# taz.de -- Forscher über Einwanderungspolitik: „Migration gilt als Verliere… | |
> Der Wahlkampf war schrill. Doch dass sich etwas ändern muss, sagen auch | |
> Migrationsforscherin Naika Foroutan und Politologe Wolfgang Schroeder. | |
Bild: Naika Foroutan und Wolfgang Schroeder | |
taz: Im Wahlkampf haben Union und SPD konkurriert, wer Menschen härter | |
zurückweist und konsequenter abschiebt. War das nötig? | |
Wolfgang Schroeder: Nein, das war unnötig. Die zerbrochene Ampelregierung | |
hat viele Restriktionen eingeführt. Sie hat es geschafft, Migration mit dem | |
Geas-Abkommen europäisch zu regeln. Bei sachlicher Betrachtung hätte man | |
sagen können: Wir konzentrieren uns im Wahlkampf auf Wirtschafts- und | |
Sozialpolitik. Aber nach den Attentaten in Magdeburg und Aschaffenburg hieß | |
es: Die Bevölkerung will dieses Thema. Dabei ist es ein toxisches Thema, | |
von dem vor allem die AfD profitiert. | |
Naika Foroutan: Anfang Dezember war Wirtschaft laut Umfragen noch ganz klar | |
das wichtigste Thema für die Bevölkerung. Mit Aschaffenburg und München | |
wurde Migration neben der Wirtschaftsfrage zur zentralen Sorge der | |
Menschen. Haben die Attentate die Stimmung gekippt? Mit Sicherheit. Aber | |
die politische Entscheidung, Migration zum zentralen Thema zu machen, hält | |
es ganz oben im Sorgenspektrum. Wir wissen aus der Wahlforschung, dass die | |
von Parteien gesetzten Themen die Bevölkerung framen können. [1][Klima | |
spielte zum Beispiel aktuell im Wahlkampf kaum eine Rolle] – obwohl es ein | |
massives Problem bleibt. | |
Schroeder: Hinzu kommt: Wenn Parteien diese aufgewühlte Stimmung aufnehmen, | |
dann müssen sie auch Lösungen bieten. Friedrich Merz hat aber durch seine | |
Kompromisslosigkeit gegenüber SPD und Grünen den Weg zu einer gemeinsamen | |
Lösung versperrt. | |
taz: Herr Schroeder, hat die gesellschaftliche Linke Fehler in der | |
Migrations- und Asylpolitik gemacht? | |
Schroeder: Die progressiven Kräfte sollten bestimmte Denkblockaden | |
überwinden. Wenn Konservative sagen „Wir brauchen eine Obergrenze von | |
200.000 Asylbewerbern“, ist es kurzschlüssig, dies mit dem Hinweis auf den | |
200.001sten Asylbewerber moralisch rigoros abzulehnen und für undenkbar zu | |
erklären. Es führt in eine Sackgasse, Grundprinzipien des Universalismus | |
gegen den Utilitarismus zu setzen. Bei einer Demokratiekonferenz hat eine | |
Kollegin kürzlich behauptet, dass Arbeitskräftezuwanderung utilitaristisch | |
und damit der Einstieg in den Rechtsextremismus sei. Mit solchen Thesen ist | |
es schwierig, realitätstüchtige Migrationskonzepte zu entwickeln. | |
taz: Brauchen wir eine Begrenzung von Migration? | |
Schroeder: Ja, aber nicht so, wie es gerade geschieht. Es ergibt keinen | |
Sinn, das im Wahlkampf zu thematisieren, wenn man keine strukturell | |
vernünftigen und praktikablen Antworten hat. Damit vermehrt man nur | |
Missgunst und Misstrauen in dieses System. Wir brauchen Vertrauen. Insofern | |
müssen die politischen Akteure überlegen, wie sie Migration ohne Affekte | |
und großes gesellschaftliches Palaver bearbeiten. | |
taz: Frau Foroutan, brauchen wir eine Begrenzung von Migration? | |
Foroutan: Ich bin für eine Steuerung, für transparente Zahlen. Und für | |
Planbarkeit. Falsch finde ich, was Merz suggeriert: Niemand kommt mehr | |
rein, die Grenzen werden dicht gemacht, dann haben wir das Problem im | |
Griff. Das ist ein Trugschluss. Denn wir brauchen aus demografischen und | |
wirtschaftlichen Gründen mindestens 400.000 Eingewanderte pro Jahr netto. | |
