# taz.de -- Angriffe in Budapest: Mit welchen Mitteln gegen den Faschismus? | |
> Die Studentin Hanna S. steht wegen versuchten Mordes an Neonazis vor | |
> Gericht. Statt eines Kunstpreises droht ihr nun eine lange Haftstrafe. | |
Bild: Demo in München: Rund 850 Menschen zeigen im Februar 2025 Solidarität m… | |
Es ist eine kleine Zahl, die Hanna S. jeden Hafttag mit einem | |
Kugelschreiber auf ein kariertes DIN-A4-Blatt schreibt, in jedes Karo die | |
gleiche Zahl. Eine für jeden Hafttag. Inzwischen ist die 30-Jährige bei 447 | |
vollgeschriebenen Blättern und Hafttagen angekommen, mit jedem Papier wird | |
es darauf immer enger und dunkler. Und jedes dieser Blätter schickt die | |
Nürnberger Kunststudentin nach draußen, raus aus der kleinen Zelle, in der | |
sie nun schon seit 14 Monaten sitzt, derzeit in der JVA Stadelheim, einem | |
rotgetünchten Rundbau im Süden Münchens. | |
Es ist ein Ritual, um die Zeit hinter Gittern zu verarbeiten, mit Blick nur | |
auf einen Innenhof, und die Ohnmacht, dort gefangen zu sein. Es ist aber | |
auch der Wille, die künstlerische Arbeit fortzusetzen. Auch und gerade | |
jetzt. | |
Erst vor wenigen Tagen hat Hanna S. ein paar Blätter Papier vor sich | |
liegen, diesmal im ausladenden, holzvertäfelten Hochsicherheitssaal des | |
Oberlandesgericht München, der unterirdisch liegt und mit der JVA verbunden | |
ist. Sonnenlicht bricht sich durch vergitterte Dachfenster hinein. [1][Seit | |
Februar sitzt die Nürnbergerin hier auf der Anklagebank], seit 27 | |
Prozesstagen. Hanna S. erscheint am Dienstagmorgen ganz in Schwarz, die | |
Haare zum Zopf gebunden. Sie wirkt erschöpft, knetet immer wieder ein | |
braunes Kissen, verfolgt die Verhandlung jedoch aufmerksam, macht Notizen | |
und spricht mit ihren Verteidigern. | |
Der Vorwurf gegen sie ist schwer: Die Studentin soll im Februar 2023 an | |
[2][Angriffen auf Rechtsextreme in Budapest beteiligt gewesen sein] – rund | |
um den „Tag der Ehre“, bei dem Neonazis aus ganz Europa den letzten | |
Wehrmachtswiderstand verherrlichen. Damals griffen Vermummte in | |
Kleingruppen neun Rechtsextreme an, teils mit Schlagstöcken. Es gab schwere | |
Verletzungen. Hanna S. soll an zwei dieser Angriffe beteiligt gewesen sein, | |
auf einen Ungar und ein deutsches Paar. Die Anklage lautet auf | |
Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, gefährliche | |
Körperverletzung und versuchten Mord. | |
Bereits am 6. Mai wurde Hanna S. in Nürnberg-Gostenhof auf Geheiß der | |
Bundesanwaltschaft festgenommen – kurz bevor sie mit ihrem Hund joggen | |
wollte. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft. Bei einer Verurteilung | |
wegen versuchten Mordes drohen bis zu 15 Jahre. | |
## Der Vorwurf gegen Hanna S. ist schwer | |
Den Sicherheitsbehörden gilt Hanna S. nun als eine der gefährlichsten | |
Linksextremen des Landes. Und ihr Prozess ist ein Präzedenzfall, was | |
hierzulande beschuldigten Linken für die Budapest-Angriffe droht. Denn acht | |
weitere Linke sitzen derzeit deshalb in Haft, denen demnächst Prozesse in | |
Düsseldorf und Dresden bevorstehen. Auch hier lautet der Vorwurf auf | |
versuchten Mord. Dazu kommt eine weitere Person, deren Fall bisher die | |
meisten Schlagzeilen machte: [3][Maja T., nonbinäre Antifaschist*in aus | |
