# taz.de -- Verfassungsexpertin über Polen: „Reparaturarbeiten sind schwieri… | |
> Zurück zum Rechtsstaat, das ist das Ziel von Polens neuer Regierung. Die | |
> Verfassungsrechtlerin Ewa Łętowska erklärt, warum das so kompliziert ist. | |
Bild: Parlamentssitzung: Von seinem Platz in der vorderen Reihe nimmt PiS-Chef … | |
wochentaz: Frau Łętowska, vor Kurzem empörte sich Polens Präsident Andrzej | |
Duda über einen „Terror der Rechtsstaatlichkeit“. Fühlen Sie sich von | |
„Rechtsstaatsterroristen“ umgeben? | |
Ewa Łętowska: In der Tat sorgt diese Äußerung unseres Präsidenten weltweit | |
für Furore. Aber es gibt natürlich keinen Terror der Rechtsstaatlichkeit. | |
Präsident Duda hatte sich darüber geärgert, dass seine ehemaligen Kollegen | |
von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ausgerechnet im | |
Präsidentenpalast verhaftet wurden. Dabei hatte er sich das selbst | |
zuzuschreiben. Hätte er die beiden Politiker nicht bei sich aufgenommen, | |
die immerhin wegen Dokumentenfälschung und Amtsmissbrauchs zu zwei Jahren | |
Haft verurteilt worden waren, hätte die Polizei die beiden [1][Straftäter | |
auch nicht im Präsidentenpalast] verhaftet. Dass die Straftäter in | |
Handschellen abgeführt wurden, war ganz normale Polizeiarbeit. | |
Dennoch sind viele polnische Intellektuelle der Ansicht, dass die Methoden | |
der neuen Mitte-links-Regierung an jene der PiS erinnern. Macht die neue | |
Koalition wirklich das Gleiche wie zuvor die PiS? | |
Nein, die Unterschiede liegen doch auf der Hand. Die PiS hat die Demokratie | |
demontiert, um den polnischen Staat in Besitz nehmen und ausplündern zu | |
können. Die Bürgerplattform (PO) und ihre Koalitionspartner machen genau | |
das Gegenteil. Sie bemühen sich, Demokratie und Rechtsstaat wieder | |
aufzubauen, um den Bürgern das verloren gegangene Vertrauen in ihren Staat | |
zurückzugeben. Allerdings sind die [2][Reparaturarbeiten schwierig], wenn | |
sowohl der Präsident als auch das Verfassungstribunal und die nach wie vor | |
mächtige PiS – jetzt als Oppositionspartei – gegen den Wiederaufbau | |
von Demokratie und Rechtsstaat sind. | |
Nochmal zum politischen Stil. Durfte der neue Kulturminister Bartłomiej | |
Sienkiewicz die [3][Führungsriege der PiS-Staatsmedien] einfach | |
austauschen? War das juristisch korrekt? | |
Politisch elegant war das sicher nicht. Aber es war eben auch nicht | |
verfassungswidrig. In Polen haben wir es zurzeit mit zwei Phänomenen zu | |
tun, die auch in Deutschland gut bekannt sind. Da ist zum einen der | |
Doppelstaat, wie ihn Ernst Fraenkel (Politologe und Jurist; Anm. d. Red.) | |
zum ersten Mal am Beispiel Nazideutschlands von 1933 bis 1945 analysiert | |
hat. Und da ist zum anderen der Etikettenschwindel, mit dessen Hilfe | |
autoritäre Regime ihre wahren Absichten verschleiern. | |
Können Sie das genauer erklären? | |
Wir haben es in Polen derzeit mit einem Paradebeispiel des Doppelstaats im | |
Sinne Fraenkels zu tun: Unsere demokratische Verfassung existiert | |
unverändert, und ihre Artikel lassen sich nach wie vor demokratisch | |
auslegen und anwenden. Daneben ist in den letzten acht Jahren durch immer | |
neue und zum Teil verfassungswidrige Gesetze eine Rechtspraxis entstanden, | |
die im Widerspruch zur Verfassung steht. Zugleich übernahm die PiS die | |
Kontrolle über das Verfassungstribunal; nicht schlagartig, aber im Laufe | |
der Jahre. Zudem wurden die Beamten politisiert. Es entstand eine | |
PiS-Nomenklatura. Fraenkel nannte die beiden nebeneinander existierenden | |
Rechtssysteme Normenstaat und Maßnahmenstaat. | |
Und was hat der Doppelstaat mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk | |
beziehungsweise den PiS-Staatsmedien zu tun? | |
In Nazideutschland waren alle Medien gleichgeschaltet, auch die früher | |
privaten. So weit ist es in Polen zum Glück nicht gekommen. Doch wenn wir | |