Migration als Ganzes – auch wenn Merz es auf irreguläre Migration | |
einschränkt – wird aktuell als Bedrohung wahrgenommen. | |
Diese Lesart hat alle politischen und humanitären Sichtweisen verdrängt. | |
Interessant ist: Die Ampel hat zwar scharfe Restriktionen durchgesetzt, sie | |
war aber auch die Regierung mit der vergleichsweise progressivsten | |
Migrationspolitik. Es gab eindeutige Verbesserungen wie das | |
Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Chancenaufenthaltsrecht, die | |
Erleichterungen bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, die | |
Erleichterungen bei Visa und die Reform der Staatsbürgerschaft. Da ist viel | |
umgesetzt worden, was vorher jahrzehntelang unmöglich war. Die Ampel hat | |
das Progressive aber eher versteckt. | |
taz: Die Ampel-Parteien haben sich nicht getraut, Fortschritte offensiv zu | |
verkaufen? | |
Foroutan: Ja, weil Migration als Verliererthema gilt. Olaf Scholz hat sich | |
mit dem Satz „Wir werden in großem Stil abschieben“ als Abschiebekanzler | |
inszeniert. Die reale Politik, die er gemacht hat, war produktiver und | |
progressiver. Besonders deutlich wird das an den Migrationsabkommen, die | |
mit Ländern wie Indien, Kenia, Georgien, Usbekistan und mehr geschlossen | |
wurden. Das sind eigentlich Anwerbeabkommen für mehr Arbeits- und | |
Fachkräfte, bei denen es auch um den Ausbau regulärer Zugangswege geht. Sie | |
wurden aber vorrangig als Rückführungsabkommen verpackt. | |
taz: Die deutsche Migrationspolitik ist besser als ihr Ruf? | |
Foroutan: Die Ampel hat einiges getan. Trotzdem stolpert Deutschland | |
migrationspolitisch seit Jahren den Ereignissen hinterher. Deutschland | |
steht bei der Zuwanderung in absoluten Zahlen inzwischen an zweiter Stelle | |
hinter den USA. Wir sind ein zentraler Migrationsakteur weltweit | |
geworden. Aber wir planen Migration politisch nicht als Zukunftsstrategie – | |
sondern immer nur als Abwehrfphantasie. Wir haben immer noch kein | |
Migrationsministerium. Migrationsfragen werden vorrangig aus dem | |
Innenministerium gesteuert, das vor allem mit Sicherheitsfragen beschäftigt | |
ist. | |
taz: Viele klagen, dass die Integration in Deutschland nicht effektiv genug | |
läuft. Stimmt das? | |
Schroeder: Im internationalen Vergleich steht Deutschland | |
integrationspolitisch bei vielen Indikatoren sehr gut da. Es gibt aber | |
offenkundige Mängel und Überlastung. 30 Prozent der Kommunen klagen, dass | |
Integration sie überlastet. Das kann man nicht ignorieren. Zumal der | |
Eindruck entstanden ist, dass dies für alle Kommunen gilt – was nicht der | |
Fall ist. Vieles, worüber wir sprechen, ist Behördenversagen, ist | |
Steuerungsversagen, ist Staatsversagen. Die Bevölkerung ist massiv | |
gewachsen. Die Prognosen vor gut 20 Jahren gingen von 78 Millionen | |
Bewohnern aus. Wir sind jetzt mehr als 84 Millionen. Die Infrastruktur ist | |
aber nicht nur nicht mitgewachsen, sie hat sich qualitativ und quantitativ | |
verschlechtert. Das ist ein Ressourcenproblem. Wir haben unzureichende | |
Infrastruktur für diejenigen, die schon immer hier gelebt haben. Und wir | |
haben eine unzureichende Infrastruktur für die, die dazukommen sind. Wir | |
haben also vielerorts einen Mangel an Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern | |
… | |
Foroutan: … Schwimmbädern, Wohnungen, psychosozialer Versorgung … | |
Schroeder: Und das sorgt für die explosive Konkurrenz zwischen den Gruppen. | |
Foroutan: Der Strukturabbau hat ja schon 2008 mit der Austeritätspolitik | |