Jena], vor einem Jahr ausgeliefert nach Ungarn – rechtswidrig wie das | |
Bundesverfassungsgericht später feststellte. Maja T. sitzt seitdem in | |
Isolationshaft, es drohen 24 Jahre Haft. Zuletzt war T. 40 Tage im | |
Hungerstreik. | |
Hanna S. geriet dabei zunächst gar nicht ins Zentrum der Ermittlungen. Erst | |
spät wurde sie zur Beschuldigten. Anders als bei den anderen Festgenommenen | |
verlangte Ungarn in ihrem Fall keine Auslieferung mehr. Diese droht bisher | |
nur noch einem weiteren Beschuldigten, [4][Zaid A., ebenfalls aus | |
Nürnberg]. Für den syrischen Staatsbürger sieht sich die Bundesanwaltschaft | |
als Nichtdeutschen bislang nicht zuständig. | |
[5][Hanna S. sitzt nun unter verschärften Sicherheitsbedingungen in Haft] – | |
zunächst in einem besonders gesicherten Haftraum, rund um die Uhr | |
videoüberwacht. Freizeitangebote wurden ihr verwehrt. Inzwischen wurden | |
einige Auflagen gelockert. Doch weiterhin wird jeder Brief geprüft, Besuch | |
findet nur unter Aufsicht und hinter einer Trennscheibe statt. Über ihren | |
Fall wachte zeitweise ein eigens abgestellter Extremismusbeauftragter der | |
JVA – ausschließlich für sie zuständig. | |
## Ihre Werke seien fragil und sensibel | |
Dabei hätten für Hanna S. die nächsten Monaten ganz anders verlaufen | |
sollen. Denn an ihrer Nürnberger Kunstakademie gilt sie als eines der | |
größten Talente. Sehr engagiert, sehr kreativ, sehr präsent, wie es dort | |
heißt. Und am 6. November sollte sie auf einer Bühne in Bonn stehen, in der | |
Bundeskunsthalle, einem der bestbesuchten Museen Deutschlands – als | |
Preisträgerin beim Bundeswettbewerb für Kunststudierende, ausgelobt vom | |
Bundesbildungsministerium und Studierendenwerk. Als eine von sieben | |
bundesweit ausgewählten Nachwuchskünstler*innen, gekürt im März. Mit 3.750 | |
Euro Preisgeld für jeden, plus einem Stipendium von 2.250 Euro. | |
Mit einem Fußabtreter, gewoben aus Frauenhaaren, braun, blond, schwarz, | |
hatte Hanna S. die Jury überzeugt. Die Textur wird erst bei genauem Blick | |
klar – und dann auch die Botschaft. Das Abstreifen schmutziger Schuhe auf | |
der Matte, die Demütigung von Frauen in der Gesellschaft. Oder eine | |
meterlange Kette, geknüpft aus kleinen Gliedern aus Papierausdrucken von | |
Gesetzestexten und rassistischen Politiker*innenzitaten – bei der | |
jedes Kettenglied für einen der mehr als 25.000 ertrunkenen Geflüchteten im | |
Mittelmeer steht. | |
In der Laudatio des Bundespreises heißt es, Hanna S. überführe | |
gesellschaftspolitische Themen wie den Rechtsruck, Sexismus oder die | |
„Flüchtlingskrise“ in „formal präzise und äußerst poetische Setzungen… | |
Ihre Werke seien, in ihren Materialien und Techniken, fragil und sensibel. | |
Geschaffen würden damit aber „wirkmächtige, politische Bilder“, denen „… | |
nur schwer zu entziehen ist“. Wobei Hanna S. keine einfachen Antworten | |
gebe, ihre Werke „belehren und agitieren nicht“. | |
Auch der damalige Interims-Bundesbildungsminister Cem Özdemir (Grüne) lobte | |
die Arbeiten von Hanna S. und den anderen sechs Ausgezeichneten als | |
„hervorragend“. Gerade die Kunst biete einzigartige Möglichkeiten, sich mit | |
den aktuell drängenden Fragen zu beschäftigen und Menschen öffentlich | |
