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# taz.de -- Fahndung gegen Linksaußen: Antifa auf der Flucht
> Vor einem Jahr griffen Autonome in Budapest Rechte an, die Behörden
> starteten eine Großfahndung. Montag beginnt der erste Prozess.
Bild: Beim Neonazi-Treffen in Budapest 2023 sollen Linksautonome zugeschlagen h…
Berlin taz | Der Zugriff erfolgte in einem Hotel in Berlin-Mitte. Am 11.
Dezember überwältigten dort sächsische Zielfahnder Maja T., die bürgerlich
Simeon T. heißt, warfen die Thüringer*in gegen eine Glastür, zogen ihr
eine schwarze Haube über den Kopf. Die nichtbinäre 23-Jährige erlitt
leichte Schnittwunden, tags darauf wurde sie nach Dresden gefahren zur
Haftprüfung. In die Stadt, wo auch die Fahnder der Soko Linx des
sächsischen LKA ihren Sitz haben. Sie hatten Maja T. zuvor gejagt. Bis
heute sitzt sie in Dresden in Haft.
Die Festnahme war für die Ermittler ein lang ersehnter Erfolg. Denn seit
Monaten sind sie auf der Suche nach zehn deutschen Autonomen, die vor knapp
einem Jahr verschwunden sind – Maja T. gehörte dazu. Vorausgegangen waren
Angriffe rund um einen rechtsextremen Großaufmarsch im Februar 2023 im
ungarischen Budapest, den „Tag der Ehre“, zu dem seit Jahren europaweit
Neonazis anreisen und dort die Wehrmacht und SS verherrlichen. Die
ungarischen Behörden lösten danach eine Großfahndung aus, veröffentlichten
Fotos und Namen der deutschen Gesuchten. Seitdem wird die autonome Szene
hierzulande mit Durchsuchungen überzogen, ächzt über „ein Jahr voller
Repression“ – und antwortet mit einer Solidaritätskampagne.
Zehn untergetauchte deutsche Linksradikale, das gab es sehr lange nicht. In
den Neunzigern tauchten noch mal drei letzte RAFler ab, denen später
Überfälle auf Geldtransporter vorgeworfen wurden. Später flüchteten
[1][drei Berliner Autonome nach einem gescheiterten Anschlag nach
Venezuela]. Nur spielen die Vorwürfe von Budapest längst nicht in dieser
Liga.
Laut ungarischer Polizei gab es um den 11. Februar 2023 herum vier
Angriffe: Neun Menschen seien dabei niedergeschlagen worden, sechs hätten
schwere Verletzungen erlitten. Antifa-Gruppen sprechen von Neonazis. Die
ungarischen Behörden von „Passanten“, die auch mit Metallstangen,
Gummihämmern, Pfefferspray attackiert worden seien, immer aus einer
größeren Gruppe heraus. Ein Tatmodus, den deutsche Ermittler von Angriffen
hierzulande kannten: Auch in Eisenach, Leipzig und Wurzen wurden
Rechtsextreme zwischen 2018 und 2020 auf diese Art überfallen. Bis eine
Gruppe Autonomer um die [2][Leipzigerin Lina E.] festgenommen wurde, die im
Mai 2023 mit drei Mitangeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt
wurden.
## Vorwurf der Gewaltverbrechen zurückgezogen
Doch die Angriffe auf Rechtsextreme gingen weiter. Im März 2021 wurde im
sächsischen Eilenburg der Chef der NPD-Jugend in seiner Wohnung überfallen.
Zwei Monate später traf es einen Neonazi in seiner Erfurter Wohnung, im
Januar 2023 folgte in der Stadt ein Überfall auf zwei Rechtsextreme, einer
erlitt einen Schädelbruch. Und dann kam Budapest.
Diesmal wurden vier Tatverdächtige festgenommen, die Berliner Tobias E. und
Anna M. sowie eine Italienerin und eine Ungarin. Während Anna M. unter
Auflagen haftverschont wurde, ist Tobias E. bis heute in Budapest
inhaftiert. Für die Ermittler war er kein Unbekannter: Sie rechneten ihn
schon länger der Gruppe um Lina E. zu, bei einem Angriff in Eisenach soll
er dabei gewesen sein.