eingesetzt. Das fällt uns jetzt auf die Füße. | |
taz: Die Stadt Schwäbisch Gmünd hat nach 2016 aus freien Stücken viele | |
Geflüchtete aufgenommen. Jetzt sagen Bürgermeister und Schulleiterin: Wir | |
schaffen das nicht mehr. Wir brauchen eine Pause. Der Bürgermeister fordert | |
einen zweijährigen Aufnahmestopp. Ist das eine Lösung? | |
Schroeder: Wir brauchen Begrenzung. Die gesellschaftliche Stimmung ist | |
überhitzt. Die reale Überforderung an manchen Orten kommt hinzu. Wir wissen | |
aus Studien, dass die Menschen, die eine gewisse Migrationsskepsis haben, | |
sich von den demokratischen Parteien nicht mehr verstanden fühlen und sich | |
abwenden. Darauf müssen wir klug reagieren. Naika, du betonst: Unser | |
Wirtschaftswachstum baut maßgeblich auf Zuwanderung auf. Das ist richtig. | |
Aber gleichzeitig haben wir auch eine Entkopplung zwischen Bürgern und | |
demokratischen Parteien und eine Erosion unseres politischen Systems. Wir | |
müssen die Migrationsfrage entpolitisieren, aber klug steuern und | |
gleichzeitig auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen. Das ist eine | |
schwierige Gratwanderung. | |
Foroutan: Aber ein zweijähriger Zuwanderungsstopp wäre doch keine Lösung. | |
Deutschland braucht 400.000 Einwanderungen netto pro Jahr. Dafür brauchen | |
wir auch die Menschen, die über den Asylweg, den Fluchtstatus hierher | |
gekommen sind. Würden wir die vorher selektieren, wären wir noch weiter von | |
der Anzahl der Arbeitskräfte entfernt, die wir brauchen. Von den Männern | |
aus Syrien, die 2015/2016 gekommen sind, sind 80 Prozent | |
sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Ein temporärer | |
Zuwanderungsstopp könnte vielleicht funktionieren, wenn es eine andere | |
funktionierende migrationspolitische Bahn gäbe, wie zum Beispiel in Kanada. | |
Was heißt das konkret? | |
Foroutan: Kanada hat Kontingentierungen. Die werden jeweils für drei Jahre | |
berechnet, und dann können entsprechend viele Menschen einwandern. Mein | |
Cousin zum Beispiel aus Iran, der nach Kanada will, sieht dann: Er steht | |
auf Platz 1,2 Millionen. Er kann also tracken, dass sein Antrag in etwa | |
in drei Jahren und einem Monat angenommen wird. Diese Planbarkeit nimmt | |
auch den Migrationsdruck raus. Das alles hat Deutschland nicht. Deswegen | |
ist hierzulande auch der Asyldruck so stark. Es gab in den letzten Jahren | |
außer Asyl nur sehr eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten für Menschen aus | |
Drittstaaten. Es ist extrem kompliziert aus einem Drittstaat nach | |
Deutschland zu kommen. Auch qualifizierte Fachkräfte scheitern an | |
Bürokratie, Visavergabe, mangelndem Personal. | |
taz: Die Mitte-links-Parteien lehnen restriktive Migrationsmaßnahmen wie | |
Grenzkontrollen ab. Dann steigt der Druck, sie knicken ein. Der Eindruck | |
entsteht, dass Mitte-links sich von rechts treiben lässt, zu spät reagiert | |
und keinen Plan hat. Das nutzt rechten Parteien. | |
Schroeder: Das ist fatal und schädlich für Mitte-links-Parteien. Am Ende | |
setzen sie eine Politik um, die ihrer eigenen Programmatik widerspricht. | |
Sie verwickeln sich in Widersprüche, verlieren ihre Stammwählerschaft. | |
Obwohl sie getan haben, was die Mehrheit der Bevölkerung wollte, sind sie | |
am Ende schwächer als vorher. | |
Foroutan: Wir sollten die Kausalität zwischen Migration und den Erfolgen | |
radikal rechter Parteien nicht überhöhen. Das gilt vielleicht derzeit in | |
Deutschland. Aber es ist kein generelles Muster. In Schweden, Dänemark, der | |
Schweiz und Österreich hatten Rechtspopulisten schon vor der großen | |
