# taz.de -- Tunnel unter Gaza: Das Spinnennetz der Hamas | |
> Hunderte Kilometer Tunnel soll die Terrorgruppe unter dem Küstenstreifen | |
> gegraben haben. Für Israels Armee nicht nur eine strategisches Problem. | |
Bild: Vereinzelt konnten sich Journalist*innen ein Bild des großteils geheimen… | |
BERLIN taz | Es ist ein Albtraum für jedes Militär, auch für hochmoderne | |
Armeen: ein weitverzweigtes Tunnelsystem unter einem Gebiet, das vielerorts | |
so dicht besiedelt ist wie eine Stadt. Schon für sich allein wären die | |
Tunnel der Hamas im Gazastreifen [1][eine Herausforderung für Israels | |
Armee], doch hinzu kommt noch, dass im Untergrund von Gaza die [2][mehr als | |
200 Geiseln] vermutet werden, die während des Hamas-Massakers am 7. Oktober | |
verschleppt wurden. | |
„Stellen Sie sich Gaza vor als eine Ebene für Zivilisten und eine weitere | |
für die Hamas“, veranschaulichte ein israelischer Armeesprecher die Lage, | |
„wir versuchen, zu dieser zweiten Ebene zu kommen.“ Die 85-jährige Yocheved | |
Lifschitz, eine der wenigen freigelassenen Geiseln, sprach nach ihrer | |
Rückkehr nach Israel von einem regelrechten „Spinnennetz“, durch das sie | |
sich in ihrer Gefangenschaft bewegen musste. | |
Die Zerstörung dieses Spinnennetzes ist neben der Befreiung der Geiseln | |
eines der Hauptziele Israels im Gazastreifen, vermutlich deutlich wichtiger | |
als die Ausschaltung von Hamas-Kämpfern. Letztere können – auch vor dem | |
Hintergrund der beispiellosen Zerstörung und der hohen zivilen Opferzahl – | |
leicht ersetzt werden. Die Tunnelinfrastruktur von Grund auf neu zu | |
errichten, würde dagegen Jahre dauern, wenn nicht Jahrzehnte. | |
## Ein asymmetrischer Krieg? | |
Kriegsexpert*innen sprechen oft von einer Asymmetrie, wenn es wie | |
aktuell um eine Auseinandersetzung zwischen einer ultramodernen Armee | |
mitsamt Luftwaffe und einer Terrorgruppe wie der Hamas geht, deren | |
Schlagkraft mit der israelischen Armee nicht vergleichbar ist. Doch dabei | |
bleibt das Tunnelnetz außer acht: „Unterirdische Kriegsführung verringert | |
das Ungleichgewicht und macht sie für Terrorgruppen überall attraktiv“, | |
argumentiert Daphné Richemond-Barak von der Reichman-Universität in Tel | |
Aviv, eine der führenden Expert*innen für das Tunnelsystem der Hamas, in | |
einem [3][Artikel] für Foreign Policy. | |
Auch der Militärfachmann Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in | |
München sieht in den Tunneln der Hamas eine „enorme Bedrohung“. Er spricht | |
von einer „dritten Dimension“. In der Regel komme das Risiko für eine Armee | |
von vorne und von oben, also von feindlichen Bodentruppen oder der | |
Luftwaffe. Sobald aber Tunnel im Spiel sind, komme die Bedrohung auch von | |
unten. Auch ließe sich nicht ausschließen, dass feindliche Kräfte plötzlich | |
hinter einem erscheinen. | |
„Man muss immer befürchten, dass der Feind über die Tunnelsysteme plötzlich | |
im Rücken auftaucht.“ Wie weit verzweigt die Tunnel unter Gaza genau sind, | |
ist nicht bekannt. Die Hamas selbst spricht von 500 Kilometern, was eine | |
Übertreibung sein dürfte. Mehrere hundert Kilometer könnten es jedoch | |
tatsächlich sein. Zum Vergleich: Das Netz der U-Bahn in München hat eine | |
Gesamtlänge von rund 100 Kilometern, das in Berlin rund 150. | |
Der Gazastreifen ist durchzogen von verschiedenen Arten von Tunneln: | |