Die ungarische Polizei veröffentlichte danach ihre Fahndungsaufrufe nach
den zehn Deutschen, auch nach Maja T. Es sind Sachsen und Thüringer, die
meisten recht jung, 20 bis 30 Jahre alt, die Behörden rechnen die meisten
schon länger der autonomen Szene zu. Auf dem linken Portal Indymedia
schrieb einer der Gesuchten anonym, die Fahndung sei zunächst ein „Schock“
gewesen. Es stünden aber „Genoss:innen auch heute noch an meiner Seite“,
weshalb er „weiterkämpfen“ könne. Nun müsse aber auch die Antifa insgesa…
aktiv werden, sonst „gehe ich ohne Rückhalt, ohne Sinn, in den
Gerichtssaal, sollte ich einmal entdeckt werden“.
Für die in Budapest festgenommenen Tobias E. und Anna M. wird es bereits am
Montag ernst: Dann beginnt in der ungarischen Hauptstadt der Prozess gegen
sie. Den Vorwurf der Gewaltverbrechen hat die Staatsanwaltschaft inzwischen
zurückgezogen, sie hält ihn nicht mehr für sicher nachweisbar. Angeklagt
sind die beiden nun wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung –
wofür laut Staatsanwaltschaft fünf Jahre Haft drohen. Einer mitangeklagten
Italienerin wird lebensgefährliche Körperverletzung in drei Fällen
vorgeworfen, ihr drohen bis zu 24 Jahre Haft. Alle Angeklagten schweigen zu
den Vorwürfen.
## Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz
Lukas Theune, Anwalt von Anna M., nennt die Anklage „absurd“. „Gegen meine
Mandantin liegt da überhaupt nichts vor, außer dass sie in Budapest war. In
einem rechtsstaatlichen Verfahren könnte das nur einen Freispruch geben.“
Sven Richwin, Anwalt der kürzlich festgenommenen Maja T., warnt vor der
ungarischen Justiz. „Ein faires Verfahren für angeklagte Antifaschisten ist
unter der Rechts-außen-Regierung von Orbán nicht zu erwarten“, sagte er der
taz. Die Haftbedingungen in Ungarn seien „desaströs“. Zellen seien
überbelegt, politisch Linken drohten Schikanen. Die italienische
Inhaftierte klagte in einem Brief über Bettwanzen, mangelhafte Nahrung und
mangelnden Kontakt zu ihrer Familie. Und Richwin betont, dass für
[3][nonbinäre Personen wie seine Mandant*in die Lage in Ungarn noch
gefährlicher sei]. „Eine Auslieferung ist daher unvertretbar.“
Tatsächlich kritisierte auch die EU in letzter Zeit wiederholt
demokratische Defizite in Ungarn, reagierte mit
Vertragsverletzungsverfahren. Auch Amnesty International sieht eine
mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und
Ungarnkenner Robin Mesarosch erklärt, ihm sei der Fall der inhaftierten und
gesuchten Autonomen bisher nicht bekannt. „Aber ich teile grundsätzlich die
Bedenken. Die Justiz in Ungarn ist nicht unabhängig und unter erheblichem
Einfluss der Regierung, die faschistische Züge aufweist.“ Daran habe auch
die Justizreform von 2023 nur wenig geändert, die auf Druck der EU
verabschiedet worden ist.
Die ungarischen Behörden aber wollen eine Verurteilung von Tobias E. und
Anna M. – und auch eine Auslieferung von Maja T., der schwere
Körperverletzung und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung
vorgeworfen wird. Auch die Berliner Generalstaatsanwaltschaft beantragte zu
Monatsbeginn einen Auslieferungshaftbefehl gegen Maja T. Darüber
entscheidet nun das Kammergericht in einem schriftlichen, nichtöffentlichen
Verfahren. Richwin und sein Anwaltskollege Maik Elster reichten dagegen
eine ausführliche Stellungnahme ein. In einem zweiten Schritt wird dann
über die tatsächliche Auslieferung entschieden, was noch einige Wochen
dauern kann.
Die deutschen Sicherheitsbehörden bleiben auch umtriebig. Denn neben den
zehn nach Budapest Verschwundenen gibt es noch weitere Gesuchte aus dem
Lina-E.-Umfeld. Einen von ihnen hatten Polizisten vor Monaten bei einer
Pkw-Kontrolle gestoppt – doch der Mann raste davon. Ermittelt wird auch,
weil er im nordsyrischen Rojava mit Waffen geschossen haben soll. Für die
Fahndung wird einiger Aufwand betrieben. 25 Ermittler bietet die Soko Linx
auf, einen Großteil davon für die Fahndung. Die Budapester Behörden stellen
noch mal so viele Ermittler.
