| # taz.de -- Debatte um Migration: Teilhabe fördern statt „Brot, Bett und Sei… | |
| > Die aktuelle Flüchtlingsdebatte geht an den eigentlichen | |
| > Herausforderungen in Deutschland vorbei. Es braucht eine evidenzbasierte | |
| > Migrationspolitik. | |
| Zurückweisungen auch bei Asylgesuchen an den Grenzen, Aussetzung von | |
| Familiennachzug und von humanitären Aufnahmeprogrammen, Einrichtung von | |
| „Ausreisearrest“ und eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten. | |
| Die Vorstellungen zur Steuerung von Migration [1][im Sondierungspapier von | |
| CDU/CSU und SPD] lesen sich geradezu dystopisch. Mit diesen Maßnahmen | |
| reagiert die künftige Bundesregierung unter Friedrich Merz auf aktuelle und | |
| längerfristige gesellschaftliche Herausforderungen. | |
| Als sozialwissenschaftlich arbeitende Migrationsforscherinnen analysieren | |
| wir den Zustand der Gesellschaft multiperspektivisch und beobachten, wie | |
| sich Veränderungen von Rahmenbedingungen in der Realität niederschlagen und | |
| wie sich die Gesellschaft als Ganzes in migrations- und asylrechtlichen | |
| Fragen entwickelt. Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, auf | |
| die gerade mit so rigorosen Maßnahmen politisch reagiert wird? Und vor | |
| allem: Welche Ursachen haben sie? | |
| Der Stellenwert, den das Thema Migration in den Debatten vor allem der | |
| vergangenen Monate sowie in den aktuellen Sondierungs- und | |
| Koalitionsverhandlungen einnimmt, und die Art und Weise, wie die Thematik | |
| diskutiert wird, ist durch eine extreme Engführung der Problemperspektive | |
| geprägt. Wissenschaftliche Erkenntnisse der Flucht- und Migrationsforschung | |
| finden in der Politik kaum Berücksichtigung. Anstelle einer menschenrechts- | |
| und evidenzbasierten Politik werden vermeintliche Lösungen für | |
| vermeintliche Probleme präsentiert. | |
| Die aktuelle Politik verkennt die tatsächlichen Herausforderungen im Asyl- | |
| und Migrationsbereich. Übersehen wird dabei der wissenschaftlich dargelegte | |
| dringende Handlungsbedarf in Bezug auf den Abbau von Exklusionsmechanismen, | |
| mit denen Geflüchtete in allen zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie | |
| Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnen wie auch gesellschaftliche und politische | |
| Teilhabe konfrontiert werden. Insbesondere die Asylpolitik wird überwiegend | |
| als Exklusionspolitik betrieben. | |
| ## Unsicherheit und Exklusion | |
| Gewalttaten von Einzeltätern wie in Aschaffenburg oder München werden viel | |
| zu oft stellvertretend für alle Asylsuchenden und für eine als gescheitert | |
| erklärte Asylpolitik gewertet. Sinnvoller wäre, sachlich-analytisch nach | |
| den Ursachen dieser Taten zu fragen. Aus Sicht der Fluchtforschung | |
| überrascht es nicht, dass aus den durch jahrelange Unsicherheit und | |
| Exklusion geprägten Lebensumständen von Asylsuchenden psychische | |
| Erkrankungen und potenziell auch Radikalisierungen resultieren. | |
| [2][Fluchtforscher:innen] sprechen seit Jahrzehnten von | |
| Sammelunterkünften als Orten der (Im-)Mobilisierung und Werkzeugen | |
| migrationspolitischer Regierungspraktiken, von [3][halboffenen Lagern] und | |
| Orten der [4][organisierten Desintegration]. Aktuelle Kürzungen bei | |
| Sprachkursen, Beratungsstellen und psychosozialen Zentren verstärken diese | |
| Effekte zusätzlich, ganz zu schweigen von der Kasernierung von Geflüchteten | |
| in Lagern, wie es sie seit 2018 als [5][Ankerzentren] flächendeckend in | |
| Bayern gibt. | |
