| # taz.de -- Berliner Antifa-Szene im Fall Lina E.: Eingeschränkte Solidarität | |
| > Im Lina-E.-Prozess fällt auch das Urteil gegen einen Berliner | |
| > Antifa-Aktivisten. Die Szene aber ist weitgehend passiv, auch wegen des | |
| > hohen Ermittlungsdrucks. | |
| Bild: Solidarität unter dem kritischen Blick des Staates | |
| Berlin taz | Wenn am Mittwoch in Dresden [1][das Urteil] im | |
| [2][Antifa-Ost-Verfahren gegen Lina E. und drei Mitangeklagte] fällt, wird | |
| auch die antifaschistische Szene Berlins gebannt nach Sachsen schauen. Den | |
| Angeklagten werden sechs gewalttätige Übergriffe auf Neonazis zwischen 2018 | |
| und 2020 sowie die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. | |
| Während in einem halben Dutzend anderer Städte schon vor Wochen Demos für | |
| den Tag der Urteilsverkündung angekündigt wurden, kam der Aufruf für eine | |
| Demo vor dem Landeskriminalamt in Berlin kurzfristig und eher | |
| pflichtschuldig. Für den späteren Abend ruft die Szene zur | |
| Antifa-Vollversammlung in den Mehringhof. Offene Solidaritätsarbeit im | |
| größten Antifa-Prozess seit vielen Jahren sucht man in Berlin aber nahezu | |
| vergebens. | |
| Dabei steht mit Philipp M. auch ein 28-jähriger Berliner Autonomer vor | |
| einer Verurteilung. Die Staatsanwaltschaft fordert für ihn drei Jahre und | |
| neun Monate Haft. Er soll sein Auto für einen Überfall in Eisenach zur | |
| Verfügung gestellt und sich an einem Angriff in Wurzen beteiligt haben. | |
| Den Vorwurf, beim Überfall auf das Eisenacher Nazi-Lokal Bull’s Eye dabei | |
| gewesen zu sein, konnten seine Verteidiger entkräften: An jenem Tag war M. | |
| in Berlin. Das beweisen ausgerechnet Überwachungsmaßnahmen der Polizei aus | |
| einem weiteren Verfahren, in dem M. ebenfalls im Verdacht steht, Teil einer | |
| kriminellen Vereinigung zu sein. Zusammen mit weiteren Angeklagten aus | |
| Berlin und Athen soll er während des [3][G20-Gipfels in der Hamburger | |
| Elbchaussee] randaliert haben. | |
| ## Kritik an „Nero“ | |
| In Berlins Antifa-Szene ist M. ein alter Bekannter. Schon 2017 war er zu | |
| einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, nachdem er in der Rigaer Straße | |
| [4][einen Polizeihubschrauber mit einem Laserpointer geblendet hatte]. | |
| „Free Nero“ hieß die damalige Kampagne, die die Freilassung des Gefährten | |
| aus dem Umfeld der Rigaer 94 forderte – mit Soli-Erklärungen, Graffitis und | |
| auch mit einem Drohbesuch in der Senatsverwaltung für Justiz. | |
| Im aktuellen Dresdner Prozess gibt es wieder eine Berliner Soli-Gruppe für | |
| M. – als Teil des Solidaritätsbündnisses Antifa Ost. Doch öffentlich in | |
| Erscheinung tritt diese kaum. Stattdessen findet sich ein Text der Gruppe, | |
| die mit Kritik an dem Angeklagten nicht spart. Nicht aufgrund seiner | |
| vermeintlichen Taten, sondern wegen eines Vice-Artikels, für den sich M. | |
| nach seiner Haftentlassung porträtieren ließ und der ihn als „Märtyrer“ | |
| darstellte. Vorgeworfen wird M. und seinem Umfeld die fehlende | |
| Auseinandersetzung mit „mackerhaftem Verhalten“. | |
| Doch die groß angelegte Solidarität mit den angeklagten Antifaschist:innen, | |
| deren Anklage sehr wohl als „Angriff gegen alle militant und autonom | |
| agierenden Antifas“ begriffen wird, wie es in einem Text heißt, scheitert | |
| an mehr: Einerseits ist die Szene inzwischen grundsätzlich „schwach | |
| aufgestellt“, wie eine organisierte Antifaschistin der taz sagt, die anonym | |
| bleiben möchte. Anderseits hielten aufgrund eines umfangreichen | |
| Repressionsdrucks „viele gerade die Füße still“. | |
| ## Antifa in der Krise | |
| Der Niedergang klassischer Antifastrukturen der vergangenen Jahre hat kaum | |