zusammenzubringen, so Özdemir. Was in Zeiten, in denen die Demokratie | |
angegriffen werde, „umso wichtiger“ sei. | |
Doch aus der Siegerehrung in der Bonner Bundeskunsthalle wird wohl nichts. | |
Denn Hanna S. sitzt weiter in Haft und in München vor Gericht. Und dort wie | |
an ihrer Nürnberger Akademie der Bildenden Künste fragen sie sich: Wie | |
passen diese Bilder zusammen – das der gefeierten Kunststudentin und das | |
der als Linksmilitanten Angeklagten? Wie gefährlich ist die 30-Jährige | |
wirklich? | |
Hanna S. selbst äußerte sich bisher nicht zu den Vorwürfen, nicht nach der | |
Festnahme und auch nicht im Prozess. Nur am zweiten Prozesstag sagte sie zu | |
ihrem Lebenslauf aus. „Das Bild, das von mir durch die Bundesanwaltschaft | |
und die Polizei gezeichnet wird, ist nicht das, was ich bin“, erklärte | |
sie. „Es zeigt lediglich, dass sie mit aller Härte gegen mich und die | |
Mitbeschuldigten vorgehen.“ | |
## Einige Verletzungen lebensgefährlich | |
Die Bundesanwaltschaft betont vor allem die Brutalität der Angriffe: Ziel | |
sei es gewesen, den Opfern „größtmöglichen gesundheitlichen Schaden | |
zuzufügen“. Teilweise sei mehr als fünfzehn Mal auf den Kopf geschlagen | |
worden, einige Verletzungen seien lebensgefährlich gewesen. Hanna S. soll | |
laut Anklage eine vermummte Person mit roter Jacke auf einem | |
Überwachungsvideo sein – zu sehen ist, wie diese versucht, einem Opfer Arme | |
und Beine zu fixieren. | |
Die Täter seien gezielt vorgegangen, heißt es in der Anklage: Sie hätten | |
frühzeitig zwei Wohnungen in Budapest gemietet und anonymisierte Handys | |
genutzt. Aber: Ob Hanna S. tatsächlich die vermummte Frau in roter Jacke | |
ist, bleibt nach 27 Verhandlungstagen umstritten – die Videos zeigen keine | |
Gesichter, und keines der Opfer konnte sie identifizieren. | |
Und Hanna S. setzt im Gerichtssaal dem Bild der linken Gewalttäterin ein | |
anderes entgegen. Sie berichtete dort von einer „schönen und recht normalen | |
Kindheit“ in einem Dorf in Unterfranken, von ihren Schwestern, ihrer | |
„tollen Familie“. Sie habe auf Pferden voltigiert, als Jugendliche dies | |
auch Kindern beigebracht. Nach dem Fachabitur zog sie nach München, machte | |
erst eine Ausbildung zur Kommunikationsdesignerin, dann in Nürnberg eine | |
Schreinerin-Lehre am Staatstheater, kellnerte nebenbei. Sie sei schon immer | |
jemand gewesen, die gerne auch mit ihren Händen arbeitet, sagte sie im | |
Gericht über sich selbst. | |
Was Hanna S. politisierte, liegt Jahre zurück: 2017 sollte ein afghanischer | |
Mitschüler an ihrer Berufsschule abgeschoben werden, der 20-jährige Asef. | |
Schüler*innen blockierten das Polizeiauto, es kam zu Zusammenstößen mit | |
der Polizei. Am Ende wurde die Abschiebung abgesagt, weil es einen Anschlag | |
in Kabul gab. „Dieser Tag hat mir die Augen geöffnet“, sagte Hanna S. – | |
damals habe sie erkannt, „wie ungerecht diese Welt ist“. | |
Kurz darauf gründete sie die Initiative „Bildung statt Abschiebung“ mit, | |
die sich zunächst für Asef einsetzte, später für ein generelles Bleiberecht | |
von Geflüchteten in Ausbildung. Sie beteiligte sich an einem bayernweiten | |
Bildungsstreik, protestierte gegen Lagerunterbringung und half als | |