verstehen wollen, wie es fast so weit kam, müssen wir etwas ins Detail | |
gehen. Bevor die PiS an die Macht kam, traf der in der Verfassung | |
verankerte Landesrat für Rundfunk und Fernsehen KRRiT alle wichtigen | |
Medienentscheidungen. In diesem Rat waren fast alle gesellschaftlichen und | |
politischen Kräfte repräsentativ vertreten. Die PiS gründete mit einem | |
ihrer ersten Gesetze 2016 eine Art Konkurrenzinstitution: den Nationalen | |
Medienrat. Diesem neuen Rat übertrug sie alle bisherigen Kompetenzen des | |
KRRiT. Schon Mitte 2016 entschied aber das damals noch funktionierende | |
Verfassungsgericht, dass dies verfassungswidrig sei. Doch weder das | |
Parlament mit der absoluten Stimmenmehrheit der PiS kümmerte das groß noch | |
den PiS-nahen Präsidenten. | |
Die neue Tusk-Regierung fand bei ihrem Amtsantritt den Nationalen Medienrat | |
vor, der jahrelang Entscheidungen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk | |
getroffen hatte, obwohl er das laut Urteil des Verfassungsgerichts gar | |
nicht durfte? | |
Genau. Seine Personalentscheidungen waren verfassungswidrig und somit | |
illegal. Der reguläre Weg wäre ein Gesetz gewesen, mit dem das neue | |
Parlament den Nationalen Medienrat abgeschafft und die ihm illegal | |
übertragenen Kompetenzen an den KRRiT zurückgegeben hätte. Aber es gab zwei | |
Probleme: Zum einen war inzwischen auch der KRRiT politisiert und unter | |
PiS-Kontrolle, zum anderen hatte der Präsident bereits sein Veto gegen ein | |
mögliches Mediengesetz angekündigt. Was also tun, um aus einer | |
PiS-Propagandaschleuder wieder einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu | |
machen, wenn der normale Gesetzesweg versperrt war? Gefragt war etwas | |
Fantasie. | |
Fantasie? | |
Ja, denn der Weg sollte trotz allem legal sein. So hat die Tusk-Regierung | |
als Erstes laut und vernehmlich verkündet, dass in Polen wieder EU-Recht | |
angewendet wird und dass Polen alle Urteile der europäischen Gerichtshöfe | |
anerkennen und umsetzen wird. Das allein bringt die Regierung schon einen | |
großen Schritt weiter, da sie sich nun auf die vielen Urteile berufen kann, | |
die in den letzten acht Jahren in Luxemburg und Straßburg gefallen sind. | |
Zudem gab der Sejm in einem Beschluss bekannt, aus der | |
PiS-Propagandaschleuder wieder einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk machen | |
zu wollen, wie er in der Verfassung vorgesehen ist. Er soll die Bürger | |
möglichst objektiv informieren und pluralistisch sein. Erst danach hat der | |
Kulturminister von seinem Hausrecht als Eigentümer der | |
Rundfunkaktiengesellschaft Gebrauch gemacht und die Aufsichtsräte | |
ausgetauscht. Die ganze Operation blieb im Übrigen unter Aufsicht der | |
Handelsgerichte. | |
Das war also völlig legal? | |
Es war ungewöhnlich, aber nicht verfassungswidrig. In einer | |
funktionierenden Demokratie hätte man das mit einem oder mehreren Gesetzen | |
erledigt. Aber zurzeit geht das nicht. Dennoch sollte die neue Koalition | |
ein Mediengesetz durchs Parlament bringen. Dann wird man sehen, ob der | |
Präsident sein Veto einlegen wird, wie er es angekündigt hat. | |
Besteht die Versuchung, dass die Tusk-Regierung die von der PiS | |
geschaffenen (Un)rechtsmöglichkeiten ausnutzt – dieses Mal im Dienste der | |
siegreichen Koalition? | |
Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt. Allerdings erschwert die Methode der | |
kleinen Schritte den Wiederaufbau der Rechtsstaatlichkeit. Zumal sich ja | |
auch der Präsident nicht daran beteiligt. Dadurch verlangsamt sich der | |
gesetzgeberische Reformprozess hin zu einer Normalisierung der Situation. | |
Aber Rechtsbruch kann keine Legitimität schaffen. | |
Die Reformen müssen auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfinden. Wie will | |
die Regierung dem Rechtschaos vorbeugen? | |
Die Gefahr eines solchen Chaos besteht natürlich. Aber sie ist nicht neu. | |