Fluchtmigration hohe Zustimmungswerte. Ich habe den Verdacht, dass | |
scheinbar alles mit der Migrationsfrage verknüpft ist, weil wir es so | |
erzählen. Wir könnten auch genauso gut sagen: Der Strukturabbau ab 2008 hat | |
die rechten Parteien groß gemacht. | |
taz: Lässt sich der Erfolg von Trump ohne das Thema Migration erklären? | |
Foroutan: Natürlich. Trump ist als Phänomen vor allem durch die wachsende | |
Ungleichheit in den USA zu erklären. Der US-amerikanische | |
Politikwissenschaftler Mark Lilla hat vor acht Jahren argumentiert, dass | |
Trump die Wahl 2016 gewonnen hat, weil die Demokraten zu viel über Gendern | |
und Minderheiten und zu wenig über soziale Themen gesprochen haben. Da | |
wurde dann „Wokeness“ verantwortlich gemacht. Man sieht, wie selektiv das | |
ist – als ob Frauen- und Minderheitenrechte nicht mit sozialen Themen | |
zusammenhängen würden. Eine kulturelle Kampferzählung wurde ins Feld | |
geführt, um zu emotionalisieren und vom Strukturabbau abzulenken. | |
Schroeder: Migration macht Gesellschaften heterogener und | |
unübersichtlicher. Das ist auch ein Grund, warum die AfD-Parolen wirken. | |
Sie bedienen das Gefühl, man würde für Migranten nur zahlen und nie etwas | |
zurückbekommen. | |
Foroutan: Muss die Politik auf jede gesellschaftliche Stimmung reagieren? | |
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung über Jahrhunderte dachte, die Juden | |
töteten Kinder und gossen das Blut in ihre Matzen – heißt das dann, dass | |
die Politik die „Sorgen“ der Bevölkerung ernst nehmen muss? Oder muss sie | |
Ressentiments, Rassismus und Antisemitismus korrigieren? Es ist Populismus, | |
immer zu spiegeln, was die Mehrheit hören will – oder gar es anzufachen. | |
Dabei kommt die Politik der AfD heraus. Leider auch der populistische | |
Schwenk von Friedrich Merz. Der behauptet, er mache jetzt mal die Grenzen | |
dicht, obwohl das weder politisch, noch rechtlich, noch infrastrukturell | |
machbar ist. Nur weil es ein Teil der Wähler hören will. | |
taz: Und wie kommen wir aus dieser Populismusfalle heraus? | |
Foroutan: Wir müssen die Migrationsfrage stärker technokratisch und | |
sozialgestalterisch besprechen. Sie wird seit Jahren viel zu emotional | |
aufgeladen. Von allen Seiten, auch von jenen, die den menschenrechtlichen | |
Aspekt betonen. Das codiert Migration zu einer Null-eins-Frage. | |
taz: Es gibt nur dafür oder dagegen? | |
Foroutan: Genau. [2][Die Sache ist aber viel komplexer.] Empirisch | |
betrachtet weist viel auf eine Verknappung von Migration hin. Das mag | |
vielleicht derzeit niemand glauben, es stimmt aber. Vier Prozent der | |
Weltbevölkerung sind Migranten, 96 Prozent leben und sterben dort, wo sie | |
geboren wurden. Es ist also eine kleine Gruppe. Es ist möglich, dass es – | |
wenn es zu einer Verknappung von Arbeitsressourcen kommt – zu einer | |
stärkeren weltweiten Konkurrenz um Migrant:innen kommt. | |
Schroeder: Mit dem Bild läufst du Gefahr, das Problem zu neutralisieren. Es | |
gibt Schulklassen mit 70 Prozent Kindern aus Zuwanderungsfamilien und ohne | |
Schulsozialarbeiter. Da nutzt es nichts, darauf hinzuweisen, dass sich | |
globale Migration in Zukunft verändert. | |
Foroutan: Aber ohne Migration gibt es auch nicht mehr genug | |
Schulsozialarbeiter, für Pflegekräfte gilt das sowieso. Der Bedarf an | |
migrantischen Arbeitskräften ist weltweit enorm groß. Südkorea und Japan, | |
die jahrelang eine extrem restriktive Migrationspolitik gefahren haben, | |
wandeln sich langsam zu Anwerbenationen. Der ambitionierte Golffuturismus | |
