April fest. | |
„Wir sind diejenige Regierung, die in den ersten drei Monaten mehr getan | |
hat als jede andere Regierung Polens seit 1989“, sagte Tusk selbstbewusst | |
Mitte März. Er reagierte damit auf eine Konferenz der PiS, die ihn und | |
seine Mitstreiter als „Könige der Lügner“ bezichtigt hatte. „Acht Jahre | |
lang haben sich PiS-Politiker wie Jarosław Kaczyński oder Mateusz | |
Morawiecki der Lüge und Korruption schuldig gemacht“, so Tusk. In den | |
nächsten Tagen und Wochen werde das alles publik werden. „Diejenigen, die | |
uns vorwerfen, in den ersten drei Monaten nicht genug getan zu haben, sind | |
zum größten Teil die gleichen, die seit drei Monaten alles daransetzen, um | |
ein normales Regieren zu verhindern.“ | |
## Weimarer Dreieck mehr Bedeutung für Außenpolitik Polens | |
Die Polen und Polinnen würden das nicht vergessen: die Prügeleien der | |
PiS-Abgeordneten vor dem Sejm und im Sejm, die Vetos des Präsidenten gegen | |
neue Gesetze, die seit Wochen von der PiS provozierten und | |
[3][unterstützten Bauernproteste sowie Grenzblockaden durch Spediteure und | |
Bauern.] | |
Eingelöst hat die Mitte-links-Koalition aber auch wichtige Versprechen: Die | |
Zeit der PiS-Propagandasender TVP und Polskie Radio ist vorbei. Der | |
öffentlich-rechtliche Rundfunk sendet jetzt unabhängige Nachrichten. Polen | |
ist durch die aktive Außenpolitik der neuen Regierung zurück auf dem | |
internationalen Parkett. Die antideutsche und antieuropäische PiS-Politik | |
ist seit kurzem Geschichte, und das Gesprächsforum des „Weimarer Dreiecks“ | |
aus Polen, Deutschland und Frankreich soll wieder eine Schlüsselrolle in | |
der EU-Politik Polens spielen. | |
1991 war die Idee der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Polen | |
beim EU-Beitritt zu helfen, und so wurde in Weimar, wo sich gerade alle | |
drei Außenminister zu Beratungen getroffen hatten, das „Weimarer Dreieck“ | |
gegründet. In den Folgejahren spielte es immer wieder eine wichtige Rolle, | |
verlor in der PiS-Zeit aber an Bedeutung. | |
Auch bei der Ukraine-Hilfe ist Polen wieder vorne dabei. Anders als Premier | |
Morawiecki angekündigt hatte, will Tusk mit Waffenlieferungen im Krieg | |
gegen Russland helfen. In Brüssel gelang es ihm, die wegen mangelnder | |
Rechtsstaatlichkeit in Polen gesperrten EU-Zuschüsse loszueisen. Zwar | |
konnte die Demontage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch die PiS | |
nicht vollständig rückgängig gemacht werden, aber das Paket, das das Ende | |
der Präsidentschaft Duda als positive Zäsur sieht, macht die Auszahlung von | |
Milliarden Euro möglich. | |
25 Mar 2024 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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