| mehr handlungsfähige Gruppen übrig gelassen – am ehesten wahrnehmbar ist | |
| noch die North East Antifa. Das Fehlen gezielter Antifa-Jugendarbeit hat | |
| eine Lücke gerissen. Neue Themen, mitunter auch der Fokus auf identitäre | |
| Selbstbeschäftigung, drängen offensive Antifa-Arbeit in den Hintergrund. | |
| Noch vor zehn Jahren hätte ein Prozess wie das Antifa-Ost-Verfahren | |
| umfangreiche Aktivitäten ausgelöst. Heute hat er außer einigen „Free | |
| Lina“-Schriftzügen im Stadtbild kaum Spuren hinterlassen. Lediglich im | |
| Februar gab es eine gut besuchte Infoveranstaltung im About Blank. Das | |
| dazugehörige Thesenpapier über Militanz und patriarchale Gewalt ist auch | |
| eine Reaktion auf den [5][Kronzeugen der Dresdner Anklage: Johannes D.], | |
| dem die Szene „doppelten Verrat“ vorwirft. Eine Vergewaltigung während | |
| seiner Antifa-Zeit sowie seine umfangreichen Aussagen bei Polizei und | |
| Staatsanwaltschaft nach seinem Outing. | |
| Stundenlang hat D. über Strukturen ausgesagt, Namen genannt, Bilder | |
| identifiziert. Mehrere Berliner Antifaschist:innen hat er beschuldigt, | |
| zum Kreis um Lina E. zu gehören. Darunter Tobias E., gegen den schon lange | |
| Ermittlungen wegen der Beteiligung an einem Überfall liefen und der zu den | |
| Angeklagten im zweiten Antifa-Ost-Verfahren in Gera gehört. | |
| ## Weitere Verfahren | |
| E. wurde im Februar in Ungarn festgenommen, wo er bis heute im Knast sitzt. | |
| Mit etwa einem Dutzend weiterer Antifas soll er am Rande des | |
| Faschisten-Treffens [6][„Tag der Ehre“] Angriffe auf Nazis verübt haben. | |
| Eine weitere Berlinerin, die in Budapest festgenommen wurde, ist vorerst | |
| auf freiem Fuß. Bei beiden fanden im Februar Hausdurchsuchungen statt. | |
| In der Szene ist man sich bewusst über die „Strukturermittlungen“, die | |
| derzeit laufen, und in denen „potentiell unzählige Leute drinstecken“, wie | |
| die Antifaschistin sagt. Gleich mehrere Ermittlungsverfahren nach Paragraf | |
| 129 geben den Behörden umfangreiche Möglichkeiten, Verdächtige zu | |
| überwachen, ihre Telekommunikation abzufangen, Kameras vor Haustüren zu | |
| installieren und sie zu beschatten. Der Ermittlungsdruck ist hoch. | |
| Was auch immer passiert, eine gedachte Verbindung zu jenen militanten | |
| Strukturen, die bereits im Fokus stehen, ist schnell gezogen. Als die | |
| Polizei Mitte Februar einen vermeintlichen Anschlag auf eine Bahntrasse in | |
| Adlershof verhinderte und dabei zwei Verdächtige mit einem Kanister, | |
| Funkgeräten und Listen mit Polizeikennzeichen feststellte, hieß es: Ein | |
| möglicher Zusammenhang mit den Festnahmen in Ungarn werde geprüft. Beide | |
| sind dem Staatsschutz der Polizei als Linksextremisten bekannt. | |
| So ruhig es bislang auch war, am Samstag werden vermutlich Hunderte | |
| radikale Linke aus Berlin zur Tag X-Demonstration nach Leipzig fahren. Auch | |
| in postautonomen Strukturen ist der Termin lange vorgemerkt. Die | |
| Demo-Aufrufe sind militant, Sicherheitsbehörden rechnen mit | |
| Ausschreitungen. Spekuliert wird auch über militante Racheaktionen: In | |
| einem Indymedia-Artikel wurde angedroht, eine Million Euro Sachschaden pro | |
| Haftjahr anzurichten. Eine große militante Welle aber sehen Szeneinsider | |
| auf Berlin nicht zukommen. | |
| Dagegen wird es bereits am Freitag in Berlin ein weiteres öffentliches | |
| Zeichen der Solidarität geben. Dann rufen Antifaschist:innen dazu auf, | |
| für die Betroffenen der Strafermittlungen aus Budapest zu demonstrieren – | |
| ganz friedlich, mit einer Kundgebung vor der ungarischen Botschaft. | |
| 30 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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