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# taz.de -- Urteile im Linksextremismus-Prozess: Lina E. wieder frei – vorerst
> Der Prozess gegen Antifa-Mitglieder endet mit harten Urteilen gegen
> Linksradikale. Die Hauptangeklagte kommt dennoch erstmal frei.
Bild: Ruhe vor dem Sturm? Für Mittwochabend rufen autonome Gruppen zu Demos in…
Dresden taz | Und dann ist, um 19.48 Uhr, Lina E. tatsächlich frei. Nach
mehr als neun rekordverdächtigen Stunden Urteilsverkündung setzt Richter
Hans Schlüter-Staats zu seiner letzten Amtshandlung im Prozess gegen die
28-jährige Leipzigerin und drei Mitangeklagte an – und setzt ihren
Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug.
Die [1][zuvor von ihm verhängten 5 Jahre und 3 Monate] seien in ihrem Alter
schon „heftig und gravierend“, hatte Schlüter-Staats erklärt. Sie habe si…
im Prozess aber „positiv abgehoben“, von einer Fluchtgefahr sei derzeit
nicht auszugehen. Die Reststrafe muss sie erst verbüßen, falls das Urteil
rechtskräftig wird – allerdings auch die kaum zur Gänze. Da die Studentin
bisher nicht vorbestraft ist, kann sie damit rechnen, dass das letzte
Drittel der Haft zur Bewährung ausgesetzt wird. Und zweieinhalb Jahre saß
Lina E. bereits in Untersuchungshaft.
So ist der monatelange Szeneslogan „Free Lina“ plötzlich Realität: Lina E.
kann vorläufig frei den Gerichtssaal verlassen. Die Studentin ringt um
Fassung, wischt sich eine Träne aus dem Auge, alle Mitangeklagten umarmen
sie. Und im Saal brandet Jubel auf.
Es ist das Ende eines außergewöhnlichen Prozess – und des derzeit wohl
politisch am aufgeladensten.
Seit September 2021 wurde vor dem Oberlandesgericht Dresden in einem
Hochsicherheitssaal am Stadtrand gegen Lina E. und drei Mitangeklagte
verhandelt – Lennart A., Jannis R., Philipp M., drei junge Autonome aus
Leipzig und Berlin. Die Vorwürfe: Bildung einer kriminellen Vereinigung und
sechs schwere Angriffe auf Rechtsextreme in Leipzig, Wurzen und Eisenach,
verübt von 2018 bis 2020.
[2][Lina E. sollte laut Anklage die Anführerin] gewesen sein, zusammen mit
ihrem seit drei Jahren untergetauchten Verlobten Johann G. Schon vor
zweieinhalb Jahren wurde die Studentin der Erziehungswissenschaften deshalb
in ihrer Wohnung in Leipzig-Connewitz verhaftet und öffentlichkeitswirksam
mit dem Hubschrauber zum Ermittlungsrichter geflogen.
Kaum ein Prozess war zuletzt ein solches Politikum wie dieser. Jahrelang
tappten Ermittler nach linksmilitanten Anschlägen im Dunkeln, 2019 gründete
Sachsen eigens eine „Soko Linx“. Den Fall um die Gruppe um Lina E. zog dann
die Bundesanwaltschaft an sich und forderte bis zu acht Jahre Haft. Auf der
anderen Seite konterte die linke Szene mit einer großen
Solidaritätskampagne, verbreitete den Slogan „Free Lina“. Die Verteidigung
geißelte eine „politische Justiz“ und einseitige Ermittlungen, forderte
weitgehend Freisprüche.
Am Mittwochmorgen prallt all das noch einmal aufeinander. Schon am frühen
Morgen ist das Gericht von Polizisten umzingelt, am Himmel kreist ein
Hubschrauber. Vor dem Gericht sammeln sich Demonstrierende mit
Antifa-Bannern zu einer Kundgebung, kritisieren die „Kriminalisierung“ der
Szene. Wer das Gericht betreten will, wird penibel kontrolliert.
Dann betritt Lina E. den Saal. Anders als sonst wirkt sie angespannt,
versteckt ihr Gesicht hinter einem schwarzen Ordner. Ihre
Unterstützer:innen und ihre Mutter, die fast jeden der 98. Prozesstage
vor Ort waren, begrüßen sie stehend mit langem Applaus. Erst später wird
Lina E. ihnen lächelnd zurückwinken. Zuvor hatte sie das Verfahren noch
unbeschwert verfolgt, zumindest äußerlich. Zu den Vorwürfen aber schwiegen
sie und die anderen drei Mitangeklagten bis zum Schluss.
