# taz.de -- Eltern untergetauchter Linksautonomer: „Das Leben unserer Tochter… | |
> Nach ihrer Tochter wird wegen Gewalt gegen Rechtsextreme gefahndet. Die | |
> Eltern fürchten überzogene Haftstrafen unter unwürdigen Bedingungen in | |
> Ungarn. | |
Bild: Budapest am 10. Februar: Antifa demonstriert gegen Rechtsextremisten | |
taz: Die Polizei sucht seit einem Jahr Ihre Tochter, weil sie ihr vorwirft, | |
sich an Angriffen auf Teilnehmende des rechtsextremen „Tag der Ehre“ im | |
Februar 2023 in Budapest beteiligt zu haben. Wie geht Ihre Tochter damit | |
um? Wie gehen Sie damit um? | |
Barbara W.: Unsere Tochter kann seit einem Jahr nicht mehr an einem | |
normalen Leben teilnehmen. Rund um den [1][„Tag der Ehre“ nahm die Polizei | |
sie in Budapest fest.] In einer Polizeistation wurden ihre Personalien | |
aufgenommen, Fotos gemacht und der Personalausweis abgelichtet. | |
Anschließend wurde sie freigelassen. Mit den gemachten Bildern wurde kurze | |
Zeit später nach ihr und anderen Personen gefahndet. Die Bild Zeitung hat | |
die Fahndungsbilder in Deutschland veröffentlicht, eine öffentliche | |
Vorverurteilung und Hetze. | |
Walter W.: Ihren 23. Geburtstag feierte sie ohne uns. Wir können gut | |
verstehen, dass sie sich der Inhaftierung entzieht. Ihr droht die Gefahr | |
einer Auslieferung in einen fragwürdigen Rechtsstaat. Von einem | |
unabhängigen Verfahren gehen wir nicht aus. | |
Neben Ihrer Tochter werden wegen der Vorfälle in Budapest [2][auch 11 | |
weitere deutsche Linke] gesucht. Ihnen drohen in Ungarn jahrelange | |
Haftstrafen. Was wirft die Staatsanwaltschaft Ihrer Tochter vor? | |
Walter W.: Die Beschuldigten werden bezichtigt, an Auseinandersetzungen mit | |
Rechtsextremen beteiligt gewesen zu sein, die zu Körperverletzungen | |
führten. Außerdem wird ihnen vorgeworfen, Teil einer kriminellen | |
Vereinigung zu sein. | |
Barbara W.: Wir haben keine Informationen, was ihr eigentlich genauer | |
vorgeworfen wird. Selbst der Anwalt von Maja – der Person, die im Dezember | |
in Berlin festgenommen wurde und die auf die Entscheidung wartet, ob die | |
deutschen Behörden sie nach Ungarn ausliefern – kennt nur rund 100 Seiten | |
der Akte. Insgesamt umfasst diese aber wohl mindestens 2.000 Seiten. Was ja | |
schon andeutet, wie das Verfahren vor einem Budapester Gericht laufen | |
dürfte. Und wie Beschuldigte dort und in Untersuchungshaft behandelt | |
werden, sehen wir bei Ilaria Salis. | |
Die 39-jährige Lehrerin aus Italien steht bereits in Budapest vor Gericht. | |
Ihr wird eine „heimtückische Gewalttat“ wegen der Angriffe vorgeworfen. | |
Walter W.: Sie wurde mit Fuß- und Handschellen und einer Kette im | |
Gerichtssaal vorgeführt, bewacht von vermummten Männern – als ob Salis | |
hochgefährlich wäre. Eine Erniedrigung. Ein Mitarbeiter der ungarischen | |
Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee sprach von einer | |
Grundrechtsverletzung. Auch die Berichte über die Inhaftierung sind | |
erschreckend: zu kleine Zellen, keine Intimsphäre, unzureichende | |
Waschgelegenheiten, Insekten- und Bettwanzenplagen, keine Telefonate oder | |
Besuche von Angehörigen in den ersten sieben Monaten. Diese Bedingungen | |
sind schockierend. | |
Ist Ihre Tochter in einer politischen Gruppe aktiv? | |
Walter W.: Unsere Tochter hat sich schon früh für Politik interessiert. | |
Ungerechtigkeit will sie nicht einfach hinnehmen. Im Gegenteil: Die | |
Klimaveränderungen und der Rechtsruck in der Gesellschaft sorgen sie schon | |
lange. | |
Barbara W.: Wir haben viel über die politischen Entwicklungen geredet. Ganz | |
früh fragte sie zum Beispiel, was die Stolpersteine denn für eine Bedeutung | |
hätten. Dass sie nach Budapest fahren würde, wussten wir allerdings nicht. | |
Walter W.: Wir hätten ihr aber auch nicht abgeraten, zur Gegendemonstration | |
zu fahren. | |
Barbara W.: Ich denke nicht. Wir hätten nur gesagt: Pass auf dich auf und | |