| In diesen abgeschirmten Unterkünften wird den Bewohner:innen nahezu | |
| jedwede Möglichkeit auf Selbstbestimmung, Privatsphäre und | |
| gesellschaftliche Teilhabe verwehrt. Vollverpflegung, genau abgezählte | |
| Wochenrationen an Toilettenpapier, für abgelehnte Asylsuchende keinerlei | |
| Bargeldausgabe, keine unabhängigen Beratungsmöglichkeiten auf dem Gelände – | |
| so sieht die Realität in diesen Sammelunterkünften aus. | |
| Sogar die Gewerkschaft der Polizei lehnte damals deren Einführung ab; die | |
| Organisation Ärzte der Welt beendete die Betreuung, da sie unter den | |
| vorherrschenden Bedingungen nicht mehr länger die Verantwortung für die zum | |
| Teil schwer psychisch kranken und dringend behandlungsbedürftigen | |
| Patient:innen tragen konnte. In [6][Eisenhüttenstadt] und in | |
| [7][Hamburg] sind in den vergangenen Wochen die ersten zwei sogenannten | |
| Dublin-Zentren für Geflüchtete, die über ein EU-Land eingereist sind, | |
| eröffnet worden. | |
| ## Globaler Norden ist verantwortlich | |
| Hier soll es, wie es die sozialdemokratische Innenministerin Brandenburgs | |
| Katrin Lange formulierte, nur „Brot, Bett und Seife“ geben. Folge dieser | |
| zunehmend auf Ausgrenzung und Abwehr fokussierten Strategien ist ein | |
| destruktiver gesellschaftlicher Diskurs und die [8][Normalisierung] von | |
| rassistischen, demokratiefeindlichen rechten Positionen. | |
| Ob auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, im zivilgesellschaftlichen | |
| Engagement oder im Bildungsbereich: Migrantisierte Menschen werden in | |
| Deutschland systematisch benachteiligt. Migrant:innen und Menschen auf | |
| der Flucht werden mehr und mehr als Feinde betrachtet. Eine solche Politik | |
| ist grundlegend falsch und gefährlich; auch, weil sie droht, die eigenen | |
| demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Fundamente | |
| auszuhöhlen. Ein Blick in die USA reicht, um zu erkennen, wie schnell es um | |
| die Rechte aller Bürger:innen geschehen ist. | |
| Eine Kehrtwende in zweierlei Hinsicht ist notwendig. Zum einen müssen | |
| Politik und Gesellschaft wahrnehmen, dass die Welt zunehmend von Konflikten | |
| und Kriegen beherrscht wird und die Zahl der Flüchtenden damit steigt. | |
| Gewalt, Hunger, die klimabedingte Vernichtung von Lebensgrundlagen – es | |
| gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Und wir sind mit | |
| unserer Lebensweise im erheblichen Maße daran beteiligt. | |
| Der deutsche Soziologe [9][Stephan Lessenich] beschreibt anschaulich, wie | |
| wir die Kosten unserer Lebensweise auf andere Gesellschaften – vor allem im | |
| Globalen Süden – und auf spätere Generationen auslagern. Unsere Lebensweise | |
| ist einer der Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen und in andere | |
| Länder fliehen müssen. Nur ein kleiner Prozentsatz davon erreicht den | |
| Globalen Norden. | |
| ## Eine Chance, keine Bürde | |
| Migration lässt sich nicht durch die gewaltvolle Ausgrenzung und Abweisung | |
| von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung beenden. Stattdessen | |
| müssen wir anerkennen, dass unsere Lebensweise mit den globalen | |
| Fluchtbewegungen strukturell verstrickt ist. Und schon gar nicht dürfen wir | |
| unsere rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen auf der Flucht | |
| verneinen. Zum Zweiten herrscht in Deutschland ein allgegenwärtiger | |
| Pessimismus. | |
| Eine Gesellschaft, die zwar durch Einwanderung und Diversität seit Langem | |
| geprägt ist, es aber versäumt hat, diese Tatsache in ein kollektives | |