Als dann Richter Hans Schlüter-Staats sein Urteil gegen Lina E. verkündet,
herrscht zunächst konsternierte Stille, die 28-Jährige starrt nur in den
Saal. 5 Jahre und 3 Monate Haft. Die drei Mitangeklagten verurteilt
Schlüter-Staats zu bis zu drei Jahren und 3 Monaten Haft. Dann bricht Unmut
auf. „Feuer und Flamme der Repression“, rufen Zuhörende im Chor. Ein Mann
schreit „Faschofreunde“, eine Frau „Scheiß Klassenjustiz“. Schlüter-S…
muss die Urteilsbegründung unterbrechen, lässt die Zwischenrufenden
rausschmeißen.
Es sind die schwersten Urteile gegen die linksradikale Szene seit Jahren.
2009 war die „militante gruppe“ für Brandanschläge zu dreieinhalb Jahren
Haft verurteilt worden. Nun sind es zumindest für Lina E. nochmal mehr. Und
das Urteil wird die autonome Szene und Sicherheitsbehörden noch länger
beschäftigen.
Als Richter Schlüter-Staats seine Urteilsbegründung beginnt, verweist er
gleich zu Beginn auf den Angriff auf den Kanalarbeiter Tobias N. im Jahr
2019 in Leipzig-Connewitz, „der brutalsten Tat“. Nur aufgrund einer
getragenen Mütze mit rechtsextremem Logo sei dieser schwer verprügelt und
„für sein Leben gezeichnet“ worden. „Nur weil er die falsche Mütze am
falschen Ort trug“, bemerkt Schlüter-Staats. „Diese Tat zeigt, wohin der
militante Antifaschismus führt.“
Auch Schlüter-Staats erklärt die Bekämpfung des Rechtsextremismus als
„achtenswertes Motiv“. Dieser sei die derzeit größte Gefahr im Land. Das
aber mache die Angriffe auf Rechtsextreme „nicht zur bloßen Bagatelle“, so
der Richter. Auch gewalttätige Nazis würden durch ihre Taten „nicht
vogelfrei“. Und es habe auch „keine nur ansatzweise notwehrähnliche
Situation“ gegeben. Und Schlüter-Staats weist auch eine zu lasche
Verfolgung durch die Justiz zurück. Allein von seinem Senat seien
Rechtsextreme seit 2018 zu 88 Jahren Haft verurteilt worden, zählt er
zusammen.
Dann holt der Richter gegen die Unterstützer:innen von Lina E. aus.
Diese hätten eine „propagandistische Begleitmusik“ zum Prozess aufgeführt.
Die Angeklagten als reine Opfer eines Repressionsstaats zu bezeichnen,
„gehen ins Absurde“. Immer wieder wird der Richter von Unmutsrufen
unterbrochen. Schlüter-Staats wirft den Unterstüzer:innen wiederum
einen „ideologischen Schrebergarten“ vor. Und an den Saal gerichtet: „Und
ich habe den Eindruck, einige gärtnern gerade.“
Über mehrere Stunden zeichnet Schlüter-Staats dann sehr detailliert nach,
warum Lina E. aus Sicht des Senats tatsächlich an mehreren der sechs
Angriffen beteiligt gewesen sei. Monatelang war darüber im Prozess
gestritten worden. Opfer und Zeugen konnten die vermummten Angreifer nicht
erkennen, klare Beweise gab es nicht. Noch dazu waren die Aussagen der
angegriffenen Rechtsextremen mit Vorsicht zu genießen: Einige wie der
Eisenacher Leon R. sitzen oder saßen inzwischen selbst in Haft, ebenfalls
festgenommen im Auftrag der Bundesanwaltschaft unter dem Vorwurf der
Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Klar ist für Schlüter-Staats der Angriff auf den rechtsextremen Eisenacher
Kampfsportler und Szenewirt Leon R. im Dezember 2019. Lina E. war damals
direkt danach verhaftet worden, in einem Fluchtauto mit dem Mitangeklagten
Lennart A. – es war der Wagen ihrer Mutter. Nur einen Tag vor dem Angriff
war Lina E. zudem in einem Baumarkt erwischt worden, wie sie zwei Hämmer
klaute. Die Rechtsextremen wurden teils mit Hämmern und Schlagstöcken
angegriffen. Schon bei einem ersten Angriff auf Leon R.s Kneipe, zwei
Monate zuvor, aber ist die Sache wackliger. Hier gibt es nur DNA von Lina
A.s Partner Johann G. und Zeugenaussagen, dass eine Frau dabei war. Beides
aber reicht dem Richter: Das Angriffsverhalten der Frau sei dasselbe wie
bei der zweiten Attacke in Eisenach gewesen, deshalb sei Lina E. auch hier
die Täterin gewesen.