Schreinerin beim Bau eines Seenotrettungsschiffs für den Einsatz im | |
Mittelmeer. „Ich kann nicht all das wissen und nichts unternehmen“, sagte | |
sie. | |
Ab 2020 nahm Hanna S. dann in Nürnberg ihr Kunststudium auf. Und auch ihre | |
Werke dort sind politisch. Sie will damit zum Nachdenken anregen, aber auch | |
„gegen das Ohnmachtsgefühl ankommen“, wie sie sagt. In ihrem Umfeld heißt | |
es, die Empörung über Ungerechtigkeiten, sei der Antrieb von Hanna S.' | |
Kunst. Sie suche nach Systemfehlern und lege diese offen. Nachdem die | |
Wohnung von Hanna S. bereits im Oktober 2023 in Nürnberg von der Polizei | |
durchsucht wurde – damals unter dem Vorwurf, mit anderen Antifa-Graffiti | |
gesprüht zu haben –, zerstückelte die Studentin eine Nachstellung der Akte | |
ihrer „erkennungsdienstlichen Behandlung“ durch die Beamten. Dokumentiert | |
war dort, wie sie sich entkleiden musste, wie ihre Tattoos oder Narben | |
fotografiert wurden. Die Akte drillte sie zu Papierwolle und strickte | |
daraus ein weiß-graues Hemd, hängte es auf einen Bügel. „Gedemütigt, | |
erniedrigt und nackt“ habe sie sich damals gefühlt, notierte sie dazu. | |
Auch ein weiteres Werk begann Hanna S.: 324 kleine Tafeln aus grauem | |
Karton, auf denen mit dunkelblauen Garnknötchen Lebensjahre markiert sind – | |
die Lebensjahre jedes Todesopfer durch rechte Gewalt seit 1945. Wenn man | |
über Monate Knötchen für die Lebensjahre der Ermordeten binde und dazu ihre | |
Schicksale nachlese, „dann macht das was mit dir“, sagte Hanna S. Ihre | |
Festnahme verhinderte die Vollendung des Werks. | |
Und die Ermittler betrieben erheblichen Aufwand, um Hanna S. festzunehmen. | |
In Budapest wurden zunächst zwei Tatverdächtige aus Berlin gefasst. | |
Ungarische Behörden baten daraufhin die deutsche Polizei um Hilfe. Diese | |
glaubte, auf den Videos ein Muster zu erkennen: das der „Hammerbande“, wie | |
sie von Boulevardmedien und Rechten genannt wird – eine Gruppe Linker um | |
Lina E. und Johann G., die in Sachsen und Thüringen Neonazis angegriffen | |
haben sollen. Lina E. verbüßt dafür eine mehrjährige Haftstrafe, Johann G. | |
steht demnächst vor Gericht. | |
Das sächsische LKA veranlasste daraufhin Telefonüberwachungen und | |
Observationen. [6][So wurde im Dezember 2023 Maja T]. in Berlin | |
festgenommen. Ungarische Ermittler analysierten stundenlang | |
Überwachungsvideos aus Budapest und verfolgten die Wege der mutmaßlichen | |
Täter zurück bis zu einer Ferienwohnung. Über eine Türspion-Kamera | |
erhielten sie Bilder einzelner Gesichter. Deutsche Ermittler verglichen | |
diese mit Fotos aus dem Umfeld der bereits Identifizierten – und stießen | |
dabei auf ein Bild von Hanna S., das sie mit einer „unbekannten weiblichen | |
Person 15“ aus einem der Videos in Verbindung brachten. Sie war ihnen | |
bereits aus dem Graffiti-Verfahren bekannt. | |
Im Prozess in München wurden nun stundenlang die Überwachungsvideos | |
angeschaut – von den Angriffen, der Ferienwohnung, einem Restaurantbesuch, | |
einer Straßenbahnfahrt. Das Gesicht, das zu Hanna S. gehören soll, ist dort | |
allerdings nur undeutlich zu erkennen. Sachverständige mehrerer LKAs | |
verglichen deshalb in Gutachten akribisch, ob sichtbare Gesichtspartien wie | |
