# taz.de -- Debatte um Asyl und Migration: Moralischer Kontrollverlust | |
> Union und Ampel bilden eine Antimigrations-Einheitsfront. Damit machen | |
> sie rechtsextreme Positionen anschlussfähig. | |
Bild: Noch ziemlich freie Sicht: An der deutsch-polnischen Grenze bei Lebus | |
Wer glaubte, es gebe beim Thema Migration noch so etwas wie eine | |
freiwillige moralische Selbstkontrolle, sah sich in den vergangenen Tagen | |
getäuscht. Finanzminister Christian Lindner (FDP) will „keine Denkverbote“ | |
mehr in der Migrationspolitik. Sahra Wagenknecht fordert, bis auf eine | |
„verschwindende Minderheit“ alle Ankommenden von Leistungen und | |
Asylverfahren auszuschließen. | |
Die Ampel will die Leistungen für Flüchtlinge, die in andere EU-Staaten | |
zurück sollen – anders als vielfach berichtet – nicht auf „Bett, Brot, | |
Seife“ drücken, sondern streichen – das Gesetz dazu wird derzeit beraten. | |
Innenministerin [1][Nancy Faeser (SPD) verspricht „massive Zurückweisungen“ | |
an den deutschen Grenzen,] durchgesetzt mit grenznahen Schnellverfahren. | |
CDU-Chef Friedrich Merz [2][knallte die Tür beim „Migrationsgipfel“ zu]. | |
Und sein Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei bekräftigte bei Markus | |
Lanz, „alle“ Migration müsse reduziert werden, nicht nur die irreguläre. | |
Bisher hieß es, die „geordnete“ Migration sei im Land willkommen. Aber | |
das war gestern. Heute gilt: Es kann nicht mehr scharf genug sein. Die AfD | |
konnte da nur noch den Aufbau einer privatwirtschaftlichen | |
„Abschiebeindustrie“ fordern. Dass die anderen Parteien dies aufgreifen, | |
ist womöglich nur eine Frage der Zeit. | |
Es ist eine mächtige Eruption des migrationsfeindlichen Grundrauschens in | |
der deutschen Gesellschaft, das zyklenhaft an die Oberfläche tritt und | |
erkennbar an Kraft gewinnt. Protagonisten der Pogrome der frühen 1990er | |
bauten [3][in den folgenden Jahrzehnten rechtsextreme Strukturen] im Osten | |
auf. 2010 gab Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ dem neurechten | |
Bürgertum einen Wachstumsschub. Die Pegida-Mobilisierungen und später die | |
von rechts vereinnahmten Coronaproteste ließen elitenfeindliche Milieus | |
anschwellen. | |
Die AfD kanalisierte und radikalisierte all dies, vor allem dank eines | |
Ökosystems reichweitenstarker rechter Social-Media-Kanäle. So kann die AfD | |
heute Konservative und Ampel-Parteien in eine Antimigrations-Einheitsfront | |
drängen. | |
## Aufweichung rechtsstaatlich-moralischer Standards | |
Deren Taktgeber im bürgerlichen Lager ist eine Union, die zunehmend | |
Tea-Party-hafte, populistische Züge zeigt und deren bisherige | |
rechtsstaatlich-moralische Standards aufweichen. Die Union verliert dabei | |
aus dem Blick, dass Konservative Rechtsextreme nicht rechts schlagen | |
können. Die Forschung hat klar belegt, dass viele Menschen heute aus | |
Überzeugung rechtsextrem wählen und mit mehr Härte gegen Zuwanderung nicht | |
zurückzuholen sind. | |
Wer permanent Migration als Problem benennt, macht rechtsextreme | |
Positionen weiter anschlussfähig und vergrößert das AfD-Wählerpotenzial – | |
wie in Frankreich, den Niederlanden oder Österreich zu sehen ist. In | |
[4][Dänemark, das als Vorzeigemodell harter Migrationspolitik gepriesen | |
wird], ging die Schwächung der rechtsextremen Dänischen Volkspartei mit | |
der Entstehung der heute größeren Rechtspartei Danmarksdemokraterne | |
(Dänemark-Demokraten) einher. | |
Hierzulande ziehen die progressiven Ampel-Parteien vollständig aus der | |
Defensive heraus beim Migrationsstopp mit. Blockiert durch die FDP können | |
sie in der Ökonomie, bei Umverteilungsfragen, nichts gewinnen. Für | |
strahlkräftige neue Projekte fehlt ohne eine Lockerung der Schuldenbremse | |
oder eine effektive Erbschaftssteuer das Geld. Erfolge auf anderen Feldern, | |
