Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abtreibungsrecht in Polen: „Goebbels“-Rufe und Babygeschrei
> Es war ein Wahlversprechen: Der Sejm in Polen hat die Liberalisierung des
> Abtreibungsrechts diskutiert. Jetzt muss ein Sonderausschuss ein Gesetz
> daraus machen.
Bild: Anna Maria Zukowska: Initiatorin des Gesetzes zur Liberalisierung des Sch…
Warschau taz | Das durchdringende Babygebrüll ist bis in die Eingangshalle
des polnischen Abgeordnetenhauses zu hören. Irritiert verlassen einige
Parlamentarier den Sejm, schauen auf der Straße nach, was es mit dem
Kindergeschrei auf sich hat und kommen kopfschüttelnd zurück:
„Lebensschützer!“, winken sie ab: „Lautsprecher auf einem Lieferwagen.“
Am Mittwoch diskutierten Polens Parlamentarier sechs Stunden lang über die
Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Am Donnerstag warf Jaroslaw
Kaczynski von der nationalpopulistischen Oppositionspartei Recht und
Gerechtigkeit (PiS) noch einen „Goebbels!“ in die Runde, konnte damit aber
auch nicht mehr verhindern, dass die neue Mitte-Links-Koalition unter
Premier Donald Tusk ihr Wahlversprechen einlöste, mit dem sie im Oktober
2023 die Wahlen gewonnen hatte: sie sprach sich geschlossen für die
Liberalisierung des Abtreibungsrechts aus.
## Heillos zerstrittene Koalitionäre
Dabei sah es zunächst so aus, als könnte das große Projekt scheitern. Denn
die drei Koalitionäre aus liberalkonservativer Bürgerkoalition (KO), dem
Parteienbündnis Dritter Weg aus Bauernpartei PSL und der
christdemokratischen Polska2050 und der Neuen Linken aus den
Sozialdemokraten und dem rotgrünen Wiosna (Frühling) zerstritten sich
heillos.
Schließlich legten sie dem Sejm nicht ein gemeinsames Gesetzesprojekt zur
Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes vor, sondern gleich vier
unterschiedliche, die als sehr liberal (zwei Projekte der Neuen Linken),
liberal (Bürgerkoalition) und sehr konservativ (Dritter Weg) gelten können.
Ein Sonderausschuss im Sejm soll es nun richten und aus den vier Projekten
eines formulieren, mit dem alle leben können. Auch das beschloss am
Donnerstag die Mehrheit der polnischen Abgeordneten gegen den empörten
Aufschrei der PiS-Anhänger.
## Abtreibungszahlen weit höher als offiziell bekannt
„Allein in diesem Monat haben 9.000 Frauen in Polen einen
Schwangerschaftsabbruch vorgenommen“, sagte Anna Maria Zukowska, die
Fraktionsvorsitzende der Linken, in der Debatte am Mittwoch und schockierte
damit die Anwesenden. Jahrelang wiesen die offiziellen Statistiken nur um
die 1.000 legale Abtreibungen für das ganze Jahr aus. [1][Seit der weiteren
Verschärfung des Abtreibungsrechts im Jahr 2020] durch das
Verfassungstribunal sind die Zahlen auf ein paar hundert gesunken.
[2][Dafür sterben immer mehr Schwangere], deren Leben man durch einen
rechtzeitigen Abbruch hätte retten können. „Es ist höchste Zeit, dass wir
über Frauen reden“, so Zukowska. „Nicht nur über Eierstöcke, Föten und
Weltanschauungen von Ärzten, Bischöfen und Verfassungsrichtern.“
## Hitzige Debattenbeiträge
Dorota Olka von der unabhängigen Linken „Razem“-„Gemeinsam“ plädierte…
die [3][Entkriminalisierung der Hilfe bei der Abtreibung durch dritte
Personen]. So kann man heute für die Weitergabe einer Abtreibungspille oder
auch nur einer SOS-Adresse für ungewollt Schwangere mit bis zu drei Jahren
Haft bestraft werden.
Monika Wielichowska von der Fraktion der Bürgerkoalition kritisierte die
„Heuchler, die nicht anerkennen wollten, dass es Abtreibung gab, gibt und
geben wird“. Der Staat müsse den Frauen das Recht auf die eigene
Entscheidung zurückgeben. „Wir als Politiker müssen die Frauen
unterstützen, statt ihnen zu drohen und sie zu erniedrigen“, so Wielichowa.