Zwischenbrauen, Lidplatten oder Nasenfurchen zu Polizeifotos von Hanna S. | |
passten. Das Ergebnis: Sie sei „wahrscheinlich“ die Frau in der roten Jacke | |
– oder die Bilder „deuten darauf hin“. Zweifelsfrei festlegen konnten sich | |
die Sachverständigen nicht. | |
## 3D-Modell wird als entwürdigend krtisiert | |
Das Gericht beauftragte zudem einen Hochschulprofessor, Dirk Labudde, der | |
Hanna S. mit Lasern vermessen ließ. Die Studentin musste sich dafür bis auf | |
die Unterhose entkleiden, dann wurde ein 3D-Modell von ihr erstellt. | |
Anschließend fertigte Labudde auch 3D-Modelle von Tatorten in Budapest an | |
und prüfte, ob das Modell von Hanna S. zur vermummten Person passte. Sein | |
Ergebnis: „Äußerst wahrscheinlich“ sei das so. Auch Sachsens | |
Staatsschutzchef beim LKA, Denis Kuhne, pries das 3D-Verfahren und erklärte | |
zu den Budapest-Angriffen: „Die objektive Beweislage ist aus meiner Sicht | |
klar.“ | |
Die Verteidiger von Hanna S., Peer Stolle und Yunus Ziyal, sehen das | |
anders. Sie kritisieren die 3D-Methode als entwürdigend – und die | |
Ergebnisse als unbrauchbar, weil zu ungenau. Auch Personen ähnlichen | |
Körperbaus könnten in die Videos eingepasst werden. „Und der | |
Sachverständige sagt selbst, dass man mit der Methode niemanden | |
identifizieren kann“, betont Stolle. Und auch die Videoaufnahmen seien von | |
sehr unterschiedlicher Qualität. „Die Anwesenheit unserer Mandantin in | |
Budapest bleibt rein auf Indizien gestützt.“ | |
Die Frage ist: Reichen dem Gericht diese Indizien? Bisher lässt sich das | |
der Vorsitzende Richter Philipp Stoll nicht anmerken. Nur zu Beginn des | |
Prozesses erklärte er, dass anstatt eines versuchten Mordes auch eine | |
Verurteilung für gefährliche Körperverletzung infrage komme. Zuvor schon | |
hatte der Bundesgerichtshof den Vorwurf des versuchten Mordes als nicht | |
belegt gesehen – Stolls Senat aber ließ ihn dennoch zu. Und er hält auch | |
den Haftbefehl gegen Hanna S. bis heute in Kraft. Entlastet sieht das | |
Gericht die Studentin bisher offenbar nicht. | |
„Ohnmächtig“ fühle sie sich in Haft, sagte Hanna S. vor Gericht. Zudem | |
leide sie seit Längerem unter Schmerzen, deren Ursache unklar sei. | |
Wochenlang habe sie auf einen Facharzt warten müssen. „Es kostet wahnsinnig | |
viel Kraft, die Nerven zu behalten.“ Dass Hanna S. immer noch in Haft | |
sitzt, können ihre Verteidiger nicht nachvollziehen. Ihre Mandantin sei | |
„aus einem stabilen Lebensumfeld mit Job und Wohnung gerissen“ worden, sei | |
nie flüchtig gewesen, kritisieren sie. Dass sie sich absetzen könne, sei | |
„fernliegend“. | |
Im Prozess sagten aber auch die Opfer der Budapest-Angriffe aus, im Saal | |
oder per Video zugeschaltet. Die Angriffe seien für sie aus dem Nichts | |
gekommen, erklärten sie. Ein Angegriffener wurde zuvor laut eigener Aussage | |
von einer Beschuldigten auf Ungarisch gefragt, ob er zum „Tag der Ehre“ | |
gehe. Er verneinte, weil er arbeiten müsse, aber Freunde seien dort. Dann | |
sei auf ihn eingeschlagen worden, immer wieder, bis die Angreifer auf ein | |
Kommando verschwanden. | |
Ihre rechtsextreme Einstellung spielten die Attackierten herunter: Sie | |
seien nur zur Arbeit gefahren oder touristisch in der Stadt gewesen. Fotos | |