etwa bei der Energiewende, werden überdeckt vom desolaten Bild der | |
Ampelregierung in der Öffentlichkeit. Für den sich anstauenden Frust soll | |
die Migrationsfrage als Ventil dienen und Handlungsbereitschaft | |
suggerieren. | |
Da zählt wenig, dass die atemlos, teils im Halbtagestakt herausgedroschenen | |
Ideen zum Ausländerstopp oft unausgegoren und rechtlich fragwürdig sind. | |
Schon Horst Seehofer (CSU) ist mit seiner Idee von „Transitzonen“ für die | |
direkte Zurückweisung gescheitert. Die Gewerkschaft der Polizei ist nicht | |
von ungefähr gegen die dafür nötigen ständigen Binnengrenzkontrollen – sie | |
sieht den Überstundenberg wachsen. | |
## Einschneidende Folgen | |
Am Ende werden die Schnellverfahren wahrscheinlich nur ein neues Label für | |
Dublin-Prüfungen in bestehenden Sammelunterkünften. Aber wo | |
medial-politische Erregungszyklen immer sogkräftiger werden, erscheint | |
Ampel und Union die Simulation von Härte offenbar schon ausreichend, um | |
gegen die mächtige Konkurrenz der AfD bestehen zu können. Aus vielen der | |
scharfen Ideen dieser Tage dürfte noch so einiges an Luft entweichen. Ein | |
schwacher Trost. | |
Denn die Folgen sind gleichwohl einschneidend. In Österreich wird die | |
Aussicht, auf den von Deutschland abgewiesenen Flüchtlingen | |
sitzenzubleiben, dem EU-Feind Herbert Kickl bei [5][der Wahl am 29. | |
September] zugute kommen. Spätestens unter einer FPÖ-Regierung wird auch | |
Österreich seine Grenzen schließen. Der eigentlich wohlmeinende polnische | |
Regierungschef Donald Tusk hat die deutschen Pläne wütend kritisiert. | |
Dass letztlich überall in Europa die Schotten dichtgemacht werden, liegt | |
nahe. In Außengrenzen-Staaten wie Italien oder Griechenland wird dann die | |
Wut auf Deutschland weiter wachsen. Wie will eine so zerstrittene EU | |
gemeinsam handeln, wenn sich der Krieg im Osten noch ausweitet – | |
schlimmstenfalls nach einem Wahlsieg Donald Trumps? | |
Die Zahl der Sudanes:innen, die Richtung des zentralen Mittelmeers vor | |
Krieg und Hunger fliehen, wächst schon jetzt. Und bereits ein russischer | |
Teilsieg in der Ukraine könnte Millionen weitere Ukrainer:innen in die | |
Flucht treiben. Die nun angedachten Grenzverfahren wären dann praktisch | |
nicht durchzuhalten. 2022 nahm die EU ukrainische Geflüchtete | |
unbürokratisch, ohne aufwändige Asylverfahren auf. Doch die Solidarität für | |
die Ukrainer:innen wird brüchiger, vielerorts wird ihr Bleiberecht infrage | |
gestellt. Auch die Klimakrise wird langfristig weitere Fluchtbewegungen | |
auslösen. Wie soll Europa einen tragfähigen, menschenrechtskonformen Umgang | |
mit weiteren Ankünften finden, wenn schon jetzt, da die Antragszahlen | |
sinken, ein populistisch getriebenes Chaos ausbricht? | |
## Konservative wie Söder, Spahn und Merz | |
Die Migrationspolitik hat sich seit den 1990er Jahren europäisiert. Der | |
deutsche „Asylkompromiss“ von 1992/93 war der letzte Versuch, die nationale | |
Hoheit über Asylverfahren und Abschiebungen zu reklamieren. Nicht ohne | |
Grund fordern Hardliner heute wieder einen parteiübergreifenden Kompromiss. | |
Dessen Wirkung auf das Migrationsrecht aber wäre eng begrenzt. | |
Die juristischen Machtzentren der Migrationspolitik liegen heute beim | |
EuGH in Luxemburg und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in | |
Straßburg. Die Luxemburger Richter:innen haben jüngst die Rechte etwa | |
palästinensischer Flüchtlinge, unbegleiteter Minderjähriger und | |
geflüchteter Frauen gestärkt. Auch bei Zurückweisungen und Überstellungen | |
innerhalb Europas gibt das Europarecht Asylsuchenden einklagbare Rechte – | |
eine Folge [6][der Kämpfe Geflüchteter, NGOs, Anwält:innen und sozialen | |
Bewegungen]. | |
Konservative stellen deshalb nun grundlegende Normen infrage. 2023 nannte | |