Angriffstunnel, die auf israelisches Gebiet führen, aber auch | |
Schmuggeltunnel, die vor allem an der Grenze zu Ägypten sehr verbreitet | |
waren, bevor die Regierung in Kairo sie mit Meerwasser flutete und zum | |
Einsturz brachte. Schließlich – und das ist aktuell die Herausforderung für | |
Israels Bodentruppen – sind da noch die Tunnel innerhalb Gazas, die es den | |
Hamas-Terroristen erlauben, sich klandestin zu bewegen. Rein in die Tunnel | |
und wieder an die Oberfläche geht es über Luftschächte, unscheinbare Türen | |
oder durch die Keller von Privathaushalten. | |
## 20 Jahre Arbeit am Tunnelsystem | |
Unter Grund sollen sich auch Waffenlager und Kommandoräume befinden. Teils | |
seien die Gänge nur zu Fuß passierbar, teils könnten sich Fahrzeuge darin | |
unter Grund bewegen, vermuten Beobachter*innen. Nach israelischen Angaben | |
befindet sich unterhalb [4][der Al-Schifa-Klinik in Gaza-Stadt], dem | |
wichtigsten Krankenhaus des Gazastreifens, sogar eine große | |
Kommandozentrale, die von der Hamas und der Terrorgruppe Islamischer | |
Dschihad gemeinsam genutzt werde. | |
Dass das Krankenhaus der Hamas für ihre Zwecke dient, berichtete unabhängig | |
auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bereits in einem | |
[5][Bericht] von 2015. Darin hieß es, dass Teile der Klinik von der Hamas | |
zur Inhaftierung, für Verhöre und für Folter genutzt werden. Von | |
unterirdischen Räumlichkeiten unter Al-Schifa war damals allerdings noch | |
nicht die Rede. | |
Rund 20 Jahre lang hat die Hamas an ihrem Tunnelsystem gearbeitet. Schon | |
bevor Israel seine Armee 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog und auch die | |
Siedlungen in dem Küstenstreifen räumte, soll es erste Tunnel gegeben | |
haben. Richtig los ging es jedoch erst nach der Machtübernahme der Hamas | |
2007 und dem Gazakrieg von 2014. | |
2014, als Bodentruppen zuletzt in Gaza einmarschierten, um zunächst | |
Raketenangriffe auf Israel zu unterbinden, entdeckte die Armee das damalige | |
Ausmaß des Tunnelsystems. „Zehn Tage nach Beginn des Konflikts verlagerte | |
sich das Hauptziel der Operation plötzlich auf die Entdeckung und | |
Neutralisierung einer Reihe von neu entdeckten geheimen Angriffstunneln, | |
die die Armee überrascht hatten“, heißt es in einer [6][Studie] der | |
Universität von Birmingham. Neben vereinzelten [7][journalistischen | |
Berichten] sind es unter anderem die damals gesammelten Informationen der | |
Armee, die Rückschlüsse auf das heutige Tunnelsystem zulassen. | |
## Durch Sprengfallen geschüzt | |
Zerstört wurden damals nach israelischen Angaben 32 Tunnel, von denen rund | |
die Hälfte auf israelisches Gebiet führte. Im kurzen Krieg 2021 sollen nach | |
Armeeangaben weitere 100 Kilometer Tunnel zerstört worden sein, auch das zu | |
diesem Zeitpunkt wohl nur ein Teil des Netzwerks. | |
Richemond-Barak von der Reichman-Universität weist auf eine wichtige | |
Unterscheidung hin: der zwischen Neutralisierung und Eliminierung. Die | |
Tunnelexpertin geht davon aus, dass Israel sich aktuell nicht damit | |
zufrieden geben wird, die Tunneleingänge zu blockieren oder die gesamten | |
Tunnel mit Zement zu füllen, eine Technik, die etwa bei Schmuggeltunneln an | |
der mexikanisch-amerikanischen Grenze Anwendung fand. Eliminierung heiße, | |