zeigen die sie indes inmitten von Neonazis oder mit Thor-Steinar-Jacke, mit | |
Mütze mit SS-Totenkopfemblem oder 88-Tattoo auf der Brust, dem Zahlencode | |
für „Heil Hitler“. Zu ihren Verletzungen attestierten ihnen | |
Krankenhausberichte teils zentimeterlange Kopfplatzwunden, die genäht | |
werden mussten, auch Prellungen oder gebrochene Finger. Ein 62-Jähriger | |
sagte, er habe aus Mund und Ohren geblutet, seit der Tat sei seine Wange | |
taub. | |
Dass die Angriffe aber lebensbedrohlich waren, stellen die Verteidiger von | |
Hanna S. infrage. Und auch der Vorwurf versuchter Mord sei „nicht haltbar“, | |
sagt Yunus Ziyal. Ein Tatentschluss, dass die Beschuldigten es in Budapest | |
in Kauf nahmen, die Neonazis tödlich zu verletzen, sei nicht belegbar. Der | |
Fall sei viel zu hoch gehängt, hätte auch vor einem Amtsgericht verhandelt | |
werden können. | |
Auch an der Nürnberger Kunstakademie bringen sie die Vorwürfe nicht mit dem | |
Bild zusammen, dass sie dort von Hanna S. haben. Drei Mal wurde die | |
30-Jährige für ihre Arbeiten mit akademieinternen Preisen ausgezeichnet. | |
Akademie-Sprecherin Petra Meyer verweist auf Stipendien der Studienstiftung | |
des deutschen Volkes und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Hanna S. erhielt | |
und die „große künstlerische Exzellenz voraussetzen“. Und dann folgte die | |
Nominierung zum Bundeskunstpreis. | |
Die Akademie betont, dass Hanna S. noch vor ihrer Festnahme für die | |
Nominierung in den Blick genommen worden sei. Die Jury – Professor*innen, | |
Mittelbau und Studierende – hätten diese dann am 27. Mai vergangenen Jahres | |
eingereicht. Nur drei Tage zuvor habe man von der Festnahme erfahren, so | |
Sprecherin Meyer. Dies sei hochschulintern aber aus Gründen des | |
Persönlichkeitsschutzes nicht kommuniziert worden. „Für ihre Nominierung | |
waren folglich ausschließlich künstlerische Kriterien ausschlaggebend.“ | |
Nach der Preisvergabe im März skandalisierten rechte Blogs und das Magazin | |
Compact den Fall, bezeichneten Hanna S. als „Blutkünstlerin“ und warfen | |
„RAF-Verehrung“ vor. Ein fränkischer AfD-Funktionär schrieb an das | |
Bundesbildungsministerium und den ungarischen Botschafter, die Wahl sei | |
„geschmacklos“. Das Ansehen Deutschlands werde in Ungarn „ruiniert“. Die | |
bayerische AfD-Landtagsfraktion stellte einen Antrag, Maßnahmen gegen die | |
Kunstakademie zu ergreifen, weil diese ihre politische Neutralitätspflicht | |
verletzt habe. In Sachsen stellte die rechtsextreme Kleinpartei „Freie | |
Sachsen“ einen Antrag, die Direktorin der Chemnitzer Kunstsammlung, die in | |
der Jury des Bundeswettbewerbs saß, sofort zu suspendieren. | |
Das Bundesbildungsministerium und das Studierendenwerk reagierten nach nur | |
wenigen Tagen. Mitte April erklärten sie, man sei über die „sehr | |
schwerwiegenden“ Vorwürfe zum Zeitpunkt der Preisvergabe an Hanna S. nicht | |
informiert gewesen – und habe diese Vergabe nun bis zum Abschluss des | |
Strafverfahrens „auf ruhend“ gestellt. Auch das Preisgeld werde vorerst | |
nicht ausgezahlt. Ob der Preis doch noch verliehen werde, entscheide sich | |
dann „im Lichte eines rechtskräftigen Urteils“. Denn der Preis würdige | |
nicht nur die Kunst, sondern auch die damit verbundene Person. | |
