# taz.de -- Krieg im Gazastreifen: Israelische NGOs werfen Israel Genozid vor | |
> Die Nichtregierungsorganisationen B'Tselem und Physicians for Human | |
> Rights Israel bezichtigen ihre eigene Regierung des Völkermords. Sie | |
> fordern Haltung von der internationalem Gemeinschaft. | |
Bild: Aktivist:innen protestieren vor dem US-Konsulat in Jerusalem am 11. Juli | |
Jerusalem taz | Das hat es in der fast zweijährigen Geschichte des Krieges | |
im Gazastreifen noch nie gegeben: Zum ersten Mal werfen israelische | |
Menschenrechtsorganisationen ihrem eigenen Staat vor, dass sein Vorgehen in | |
dem Küstenstreifen die Voraussetzungen eines Genozids erfülle. „Wir leben | |
in einer dunklen Zeit und es ist besonders wichtig, die Dinge beim Namen zu | |
nennen“, sagt die Ärztin Daphna Shochat von der Nichregierungsorganisation | |
Physician for Human Rights Israel (PHRI) dazu bei einer Pressekonferenz in | |
Ostjerusalem. Zwei Jahre lang haben PHRI und die Menschenrechtsorganisation | |
B'Tselem dazu Daten, Berichte sowie Augenzeugenaussagen gesammelt und | |
ausgewertet. | |
In dem von PHRI vorbereiteten Bericht schreibt die Organisation unter | |
anderem von jungen Geschwistern, die amputiert und verwaist in einem | |
belagerten Krankenhaus ausharren müssten. Von medizinischem Personal, das | |
[1][ohne Anklage in trostlosen Gefängnissen gefoltert werde] – und das | |
teils nicht überlebe. Von Operationen ohne Betäubung und ohne Skalpelle, | |
von hungernden Müttern, die ihre Babys frühzeitig zur Welt brächten. Über | |
die methodische Zerstörung des Gesundheitswesens eines Volkes. | |
„Gazas Gesundheitssystem ist systematisch zerlegt worden – seine | |
[2][Krankenhäuser unbrauchbar gemacht], medizinische Evakuierungen | |
verhindert und Grunddienste wie Traumatologie, Chirurgie, Dialyse und | |
[3][Geburtshilfe vernichtet]“, steht in dem 43-seitigen Dokument. Die | |
Tötung und Festnahme von mehr als 1.800 Medizinern hätten die medizinischen | |
Kapazitäten dezimiert und einen Wiederaufbau fast unmöglich gemacht. | |
Laut dem Hamas-geführten Gesundheitsministerium sind seit Beginn des | |
Krieges mindestens 1.581 Menschen im Gesundheitswesen getötet worden. Laut | |
Daten der Weltgesundheitsorganisation blieben im Mai lediglich 19 von 36 | |
Kliniken im Teil-Betrieb. Dabei werden sie dringend benötigt: Mindestens | |
55.000 Menschen seien seit Beginn des Kriegs gestorben, sagt das | |
palästinensische Gesundheitsministerium. Fast die Hälfte davon sind nach | |
Berechnung der taz Frauen und Kinder. Weitere 118.000 wurden verletzt. | |
Hinzu kommen die „indirekten Todesfälle“: etwa Menschen, die durch Mangel | |
an Nahrungsmitteln oder Medikamenten gestorben sind. | |
## Neun von zehn Menschen in Gaza wurden vertrieben | |
Den Vorwurf des Genozids beziehen PHRI und B'Tselem Israel nicht nur auf | |
das Gesundheitswesen, sondern auch auf den Vorwurf der Zerstörung von | |
Lebensgrundlagen, Hinderung von humanitärer Hilfe, Massenvertreibung, | |
Auswirkungen auf die kommenden Generationen sowie öffentlich getätigter | |
Aussagen von israelischen Politiker*innen. | |
Neun von zehn Bewohner*innen Gazas seien bereits im Januar zumindest | |
einmal aus ihren Häusern vertrieben worden, 92 Prozent aller Wohnhäuser | |
seien beschädigt oder zerstört, 40.000 Kinder hätten mindestens einen | |
Elternteil verloren, psychische Probleme gingen durch die Decke. Schulen | |
seien nicht mehr funktionsfähig, [4][95 Prozent des Viehs getötet] und 80 | |
Prozent aller Bäume vernichtet worden. Die Hilfsblockade durch die | |
israelische Regierung und die Massentötungen von Hilfesuchenden reihten | |
sich ein. 97 Male sei das zum humanitären Gebiet erklärte Al-Mawasi | |
bombardiert worden, schreibt B'Tselem. Menschen seien dort in ihren Zelten | |
lebendig verbrannt. | |
Beide Organisationen kommen zu der Schlussfolgerung, dass das [5][keine | |