## Im Fokus steht Johann G.
Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hat eine eigene Einheit
eingerichtet. Erst vor zwei Wochen gab es die jüngste Durchsuchung in
Thüringen. Parallel zu den ungarischen Ermittlungen läuft in Deutschland
ein sogenanntes Spiegelverfahren – eine Anklage darf es am Ende aber nur in
einem Land geben. Die Bundesanwaltschaft ermittelt noch gegen mindestens
sechs Linke, die sich an Angriffen der Gruppe um Lina E. beteiligt haben
sollen – zwei davon gehören zu den Budapest-Beschuldigten.
Vor allem einen der Verschwundenen suchen die Behörden: [4][Johann G., den
früheren Lebensgefährten von Lina] E. Er verschwand schon vor dreieinhalb
Jahren aus Leipzig, gilt den Ermittlern als eigentlicher Kopf der Gruppe um
Lina E. Der 30-Jährige saß bereits in Haft, ist als Gefährder eingestuft.
Anfangs soll er in Thailand gewesen sein, zuletzt wieder in Europa, mit
Visiten in Berlin und Leipzig. Obwohl Johann G. international gesucht wird,
wollen ihn Ermittler auch auf Videoaufnahmen der Budapest-Angriffe erkannt
haben. Inzwischen fahndet das BKA mit Plakaten nach ihm, lobte 10.000 Euro
für Hinweise aus, zeigte ihn bei „Aktenzeichen XY … ungelöst“ – bishe…
Erfolg.
Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) warnte kürzlich vor einer
weiteren Radikalisierung der Untergetauchten. Auch
Bundesverfassungsschutzchef Thomas Haldenwang sprach von militanten
Kleingruppen, die mit „lebensgefährlicher Brutalität“ vorgingen. Die
Schwelle zum Linksterrorismus rücke näher.
Anwalt Richwin hält die Warnungen vor einer Untergrundzelle für „Unsinn“.
Im Fall der Budapest-Angriffe sei es „doch naheliegend, dass es den
Gesuchten darum geht, sich nicht einer überzogenen, politisch motivierten
Strafverfolgung in Ungarn auszuliefern“. Die deutschen Behörden aber würden
eine Auslieferung nach Ungarn „als Drohkulisse“ im gesamten Verfahren
benutzen, so Richwin. „Der deutsche Rechtsstaat bedient sich damit Ungarns
als eigenen Guantánamos.“
## Immer noch fast keine Akteneinsicht
Richwin kritisiert zudem die breiten Fahndungsmaßnahmen und die rabiate
Festnahme von Maja T. Bis zur Verhaftung habe seine Mandant*in nie ein
Schreiben erreicht, dass sie sich überhaupt bei der Polizei melden solle.
„Nur weil jemand nicht gefunden wird, heißt das noch nicht, dass sich die
Person auch versteckt.“ Auch gebe es sechs Wochen nach der Festnahme immer
noch fast keine Akteneinsicht, so Richwin. „Wir wissen im Grunde also gar
nicht, was Sache ist.“
In Sicherheitskreisen wird dagegen betont, wie „abgebrüht“ die Gesuchten
vorgingen. Angriffe allerdings, die der Gruppe zugeschrieben werden
könnten, gab es seit Budapest nicht mehr. Dafür wollen am 10. Februar
erneut Rechtsextreme aus ganz Europa in Budapest zum „Tag der Ehre“
zusammenkommen. Auch die linke Szene mobilisiert wieder. Man wolle sich
„von der Repressionswelle nicht einschüchtern lassen“, heißt es im Aufruf
eines deutschen Bündnisses, und „gerade jetzt“ gegen den „faschistischen
Wohlfühlort“ demonstrieren.
27 Jan 2024
## LINKS
[1] /Linksradikale-Gruppe-KOMITEE/!5464717
[2] /Prozess-gegen-Lina-E/!5934474
[3] /Anti-LGBTQ-Gesetz-in-Ungarn/!5780861
[4] /BKA-fahndet-nach-abgetauchtem-Autonomen/!5962795
## AUTOREN
Konrad Litschko
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