Dariusz Matecki von der oppositionellen PiS brachte ein großformatiges
Plakat mit dem Bild eines angeblich 10wöchigen und seiner Ansicht nach
schon vollentwickelten „ungeborenen Kindes“ mit ans Rednerpult. Als eine
andere Abgeordnete an das Pult trat, drückte er auf einen Knopf auf der
Rückseite des Plakates – und im ganzen Saal waren die Herztöne „eines
Menschen“ stellvertretend für alle zu hören, die die Regierungspolitiker
angeblich „töten“ wollten, so Matecki.
Agnieszka Buczyńska vom agrarisch-christlichem Dritten Weg war es wohl
selbst ein bisschen peinlich, den „Abtreibungs-Kompromiss“ von mehrheitlich
männlichen Abgeordneten und katholischen Bischöfen verteidigen zu müssen,
den diese vor dreißig Jahren über die Köpfe der Polinnen hinweg geschlossen
hatten. „Unser Projekt geht über den Kompromiss hinaus“, erklärte sie im
Sejm. „Die Verhütung soll künftig kostenlos sein. Und wir wollen die Polen
und Polinnen in einem großen Referendum befragen und entscheiden lassen.“
## Umsetzung des Wahlversprechens erwartet
Umfragen zeigen allerdings, dass zwischen 50 und 60 Prozent aller Polinnen
und Polen die Umsetzung des Wahlversprechens der Koalition durch ein
liberales Abtreibungsgesetz erwarten. Interesse an einem zusätzlichen
Referendum haben hingegen lediglich rund 30 Prozent aller Stimmberechtigen.
Szymon Holownia aber, der Co-Chef des christlich-agrarischen Dritten Wegs,
hat in letzter Minute noch einmal die Kurve gekriegt und dafür gesorgt,
dass auch seine Leute für alle vier Gesetzesprojekte stimmten. Holownia
will 2025 Nachfolger von Präsident Andrzej Duda werden.
12 Apr 2024
## LINKS
[1] /Protest-gegen-Abtreibungsverbot/!5722494
[2] /Protest-gegen-Abtreibungsgesetze-in-Polen/!5941104
[3] /Einsatz-nach-Abtreibungspille-in-Polen/!5945269
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Polen
Warschau
Donald Tusk
Schwerpunkt Abtreibung
Frauenrechte
Selbstbestimmung
Polen
Polen
Katja Meier
Schwerpunkt Abtreibung
Polen
Polen
Polen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abtreibungen in Polen: Neue Richtlinien, kein neues Gesetz
Polens Regierung legt neue Richtlinien für Abtreibungen vor. Es ist ein
erster kleiner Schritt, aber nicht der von Donald Tusk versprochene große
Wurf.
Abtreibungsrecht in Polen: Tusks Liberalisierung scheitert
Donald Tusk ist mit der Reform des Abtreibungsrechts nicht durchs Parlament
gekommen. Nach der Sommerpause plant Polens Premier einen neuen Vorstoß.
Landesministerin über Abtreibungen: „Stigma des Verbotenen“
Die Ampel solle Vorschläge machen, um Abtreibungen außerhalb des
Strafrechts zu regeln, sagt Sachsens Gleichstellungsministerin Katja Meier.
Reform des Abtreibungsrechts: Je katholischer, desto restriktiver?
Eine Kommission stellt am Montag Empfehlungen zur Reform des
Abtreibungsrechts vor. Wie ist die Rechtslage im europäischen Ausland?
Abtreibungsrecht in Polen: Die Wut der Polinnen
Ein liberaleres Abtreibungsrecht war ein Wahlversprechen der polnischen
Mitte-Links-Koalition. Im Abgeordnetenhaus wird das nun verschleppt.
„Pille danach“ in Polen: Präsident Duda legt Veto ein
Millionen Polinnen sind enttäuscht, dass Duda das Gesetz zum freien Verkauf
der „Pille danach“ blockiert. Aber die Regierung in Warschau hat einen
„Plan B“.
100 Tage Donald Tusk: Durchwachsene Bilanz in Polen
100 Maßnahmen sollten es werden, doch Polens Präsident Duda blockiert.
Enttäuscht sind vor allem Polinnen bei ihrem Kampf um reproduktive Rechte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.