Jens Spahn (CDU) die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische | |
Menschenrechtskonvention nicht mehr „zeitgemäß“. Markus Söder (CSU) will | |
das europäisch garantierte individuelle Asylrecht abschaffen. Und Friedrich | |
Merz will eine „nationale Notlage“ ausrufen, um Zurückweisungen zu | |
ermöglichen. | |
Jurist:innen machen bei diesen Versuchen, die Bindung der | |
Nationalstaaten an das europäische Recht zurückzudrehen, mit. In der | |
Debatte um Zurückweisungen haben die konservativen Ex-Verfassungsrichter | |
Hans-Jürgen Papier und Peter M. Huber, die schon immer die Macht des EuGH | |
begrenzen wollten, auf den Asylkompromiss von 1992 verwiesen – und entgegen | |
einer absolut gefestigten Rechtslage behauptet, man könne einfach wieder | |
das europäische Recht mit nationalen Regeln übertrumpfen. | |
## Angstgetriebene Übernahme der rechtsextremen Agenda | |
Der Europarechtler Daniel Thym fordert in der FAZ ein „reformatorisches | |
Zurück zu den Ursprüngen“: Die Rechte von Asylsuchenden sollen gestutzt | |
werden, europäische Gerichte weniger mitentscheiden und Nationalstaaten | |
mehr Freiheit bei der Migrationskontrolle erhalten. Am Ende könnte laut | |
Thym auch eine „Fundamentalrevision der EU-Gesetzgebung“ stehen – eben je… | |
Abschaffung der Asyl-Einzelfallprüfung, die auch die Union will und bei der | |
europapolitische Kollateralschäden billigend in Kauf genommen werden. | |
Die Rechtsextremen brauchen der angstgetriebenen Übernahme ihrer Agenda nur | |
zuzuschauen. Sie können in aller Ruhe überlegen, wie sie als Nächstes die | |
Klimapolitik der Mitte-Parteien attackieren wollen. | |
Ihr eigenes Programm ist dabei offensichtlich untauglich, um die | |
gravierenden Herausforderungen der Gegenwart anzugehen. Ihre Slogans wie | |
„Make Europe Great Again“ – das Motto der laufenden EU-Ratspräsidentscha… | |
Ungarns – oder der Brexit-Slogan „Take Back Control“ setzen auf ein | |
Retrotopia, die Glorifizierung der Vergangenheit vor 1989, als der | |
Nationalstaat angeblich noch intakte Souveränität und gesellschaftlichen | |
Zusammenhalt bot. Es ist ein Zerrbild, das aber angesichts der | |
gegenwärtigen Krisen Anziehungskraft hat. | |
Doch an einem positiven Fortschrittsbegriff fehlt es in allen politischen | |
Lagern, auch bei den Progressiven. Linke sind in Abwehrkämpfen gefangen | |
oder apathisch angesichts der „antilinken Konjunktur“, die die | |
Sozialwissenschaftler Moritz Ege und Alexander Gallas beschreiben. | |
Dieser vermögen sie kaum Zukunftsentwürfe für die Bewältigung der globalen | |
Herausforderungen entgegenzusetzen. | |
## Spanien zeigt, es geht anders | |
Einen Ansatzpunkt dazu könnte jüngst ausgerechnet der neoliberale | |
Ex-EZB-Chef Mario Draghi geliefert haben. In [7][seinem neuen Bericht zur | |
ökonomischen Situation Europas] fordert er Investitionen von bis zu 800 | |
Milliarden Euro jährlich (!), um „wettbewerbsfähig“ zu bleiben. Das Geld | |
will Draghi vor allem durch gemeinsame Schulden auftreiben – ein Wink an | |
Christian Lindner. | |
Klar ist, dass künftig mehr in öffentliche Infrastruktur und Klimaschutz | |
investiert und Armut staatlich besser bekämpft werden muss. Linke fordern | |
dazu schon lange mehr Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften. | |
Aber warum ist Tiktok voll von AfD-Videos – und nicht von solchen, die in | |
60 Sekunden erklären, wieso Reiche mehr abgeben müssen? | |
Ein Allheilmittel ist das aber nicht. US-Präsident Joe Biden hat mit seinem | |
„Inflation Reduction Act“ ein Investitionsprogramm aufgelegt, ohne die | |
Unzufriedenheit in den von rechts verhetzten Teilen der Bevölkerung | |
befrieden zu können. Die Linke muss Wege finden, auch jenseits der | |
ökonomischen Sphäre, gesellschaftspolitisch-emotional wieder in die | |
Offensive zu kommen. | |
