# taz.de -- Aus Sicht der Migrationsforschung: Migration und Demokratie | |
> Flucht und Asyl beherrschen den Wahlkampf. Statt die Realität der | |
> Migrationsgesellschaft zu bekämpfen, braucht es eine neue Form der | |
> Bürgerschaft. | |
Bild: Demo in Hamburg gegen Merz und die AfD: Einfache Antworten auf komplexe F… | |
Seit Tagen gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen das | |
parlamentarische Paktieren von CDU/CSU, FDP und AfD ein Zeichen zu setzen. | |
Denn seit den Ereignissen der vergangenen Woche im Bundestag ist für viele | |
die Möglichkeit eines konservativ-faschistischen Bündnisses vorstellbarer | |
geworden. Friedrich Merz hat demonstriert, dass er trotz gegenteiliger | |
Beteuerungen bereit ist, für seine Vorhaben die Zustimmung der AfD | |
einzusammeln. | |
Die Akklamation durch die AfD schien den Kanzlerkandidaten nicht im | |
Geringsten zu stören, als er die Aktion zu einer Sternstunde des deutschen | |
Parlamentarismus erklärte. Doch ein Blick auf die von der Union | |
eingebrachten Anträge offenbart, dass ihr Schulterschluss mit der AfD auf | |
der Ebene der vorgeschlagenen Maßnahmen und der Rhetorik schon längst | |
stattgefunden hat. | |
Für die Union liegt die Quelle gesellschaftlicher Unsicherheit in der | |
Migration als solcher. Ihr geht es nicht ausschließlich um alleinstehende | |
männliche Asylsuchende, gegen die Friedrich Merz immer wieder gern hetzt. | |
In der Bundestagsdebatte wiederholte der CDU-Vorsitzende etwa das | |
rassistische Gerücht der „täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen | |
aus dem Milieu der Asylbewerber“. Die Union will tatsächlich keinerlei | |
Fluchtmigration mehr zulassen. Daher fordert sie die Schließung der Grenzen | |
sowie die Beendigung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte. | |
Einfache Antworten auf komplexe Fragen haben im Wahlkampf schon immer | |
Konjunktur, rassistische Hetze leider auch. Mal sind es Geflüchtete aus der | |
Ukraine, mal abfällige Bemerkungen über „kleine Paschas“. Die Gesamtheit | |
der Migrant:innen ist gemeint oder kann jederzeit gemeint sein. | |
## Staatsbürgerschaft auf Widerruf | |
Das Vorhaben der Union, schwere Straftaten zusätzlich mit dem Verlust der | |
Staatsbürgerschaft zu bestrafen, unterstreicht, dass ihre Migrationspolitik | |
auf die Spaltung der Migrationsgesellschaft – also die Gesellschaft, in der | |
wir alle gemeinsam leben – abzielt. Schon der Besitz eines Doppelpasses | |
gerät dadurch zum Beweis, doch kein richtiger Deutscher, keine richtige | |
Deutsche zu sein. | |
Das geplante Vorhaben gleicht einer Staatsbürgerschaft auf Widerruf, die | |
nur mehr ein Zugeständnis an einige regelkonforme Untertanen ist. Die Union | |
zielt auf alle Errungenschaften, die in den antirassistischen Kämpfen um | |
Inklusion, Gleichheit und die Demokratisierung der Migrationsgesellschaft | |
erstritten wurden. | |
Aber auch SPD und Grüne tummeln sich auf diesem Feld. Ein Mehrpunkteplan | |
folgt dem nächsten, um sich nicht dem Vorwurf der Untätigkeit auszusetzen | |
und keine Koalition unmöglich zu machen. SPD und Grüne verweisen darauf, | |
dass die Vorhaben von Union und AfD nicht zielführend seien, dass sie Hand | |
anlegten an das demokratische und rechtsstaatliche Fundament Deutschlands | |
und Europas und dass sie den Bedürfnissen von Wirtschaft und Demografie | |
nicht Rechnung trügen. | |
So weit so richtig. Doch im Grunde – so hart muss es gesagt werden – | |
stimmen sie der Behauptung der AfD und der Union zu, Migration sei ein | |
Problem, sei Quelle gesellschaftlicher Unsicherheit. SPD und Grüne träumen | |
den alten Traum der Migrationssteuerung – dass also die Politik an | |
migrationspolitischen Stellschrauben drehen könne, um „gute Migration“ zu | |
fördern und „schlechte Migration“ zu reduzieren. | |
## Migrationskriterien bilden Sockel für rechte Spaltung | |
Ihre Verteidigung der einschneidenden Maßnahmen der Reform des Gemeinsamen | |
Europäischen Asylsystems (GEAS) zielt darauf ab, die Regulierung von | |
Migration an die Außengrenzen zu verlagern. Genau diese Politik wurde in | |
der EU bereits seit den 2000er-Jahren versucht und hat die lange Krise der | |
europäischen Migrationspolitik verursacht. | |
Die Einigkeit scheint also groß zu sein. Migration ist ein Problem, das | |
gelöst werden muss. Während die einen sie verunglimpfen, weisen die anderen | |
auf ihre Komplexität hin. Es brauche bessere Instrumente, um Migration zu | |
steuern und zu bewältigen. Es brauche feinere Unterscheidungen, um | |
gezielter eingreifen zu können. Doch schon jetzt gibt es zahlreiche | |
rechtliche Unterscheidungen und Statusgruppen. Allein die in Deutschland | |