komm gesund zurück. | |
Können Sie einschätzen, wie es Ihrer Tochter geht? | |
Barbara W.: Wir wissen es nicht, aber wie soll es jemandem gehen, der Angst | |
vor der Auslieferung und dieser Strafandrohung hat? Für unsere Tochter | |
steht das Leben still. Wie soll sie sich weiterentwickeln und einen | |
Berufsweg einschlagen? Wenn man da rausgerissen ist von allem, da muss man | |
sich aufrecht halten und durchhalten. | |
Und wie geht es Ihnen? | |
Walter W.: Wir sind in großer Sorge. Wir befürchten die Festnahme und | |
[3][eine Auslieferung nach Ungarn.] An die angedrohte Haft – 24 Jahre, über | |
1.000 km entfernt, fast ohne Besuchsmöglichkeit von Freund:innen und | |
Angehörigen, unter menschenunwürdigen Bedingungen – will ich gar nicht | |
denken. | |
Bei anderen betroffenen Eltern stürmte das SEK die Wohnung, Razzien fanden | |
statt. Bei Ihnen noch nicht? | |
Barbara W.: Wir werden überwacht. Die Polizei macht es teilweise auch so, | |
dass wir es wohl bemerken sollen. Auf dem Weg zur Geburtstagsfeier unserer | |
älteren Tochter verfolgten sie uns mit mehreren Fahrzeugen. Sie dachten | |
wohl, dass ihre Schwester kommen würde. In der Nacht kurz vor ein Uhr drang | |
die Polizei dann ins Haus ein, suchte nach ihr. Unsere Enkelkinder waren | |
geschockt. Bei uns kam vor Weihnachten auch der Verfassungsschutz vorbei. | |
Sie gaben sich als DHL-Boten aus, sodass ich ihnen die Tür aufmachte. Sie | |
wollten ‚zum Vater‘. | |
Walter W.: Sie wollten dann im Treppenhaus, vor unserer Wohnungstür, mit | |
mir über meine Tochter reden. Sie schlugen vor, dass sie sich stellen | |
sollte – sie würden dann helfen. Zeitgleich suchte der Verfassungsschutz | |
ihre Oma auf. | |
Barbara W.: Sie redeten auf die 87-Jährige ein, jetzt vor Weihnachten würde | |
ihre Enkelin doch sicher kommen, sie solle sich dann mal melden. Sie wolle | |
doch sicher auch das ‚Kind‘ zurückholen. | |
Das Landeskriminalamt Sachsen, das die Fahndung leitet, geht bei dem | |
Angriff von einer aus dem Untergrund agierende Gruppe aus, die sich | |
radikalisiert hätte. Die Ermittlungsmethoden dürften sie nicht überrascht | |
haben, oder? | |
Barbara W.: Uns ist klar, dass die Polizei hofft, über uns unsere Tochter | |
zu erwischen. Diese Darstellung einer Untergrundgruppe ist ein Konstrukt. | |
Wir denken, unsere Tochter hat sich der Haft entzogen, weil sie die | |
Auslieferung nach Ungarn befürchten. | |
Walter W.: Es scheint uns, als wolle das LKA in der Öffentlichkeit eben ein | |
falsches Bild von den gesuchten Antifaschist:innen zeichnen und so | |
auch gleich andere Menschen als Unterstützer:innen kriminalisieren. | |
In Budapest erfolgten aber tatsächlich schwere Angriffe. | |
Walter W.: Nach unserem Wissen sind am Rande des „Tags der Ehre“ | |
Rechtsextreme angegriffen worden. Auch für unsere Kinder gilt erstmal die | |
Unschuldsvermutung. Wir wollen die Auslieferung an einen Staat verhindern, | |
der rechtsextreme Aufmärsche von mehreren tausend Nazis auch finanziell | |
unterstützt. In Ungarn drohen unseren Kindern überzogene Haftstrafen unter | |
unwürdigen Bedingungen. | |
Barbara W.: Schon das angedrohte Strafmaß belegt doch die Vorverurteilung | |
und das politische Interesse Ungarns. Und wenn man sieht, dass | |
Rechtsterroristen 2023 begnadigt wurden, die Brand- und | |
Sprengstoffanschläge auf Häuser von linken Politiker:innen verübten | |
und einen Homosexuellen-Club angriffen, die Menschen verletzten, dann | |
befürchten wir für Antifaschist:innen kein unabhängiges Verfahren. Die | |
Bundesrepublik und auch kein anderes Land darf unsere Kinder in so einen | |
autoritären Staat ausliefern. Die dort bereits Inhaftierten Tobias E. und | |
Ilaria Salis müssen in ihre Heimatstaaten rücküberführt werden. | |
18 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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