## Mitstudierende stehen hinter Hanna S. | |
Auch die Nürnberger Kunstakademie zeigte sich bestürzt über die Verhaftung | |
ihrer Preisträgerin und betonte ihr Leitbild, das Gewalt ablehne. Hanna S. | |
habe die Debatte schwer belastet, sagt ihr Verteidiger. Zugleich gab es | |
breite Solidarität: Linke Gruppen demonstrierten, Unterstützer*innen | |
hielten Mahnwachen vor der JVA und begleiten jeden Prozesstag mit Applaus | |
im Gerichtssaal. | |
Zahlreiche Mitstudierende stellten sich ebenfalls hinter Hanna S., | |
verwiesen auf die Unschuldsvermutung und die Kunstfreiheit.Hannas Werke | |
stünden doch für sich und seien doch genau deshalb prämiert worden. Und die | |
Studierenden kritisieren die Hochschulleitung, dass diese nicht stärker | |
diese Positionen vertritt und sich nicht „öffentlich und laut“ hinter ihre | |
Studentin stellte. Bei einer Ausstellung in einem früheren Nürnberger | |
Kaufhausgebäude im Mai wollte eine Kunststudentin, auch als Reaktion auf | |
den Fall Hanna S., im Schaufenster einen meterlangen Druck ausstellen, mit | |
der Parole „Fight Facism“. Die Hochschulleitung intervenierte, wegen | |
Sicherheitsbedenken und weil man „jede Form demokratiefeindlicher Ideologie | |
und Gewalt“ ablehne. Das Werk wurde im Postkartenformat in einen Innenraum | |
verbannt – was unter Studierenden für heftige Kritik und Zensurvorwürfe | |
sorgte. Auch an anderer Stelle schaukelten sich Konflikte in der Akademie | |
zuletzt hoch – am Ende trat der Präsident zurück. | |
Erst vor wenigen Tagen erneuerten Studierende bei der Eröffnung der | |
Jahresausstellung an der Akademie ihre Kritik am Umgang mit ihrer | |
Kommilitonin. Seit 14 Monaten sitze Hanna S. in Haft, vorverurteilt, „ohne | |
triftige Beweise“, sagte eine Rednerin.Deutschland wolle ein „politisches | |
Exempel an jungen Menschen statuieren“ – während Rechtsextreme auf dem | |
Vormarsch seien. Auch die Akademieleitung habe dem nicht genug | |
entgegengesetzt. „Bei rechter Hetze hilft es nichts, die Beine still zu | |
halten.“ Es brauche vielmehr „klare, öffentliche Stellungnahmen“, die die | |
Kunstfreiheit verteidigten und sich gegen rechte Diskursverschiebungen | |
wehrten. | |
Derweil setzt Hanna S. ihre Kunst in der JVA Stadelheim fort. Zuletzt | |
schnitt sie aus den Nürnberger Nachrichten, die sie lesen darf, mit einem | |
Buttermesser hunderte millimeterdünne Streifen und häkelte daraus einen | |
Pullover – hart und starr wie ein Korsett. Und sie füllt weiter ihre | |
DIN-A4-Blätter mit den Zahlen ihrer Hafttage. | |
Am 15. September könnte im Prozess ein Urteil fallen. Zwischen Freispruch | |
und langer Haft scheint alles möglich. Vor Gericht sagte Hanna S., sie | |
wolle nach der Haft ihre Liebsten in den Arm nehmen und ihren Hund | |
knuddeln, den sie wie verrückt vermisse. Sie wolle sich Ärzt*innen gegen | |
ihre Schmerzen suchen – und ihr Studium und ihre Kunst fortsetzen. | |
Eine Botschaft war ihr besonders wichtig: Es sei für sie immer klar | |
gewesen, dass man gegen Ungerechtigkeiten aktiv werden müsse. „Egal ob in | |
der Kunst, in meinem Umfeld, auf meiner Arbeit oder auf der Straße: Schau | |
hin! Tu was! Mache! Sei laut!“ | |
28 Jul 2025 | |
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