Als eine Frau „Beweislastumkehr“ reinruft und aus dem Saal gezerrt wird,
kommt es zum Tumult. Mehrere Zuhörende protestieren, der richter
unterbricht wieder. Dann drängen Justizwachleute vermeintliche Rufer nach
draußen, schubsen sie teils über Stühle, darunter auch Angehörige der
Angeklagten. Polizisten stürmen in den Saal, Lina E.s Mutter verlässt
diesen schluchzend. Erst nach einer längeren Pause kann weiterverhandelt
werden. Am Ende des Tages wird das Gericht mehrere Hausverbote erteilen.
Schlüter-Staats aber beruft sich auch auf einen [3][Kronzeugen]: Johannes
D., ein früherer Weggefährte von Lina E. Nach Vergewaltigungsvorwürfen
wurde er aus der Szene verstoßen, hatte vor Ermittlern ausgepackt und Lina
E. und ihren Verlobten belastete er schwer: Sie hätten die Gruppe
zusammengehalten und Angriffe koordiniert. Schlüter-Staats hält das für
schlüssig, auch habe D. keinen überzogenen Belastungseifer gegen die
Angeklagten gezeigt.
Polizei bereitet sich auf Großeinsatz vor
Dennoch erteilt das Gericht auch Freisprüche. Bei Lina E. tut es das für
die Angriffe auf den früheren NPD-Mann Enrico B. und den Wurzener Neonazi
Cedric S., wo eine Beteiligung nicht nachweisbar sei. Auch die Alibis der
Mitangeklagten Philipp M. und Jannis R. für zwei der angeklagten Taten
erkennt Schlüter-Staats an. Sie hatten über Handydaten nachweisen können,
dass sie beim ersten Angriff in Eisenach nicht vor Ort waren. Und anders
als die Bundesanwaltschaft sieht Schlüter-Staats Lina E. auch nicht so klar
als Rädelsführerin der Gruppe – auch deshalb die geringere Strafe als von
den Anklägern gefordert. Zudem rechnet das Gericht Lina E. die große
Medienberichterstattung zu, die auch ihre Persönlichkeitsrechte verletzt
habe. Auch war E. bisher nicht vorbestraft. Die Strafe sei daher „maßvoll“.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte derweil am Mittwoch bereits
vor gefallenen Hemmschwellen und einer „Gewaltspirale“ in der linksextremen
Szene. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) warnete vor
„Selbstjustiz“. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang erklärte, der Fall
Lina E. stehe „beispielhaft für das hohe Gewaltpotenzial und
Radikalisierungsniveau“ in Teilen der linksextremen Szene. Wenn es so
weitergeht, „rückt der Moment näher, in dem man auch von Linksterrorismus
sprechen muss“.
[4][Die autonome Szene] wertete das Urteil gegen Lina E. und die anderen
dagegen als Skandal. Schon zuvor war zu Protesten für den Urteilstag
geworben worden, zum [5][„Tag X“]. Für jedes verhängte Jahr Haft wurde ein
Sachschaden von einer Million Euro angekündigt, hieß es in einem Aufruf.
Bereits für Mittwochabend hatten autonome Gruppen Demonstrationen in
Leipzig, Dresden, Berlin, Hamburg oder Stuttgart angekündigt.
Am Samstag soll eine zentrale Demonstration in Leipzig folgen, auf der „die
Wut“ über das Urteil ausgedrückt werden soll. Die Polizei bereitet sich auf
einen Großeinsatz vor, die Stadt Leipzig prüft ein Verbot der Demonstraton.
In der Szene wurde dazu appeliert, so oder so nach Leipzig zu kommen – das
Verbot dürfe man „nicht hinnehmen“.
## Verteidiger kündigt Revision an
Lina E.'s Verteidiger Ulrich von Klinggräff kündigt derweil noch Revision
gegen das Urteil gegen seine Mandantin an. Es sei ein „eklatantes
Fehlurteil“. Die Haftentlassung von Lina E. sei „ein guter Punkt“. Aber d…
gut 5 Jahre Haft blieben angesichts der bloßen Indizien und einseitigen
Ermittlungen „in keiner Weise akzeptabel“.
Lina E. bekommt das schon nicht mehr mit. Sie ist da bereits im Auto ihres
zweiten Anwalts in die vorläufige Freiheit davongedüst.
Hinweis der Redaktion: Der Artikel wurde im Verlauf des Mittwochabend
aktualisiert. Dass Lina E. ihre Haftstrafe erst antreten muss, wenn das
Urteil rechtskräftig wird, war bei Veröffentlichung der ersten Textfassung
noch nicht bekannt.
31 May 2023
## LINKS
[1] /Urteil-gegen-mutmassliche-Linksextreme/!5937929
[2] /Prozess-gegen-Lina-E/!5934474
[3] /Prozess-gegen-Lina-E/!5929442
[4] /Berliner-Antifa-Szene-im-Fall-Lina-E/!5934801
[5] /Warnung-vor-linksextremer-Gewalt/!5934475
## AUTOREN
Konrad Litschko
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