Dass dies noch möglich ist, zeigt etwa Spanien: Durch gesellschaftlichen | |
Druck von unten verweigert sich die Regierung der Dämonisierung der | |
Migration und will, wie bereits in der Vergangenheit, Hunderttausenden | |
Papierlosen ein Aufenthaltsrecht geben. So lautet die Aufgabe, die | |
privilegierten Zonen, in denen wir in Europa leben, offenzuhalten, | |
Bewegungsfreiheit wieder als lohnendes gesellschaftliches Ziel erscheinen | |
zu lassen – und die so erfolgreich geschürte Angst davor zu lösen. | |
Christian Jakob ist taz-Redakteur, Maximilian Pichl ist Professor für | |
Soziales Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden | |
14 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Zurueckweisungen-an-deutschen-Grenzen/!6036181 | |
[2] /Nach-dem-gescheiterten-Migrationsgipfel/!6036235 | |
[3] /Analyse-der-Wahlergebnisse-seit-1994/!6033149 | |
[4] /Migrationsdebatte-in-Europa/!6029964 | |
[5] /Vor-den-Wahlen-in-Oesterreich/!6033664 | |
[6] /Verteidiger-des-Asylrecht/!6036124 | |
[7] /Rezepte-gegen-Konjunkturflaute/!6032521 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
Maximilian Pichl | |
## TAGS | |
Asylrecht | |
Migration | |
Ampel-Koalition | |
EU-Außengrenzen | |
CDU/CSU | |
wochentaz | |
GNS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Migration | |
Schwerpunkt AfD | |
Geflüchtete | |
Asylrecht | |
Grenzkontrollen | |
Friedrich Merz | |
Asyl | |
Abschiebung | |
Ampel-Koalition | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte um Migration: Teilhabe fördern statt „Brot, Bett und Seife“ | |
Die aktuelle Flüchtlingsdebatte geht an den eigentlichen Herausforderungen | |
in Deutschland vorbei. Es braucht eine evidenzbasierte Migrationspolitik. | |
Verschärfte Asyldebatte in Polen: Premier Tusk verliert die Geduld | |
Polen eskaliert bewusst die Asyl- und Migrationsdebatte vor dem kommenden | |
EU-Gipfel. Statt nationaler Alleingänge setzt Tusk auf EU-Lösungen. | |
Medienforscher zu Nazis auf Social Media: „Faschismus ist heute Lifestyle“ | |
Simon Strick erklärt, warum Rechte im Netz längst kultureller Mainstream | |
sind – und chronische Opposition auf Social Media immer gewinnt. | |
Ausstellung über Geflüchtete: Landratsamt baut Ausstellung ab | |
Das Landratsamt Pirna cancelt eine Ausstellung über das Leben von 35 | |
Geflüchteten. Sie habe „Unmut“ unter Bürgern und im Landratsamt | |
hervorgerufen. | |
Protest gegen Ampel-Pläne: Gegen das „Unsicherheitspaket“ | |
Nach der Schockstarre: Tausend Menschen demonstrieren am Dienstag vor der | |
SPD-Zentrale gegen Abschiebungen, Grenzkontrollen und Überwachung. | |
Grenzkontrollen in Deutschland: Bitte einmal den Kofferraum öffnen | |
Im Schengen-Raum sind eigentlich keine Kontrollen vorgesehen. Deutschland | |
weitet seine Kontrollen nun auf die westliche Grenze aus. | |
Merz, Söder und die K-Frage: Alt und unerfahren | |
Hofft man darauf, dass die Union nicht so stark vom Ampel-Versagen | |
profitiert, wie sie könnte, ist Merz, nicht Söder der | |
Traum-Kanzlerkandidat. | |
Landesweite Kontrollen ab Montag: Deutsche Grenzerfahrungen | |
Ab Montag soll es deutschlandweit Grenzkontrollen geben. In Frankfurt | |
(Oder) am Übergang zu Polen gibt es diese fast seit einem Jahr. Ein | |
Rundgang. | |
Migrationsdebatte im Bundestag: Schneller, schärfer, härter | |
Im Bundestag übertrumpfen sich fast alle mit Anti-Migrationsrhetorik. Nur | |
die Linkspartei kritisiert die Richtung grundsätzlich. | |
Asyl- und Migrationspolitik der Ampel: Grüne ringen um ihre Grenzen | |
Die Hardliner-Forderungen von Friedrich Merz weisen die Grünen einhellig | |
zurück. Über den eigenen Kurs gibt es intern aber Diskussionen. | |
Verteidiger des Asylrecht: „Die Leute gestalten dieses Land“ | |
Pro Asyl kämpft seit Jahrzehnten für die Rechte von Flüchtlingen – trotz | |
politischer Widerstände, die derzeit wieder stärker werden |