lebende Bevölkerung ist vielfach in unterschiedliche Rechtsstatus, von der | |
Duldung bis zur vollen Staatsbürgerschaft, aufgeteilt. | |
Selbstverständlich ließe sich die Migration noch weiter unterteilen, in | |
gute und schlechte Ausländer, in Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen, in | |
subsidiär Geschützte und „high-skilled migrants“, in weibliche | |
Arbeitsmigration und queere Flucht, in Flucht aus dem Globalen Süden und | |
Migration aus Asien, in Migrant:innen erster, zweiter, dritter und | |
vierter Generation. Doch was wäre damit gewonnen? | |
Jede Unterteilung muss Kriterien benennen und begründen, warum aus ihnen | |
abgeleitet werden kann, der jeweiligen Gruppe bestimmte Rechte zu- oder | |
abzusprechen. Schon jetzt dienen Herkunft, Ausbildung, Migrationswege et | |
cetera als Kriterien dieser Art. Sie alle bilden jedoch den Sockel, auf dem | |
[1][rechte Kräfte immer wieder aufbauen, um die Gesellschaft zu spalten]. | |
## Migration ist so komplex wie Gesellschaft | |
Seit es Kämpfe um Demokratie gibt, gehört es zu ihrem Standardrepertoire, | |
bestehende Ungleichheiten und Differenzen in Ressentiments zu verwandeln. | |
Von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts über die Emanzipation der | |
Jüdinnen und Juden, die Durchsetzung von Arbeitsrechten bis hin zur | |
[2][Gleichstellung der Geschlechter – immer wieder haben rechte Kräfte auf | |
die Ausweitungen demokratischer Teilhabe mit der Mobilisierung solcher | |
Ressentiments geantwortet]. | |
Gescheitert aber sind sie immer dann, wenn auf der Gleichheit aller beharrt | |
wurde und man sich nicht spalten ließ. Die Reaktion von SPD und Grünen auf | |
den migrationspolitischen Schulterschluss von Union und AfD wirkt deshalb | |
so schwach, weil sie diesen Grundsatz missachten. Sie schlagen lediglich | |
vor, steuerungspolitisch zu optimieren, was bisher nicht funktioniert hat. | |
Eine andere Prämisse ist notwendig, um den Kräften des Nationalismus etwas | |
entgegenzusetzen: Demokratie und Migration sind einander nicht äußerlich. | |
Migration ist so komplex wie Gesellschaft. Die demokratische Errungenschaft | |
ist, diese Komplexität bezüglich der Rechte radikal zu vereinfachen: | |
gleiche Rechte unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, | |
religiöser Weltanschauung et cetera. | |
Dieser universelle Anspruch muss immer wieder neu durchgesetzt werden. | |
Heute geht es um die Demokratisierung der Migrationsgesellschaft – als | |
Gesellschaft aller, unabhängig von ihrer Herkunft. | |
Eine demokratische Migrationspolitik geht davon aus, dass alle, die von | |
einer Politik betroffen sind, auch bei ihrer Gestaltung mitreden sollen. | |
Sie fängt also dort an, wo Menschen- und Bürgerrechte nicht bloß als | |
hoheitliche Zugeständnisse verstanden werden. Ihr Horizont aber ist es, | |
alle Betroffenen zu Teilhabenden an den Entscheidungen darüber zu machen, | |
wie das Zusammenleben organisiert ist und wer wo und wie zusammenlebt. Das | |
beginnt bei dem Wissen um die schlichte historische Realität der | |
Migrationsgesellschaft Deutschland und entfaltet sich darin, dass die | |
Migrationsbewegungen aus kommenden Bürger:innen bestehen. | |
Eine demokratische Migrationspolitik versucht also, Institutionen der | |
kollektiven Aushandlung und Entscheidungsfindung über bestehende Grenzen | |
und Ungleichheiten hinweg zu etablieren. Weit über die Formen der | |
politischen Repräsentation und des passiven und aktiven Wahlrechts hinaus | |
schließt dies die Infrastrukturen der sozialen Reproduktion ein. | |
Migrationsgesellschaft findet in den zentralen Parametern der | |
Daseinsvorsorge statt: wie wir wohnen, arbeiten, gesund bleiben, uns | |
pflegen und bilden. Hier wird sie ausgehandelt und hier beginnt ihre | |
Demokratisierung. | |
Das ist keine Utopie. Die europäische Staatsbürgerschaft ist ein Beispiel | |
dafür, wie eine graduelle Öffnung der Demokratie für ehemalige | |
Migrant:innen aus europäischen Ländern möglich ist. Dies ging einher mit | |
der Abschaffung der Binnengrenzen und der Entstehung europäischer | |
demokratischer Institutionen und Verfahren. | |
Ist es wirklich ein Zufall, dass die Gefährdung dieser Errungenschaften | |
heute mit dem Angriff auf die Migrationsgesellschaften in ganz Europa | |
verbunden ist? Anstatt die lange bestehende Realität der | |
Migrationsgesellschaft zu verleugnen und zu bekämpfen, gilt es, eine neue | |
Form der Bürgerschaft in Europa anzuvisieren. Die Alternative dazu ist, das | |
zeichnet sich global und europäisch immer deutlicher ab, eine neue Version | |
des Grauens, das Europa und die Welt schon einmal verschlungen hat. | |
12 Feb 2025 | |
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