Kollateralschäden sind. Sondern Teil einer gezielten Strategie], die dazu | |
diene, Gaza für die Palästinenser*innen unbewohnbar zu machen und die | |
dortige Gesellschaft zu zerstören. „Kein Strom, kein Wasser, keine | |
Nahrungsmittel, kein Treibstoff“, sagte etwa der damalige | |
Verteidigungsminister Joaw Gallant zu Beginn des Krieges zur Belagerung von | |
Gaza. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere.“ | |
Premierminister Benjamin Netanjahu sprach von „Amalek“, einem Volk in der | |
Bibel, das die Jüd*innen attackiert hatte und vollständig ausradiert | |
werden sollte. Rechtsextreme Politiker*innen wie Bezalel Smotrich und | |
Itamar Ben-Gvir riefen mehrfach zur Zerstörung Gazas, Massenvertreibung | |
beziehungsweise Annexion auf. | |
## „Israel begeht einen Völkermord an den Palästinensern“ | |
Laut B'Tselem sei das Massaker in Südisrael, begangen von Kämpfern der | |
Hamas und anderer Milizen, [6][am 7. Oktober 2023] der „Trigger für den | |
Genozid“. Etwa 1.200 Israelis wurden damals getötet, mehr als zwei Drittel | |
von ihnen Zivilist*innen. Außerdem wurden etwa 250 Menschen [7][in den | |
Gazastreifen verschleppt]. Ein Verbrechen, das die Israelis in Schock und | |
Existenzangst versetzte und den aktuellen Krieg gegen die Hamas auslöste. | |
Der Angriff habe die israelische Gesellschaft verändert – und so einen | |
Wandel in der Politik gegenüber den Palästinenser*innen ermöglicht, | |
schreibt B'Tselem: von Unterdrückung und Kontrolle hin zu Zerstörung und | |
Vernichtung. | |
„Israel begeht gerade einen Völkermord an den Palästinensern im | |
Gazastreifen, das ist der Schluss unserer Untersuchung. Zusammen mit einer | |
ernsten Sorge, dass dies auf andere Gebiete ausgeweitet werden könnte, in | |
denen Palästinenser unter israelischer Verwaltung leben“, sagt Sarit | |
Michaeli von B'Tselem in Bezug auf das Westjordanland. | |
Der Vorwurf der beiden Organisationen dürfte hohe Wellen schlagen: Die | |
israelische Regierung hat den Vorwurf des Völkermords, der etwa aus | |
Südafrika kam, stets bestritten. Das israelische Militär betonte immer | |
wieder, [8][die Hamas nutze Schulen und Krankenhäuser als Tarnung]. Auch | |
die Anschuldigung eines gezielten Aushungerns der Bevölkerung weisen die | |
Streitkräfte ab. Es gebe keinen Hungertod in Gaza, Hamas plündere die | |
Hilfslieferungen, betonte etwa Premier Netanjahu immer wieder. | |
## Gegen Netanjahu gibt es einen internationalen Haftbefehl | |
Nach starken internationalen Protesten hat die israelische Regierung am | |
Sonntag zeitlich beschränkten humanitären Feuerpausen in einigen Gebieten | |
Gazas zugestimmt und zugesagt, sichere Korridore für Hilfsgütertransporte | |
zu öffnen. So sollen wieder mehr Güter die Palästinenser im Gazastreifen | |
erreichen. Die Lieferungen, auch kommerzieller Güter, hatte Israel Anfang | |
März ausgesetzt, Mitte Mai dann wieder erlaubt, [9][doch in viel zu | |
geringem Umfang]. Die umstrittenen Airdrops, bei denen Hilfsgüter aus der | |
Luft abgeworfen werden, haben nun ebenfalls wieder begonnen. | |
B'Tselem und PHRI fordern nun, dass sich die internationale Gemeinschaft | |
engagiert: Sie habe „eine moralische und legale Verantwortung, so etwas zu | |
stoppen. Und sie haben bislang versagt“, sagt Michaeli. Auch von der | |
israelischen Gesellschaft fordere sie Handlung. | |
Im vergangenen Jahr hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle | |
gegen Premier Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant wegen | |
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen. Eine | |
Klage von Südafrika gegen Israel wegen mutmaßlichen Völkermordes in Gaza | |
ist beim Internationalen Gerichtshof anhängig. Das Gericht hat die | |
Plausibilität der Vorwürfe akzeptiert und Gegenmaßnahmen von Israel | |
gefordert. Das Verfahren läuft weiter. | |
28 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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