| Selbstverständnis eingehen zu lassen. Jede:r zweite Einwohner:in ist | |
| heute älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Das | |
| Ausscheiden der geburtenstarken Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben | |
| erzeugt einen Ersatzbedarf von rund 500.000 Personen – pro Jahr! Bereits | |
| heute ist die Zahl nicht besetzter Arbeitsplätze mit 1,5 Millionen auf | |
| einem Rekordhoch, mit deutlichen branchenspezifischen Peaks wie etwa im | |
| Handwerk oder in der Pflege. | |
| Trotz vieler positiver Änderungen in der deutschen | |
| Einwanderungsgesetzgebung verdrängt der migrationspolitische Diskurs durch | |
| seinen Fokus auf Abwehr und Kontrolle die reale Lage. Dabei haben wir es | |
| mit einem [10][stetig wachsenden Bedarf an Arbeitskräften] zu tun und mit | |
| dem Manko einer schwer zu lernenden Sprache, einer überbordenden Bürokratie | |
| und einer notorisch schlecht gelaunten Bevölkerung. | |
| Asylsuchende und Migrant:innen sind nicht eine Bürde, sie sind eine | |
| Chance, gesellschaftliche Probleme in Deutschland zu lösen. Stattdessen | |
| werden arbeitsfähige Menschen, die zu uns kommen, gleich ob als | |
| Asylsuchende oder als Arbeitsmigrant:innen, mit einer Flut von Forderungen | |
| und Prüfaufträgen konfrontiert. Oft dauert es Jahre, bis sie beruflich dort | |
| wieder ansetzen können, wo sie in ihrem Herkunftsland aufgehört haben. | |
| ## Langwierige Anerkennungsverfahren | |
| Tausende mexikanische Krankenschwestern, syrische Lehrerinnen und | |
| ukrainische Ärztinnen üben ihre Berufe in Deutschland nicht aus, sondern | |
| warten auf den Ausgang ihres Anerkennungsverfahrens. Selbst wenn das | |
| Deutsch nicht lupenrein ist, selbst wenn die syrische Lehrerin vielleicht | |
| nur ein Lehrfach und nicht zwei studiert hat, selbst wenn der irakische | |
| Lackierer keinen Gesellenbrief mitbringt, dafür aber 20 Jahre | |
| Berufserfahrung, könnten sich diese Menschen viel unmittelbarer in den | |
| Arbeitsmarkt einbringen. | |
| Sie sollten dabei flexibel und individuell unterstützt werden. Stattdessen | |
| wird ihnen der Weg ins Arbeitsleben und in ein selbstbestimmtes Leben mit | |
| einer Flut von Auflagen erschwert. Angesichts der besorgniserregenden | |
| globalen Sicherheitslage und der großen Herausforderungen der kommenden | |
| Jahre ist es umso wichtiger, eine positive gesellschaftliche | |
| Transformationsstimmung zu erzeugen, die alle Teile der Gesellschaft | |
| einbezieht und eben nicht auf Abwehr, Ausgrenzung und Kontrolle basiert. | |
| Aus diesem Grund haben wir eine [11][Stellungnahme für eine evidenz- und | |
| menschenrechtsbasiserte Migrations- und Asylpolitik] verfasst. | |
| 26 Mar 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Sonstiges/20250308_Sondierungspapier… | |
| [2] https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5202-4/praktiken-der-im-mobilis… | |
| [3] https://edoc.hu-berlin.de/server/api/core/bitstreams/66090077-73eb-4873-88c… | |
| [4] https://www.hugendubel.info/detail/ISBN-9783779917939/T%C3%A4ubig-Vicki/Tot… | |
| [5] /Fluechtlingsunterkuenfte-in-Bayern/!5760626 | |
| [6] /Abschiebezentren-fuer-Dublin-Fluechtlinge/!6066894 | |
| [7] /Ausreisezentrum-in-Hamburg/!6074159 | |
| [8] /Debatte-um-Migration/!6073384 | |
| [9] https://www.zeit.de/2016/43/neben-uns-die-sintflut-stephan-lessenich-kapita… | |
| [10] /Deutschland-braucht-Zuwanderung/!6053293 | |
| [11] https://fluchtforschung.net/fuer-eine-evidenz-und-menschenrechtsbasierte-m… | |
| ## AUTOREN | |
| Birgit Glorius | |
| Judith Vey | |
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