Seit Beginn der populistischen PiS-Regierung 2015 haben wir hier Chaos. | |
Gerade für Westeuropäer gilt es aber zu bedenken, dass es in Polen nie | |
einen Rechtskult gab wie in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. | |
Das hat mit der Geschichte zu tun. Im 19. Jahrhundert teilten Russen, | |
Preußen und Österreicher Polen unter sich auf und etablierten in den | |
Teilungsgebieten ihr eigenes Recht. Den Polen war dieses Recht fremd, und | |
sie haben es bei jeder Gelegenheit sabotiert. Dieser Zustand dauerte 123 | |
Jahre an, bis zum Versailler Vertrag. Polen war dann gerade mal 20 Jahre | |
unabhängig, bis es 1939 erneut aufgeteilt wurde, dieses Mal von Hitler und | |
Stalin. Das Besatzungsrecht war wieder fremd. Auch das kommunistische | |
Nachkriegsrecht empfanden die meisten Polen als „nicht polnisch“. Der Weg | |
Polens hin zur Wertschätzung des Rechts, der Rechtsstaatlichkeit und der | |
Prinzipien des Rechtsstaats war steinig. | |
Ist zu befürchten, dass die polnischen Staatsbürger bald die Geduld mit der | |
neuen Koalition verlieren, weil diese nicht sofort „liefert“? | |
Ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Viele Polen finden den aktuellen | |
Politzirkus sogar recht unterhaltsam. Der Sejm-Kanal im Internet hat nach | |
wie vor sehr hohe Einschaltquoten, und manche Sitzungen werden sogar im | |
Kino übertragen. Der Ruf „Bringt Popcorn mit!“ ist schon zum geflügelten | |
Wort geworden. Ob allerdings Politik, die als Infotainment konsumiert wird, | |
eine solide Unterstützung durch die Zivilgesellschaft nach sich ziehen | |
wird, wird sich weisen müssen. | |
Andererseits verteidigen die PiS-Politiker jetzt „Demokratie und | |
Rechtsstaatlichkeit“, wollen sich bei der EU über die Tusk-Regierung | |
beschweren und beschwören die Meinungsfreiheit. Blicken die Polen bei | |
dieser Kakophonie noch durch? | |
Dieser Etikettenschwindel ist natürlich eine große Herausforderung. Was | |
meint Donald Tusk, wenn er von „freien Medien“ spricht? Was meint Jarosław | |
Kaczyński, wenn er die „freien Medien“ verteidigt? Handelt es sich um das | |
Gleiche? Im Falle der Medien haben es wohl alle Polen verstanden: Die | |
PiS-Parteipropagandaschleudern sind jedenfalls keine freien Medien. | |
Schwieriger ist es bei den Gerichten: Wie soll ein Nichtjurist verstehen, | |
wann ein Gericht ein „richtiges Gericht“ ist und wann es sich zwar so | |
nennt, in Wirklichkeit aber nur die Fassade eines unabhängigen Gerichts | |
ist? Oder auch bei den Richtern. Hier haben wir es mit einem sehr großes | |
Problem zu tun. Denn in den letzten acht Jahren wurde etwa ein Viertel | |
aller Richter – und wir haben rund 11.000 – in einer mehr als zweifelhaften | |
Art und Weise befördert. | |
Wer erklärt den Bürgern diese Verwerfungen im Staat? | |
Das ist nicht nur eine Herausforderung für die Regierung, sondern auch für | |
die Richter und Staatsanwälte, die die angeschlagene Legitimität der | |
Gerichte wieder aufbauen müssen. Diese Aufgabe ist noch größer und | |
schwieriger als die Transformation der Jahre 1988 bis 1990. | |
Wird es der Tusk-Regierung gelingen, in Polen wieder eine | |
freiheitlich-liberale Demokratie zu etablieren? | |
Das weiß ich nicht, hoffe es aber sehr. Allerdings wird dies keine | |
Demokratie wie vor 2015 sein. Wir gehen nicht zurück, sondern vorwärts, | |
wenn auch langsam. Die Demokratie wird anders aussehen, als wir uns das | |
heute vorstellen. Doch wenn in diesen letztlich unruhigen Zeiten nichts | |
Außergewöhnliches geschieht, wird Polen in einigen Jahren wieder eine | |
pluralistische Demokratie sein. Natürlich wird darin auch die | |
nationalpopulistische PiS ihren Platz haben, aber eben auch die Linken, die | |
Christdemokraten und die Liberalen. | |
11 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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