die Tunnel auf ihrer gesamten Länge einbrechen zu lassen, mitsamt Wänden | |
und Dach. Von einem „hard kill“ spricht Richemond-Barak. | |
Wie das ginge, erklärt Masala: „Effektiv zerstören lassen sich Tunnel durch | |
bunkerbrechende Waffen oder Waffen, die tief ins Erdreich penetrieren und | |
erst 30 oder 40 Meter unter der Erde explodieren.“ Theoretisch, sagt er, | |
könnte man die Tunnel zwar fluten wie die Schmuggeltunnel an der Grenze zu | |
Ägypten, aber dafür sei das Netz der Hamas zu ausgedehnt. | |
Solange nicht das gesamte Netz zerstört ist, bleiben die Tunnel eine | |
Herausforderung für Israels Armee. Vor wenigen Tagen wurden vier | |
Soldat*innen durch eine Explosion in einem mit Sprengfallen versehenen | |
Tunnel getötet. Die Soldaten hätten sich jedoch nicht hineinbegeben, | |
betonten israelische Medien. „Die Israelis meiden dieses Szenario, weil man | |
nicht ausschließen kann, dass die Tunnel mit Sprengfallen versehen sind“, | |
sagt Masala. „Die israelische Armee ist deshalb extrem zurückhaltend, in | |
die Tunnel reinzugehen. Sie weiß nicht, was ihr da begegnet.“ | |
## Die Opferzahlen im Blick haben | |
Vor allem ist es die technische Überlegenheit der israelischen Armee, die | |
durch eine Kriegsführung unter Grund relativiert werden würde. Moderne | |
Drohnen und Roboter könnten teilweise für Aufklärung innerhalb der Tunnel | |
sorgen, wo Wärmebildkameras versagten, erklärt Masala. Ein Restrisiko | |
bleibe aber immer. Richemond-Barak sieht daher in erster Linie die | |
Luftwaffe gefragt: | |
„Auch wenn die Aufmerksamkeit mittlerweile auf Israels Bodenoffensive gilt, | |
ist die Eliminierung des Tunnelnetzwerks eher ein Job für Israels | |
Luftwaffe.“ Eine komplette Eliminierung des Netzwerks halten allerdings | |
sowohl sie als auch Masala für unrealistisch: „Ich gehe davon aus“, sagt | |
Masala, „dass die Israelis nicht über detaillierte Pläne verfügen, wie | |
viele Tunnel es gibt, wo die Tunnel liegen und vor allem, wie sie | |
miteinander verbunden sind.“ | |
Der Drahtseilakt für Israel besteht in den nächsten Wochen darin, dem | |
Tunnelnetz anders als 2014 und 2021 einen so weitgehenden Schaden | |
zuzufügen, dass eine Instandsetzung nicht innerhalb weniger Jahre machbar | |
wäre, gleichzeitig die eigenen Truppen zu schützen und die Opferzahlen auf | |
palästinensischer Seite im Blick zu behalten. | |
„Sie riskieren bei der Zerstörung von Tunneln unter Wohnvierteln, dass | |
alles darüber auch zusammenbricht“, sagt Masala, „Sie erzeugen also jede | |
Menge zivile Opfer.“ In diesem Krieg, auf den die Welt blickt und den | |
Israel nur mit internationaler Unterstützung führen kann, ist das jenseits | |
aller moralischen Aspekte auch ein strategischer Faktor. | |
18 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5973158 | |
[2] /Marsch-der-Geisel-Angehoerigen-in-Israel/!5969659 | |
[3] https://www.foreignaffairs.com/israel/israel-must-destroy-hamas-tunnels | |
[4] /Israelisches-Militaer-in-Gaza/!5973357 | |
[5] https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2021/05/MDE2116432015ENGLISH.… | |
[6] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14650045.2017.1399878 | |
[7] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-31637592 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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