braucht auch jede Menge migrantische Arbeitskräfte. Oder das Beispiel | |
Brexit: Danach fehlte den Briten die polnische Zuwanderung, die Regale in | |
den Supermärkten waren leer, weil die Waren nicht mehr transportiert | |
wurden. Die britische Regierung hat Polen gefragt, ob sie zeitweise wieder | |
in Großbritannien arbeiten würden – ohne Erfolg. Polen ist kein | |
Auswanderungsland mehr. Das sind dynamische Prozesse. In Berlin fährt die | |
U-Bahn seltener. Nicht mal in diesem Sektor, in dem wirklich schnell | |
ausgebildet werden kann, sind genug Arbeitskräfte vorhanden. | |
Schroeder: Wir brauchen Migranten als Arbeitskräfte. Das ist die | |
sachlich-fachliche Ebene. Aber wir haben auch noch die politisch-kulturelle | |
Ebene, wo es Widerstände gibt. Und es gibt ein gefährdetes politisches | |
System, das auf dem Hintergrund dieser schwierigen Gemengelage enorm in die | |
Defensive gekommen ist. | |
Foroutan: Die Gefahr, dass Demokratien wegen des toxischen | |
Migrationsdiskurses kollabieren, sehe ich. Sie werden aber | |
volkswirtschaftlich kollabieren, wenn es keine Migration mehr gäbe oder | |
eine massive Einschränkung. | |
taz: Frau Foroutan, in einem Papier für das Progressive Zentrum fordern Sie | |
in drei Jahren eine Zuwanderung von 4,5 Millionen Menschen. Ist Deutschland | |
derzeit bereit dafür? | |
Foroutan: Das ist die Bruttomigration, die man braucht, wenn 400.000 | |
Menschen jährlich bleiben sollen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute sagen: | |
Wenn weniger kommen, haben wir ein veritables Problem. | |
Schroeder: Ich bin skeptisch. Die gefühlte Lage der Republik hat sich in | |
den letzten zehn Jahren dramatisch verschlechtert. 2015 fanden nur 20 | |
Prozent der Bevölkerung, dass es zu viele Migranten gibt, jetzt sind es 65 | |
Prozent. Die Ausgangslage ist denkbar schlecht. | |
taz: Wie kann man die verbessern? | |
Schroeder: Positiv beeinflussen kann man diese ablehnende Stimmung mit der | |
schnellen Integration in Arbeit und mit einer Modernisierung der | |
Verwaltung, die ja die Voraussetzung für eine planende und | |
vertrauenerweckende Migrationspolitik ist. Alle, die ins Land kommen, | |
sollten sofort arbeiten dürfen. Statt langwieriger Sprachkurse müssten mehr | |
Menschen die Sprache auch bei der Arbeit lernen. Kooperative Gesellschaften | |
wie unsere funktionieren über Arbeit. Um die Akzeptanz von Migration zu | |
erhöhen, muss zudem die Verwaltung besser funktionieren. Eine Studie von | |
Bertelsmann zeigt, dass die Ausländerbehörden in den Rathäusern häufig das | |
letzte Rad am Wagen sind, was Personal und technologische Ausrüstung | |
angeht. Dabei müssten die Ausländerbehörden zu den wichtigsten Behörden in | |
den Rathäusern zählen. | |
Foroutan: In den letzten zehn Jahren ist das Gefühl entstanden, dass es | |
keine Form von Steuerung bei Migration gibt. Die progressive Antwort darauf | |
ist nicht Grenzen zu, sondern Planung. Das beinhaltet durchaus auch harte | |
Maßnahmen. Aber wenn es nicht einmal genug Personal gibt, um Abschiebungen | |
durchzuführen, wird man auch diesen Mangel nicht ohne Migration beheben. | |
Schroeder: Vielleicht brauchen wir jetzt eher konkrete Lösungen als große | |
Absichtserklärungen. | |
taz: Was muss die nächste Bundesregierung in Bezug auf Migration tun? | |
Schroeder: Wir brauchen als Erstes eine dramatische rhetorische Abrüstung. | |
Migration darf nicht weiter zum Sündenbock werden, weil parallel | |
Zuwanderung zunimmt und Infrastruktur zerfällt. Wir brauchen einen | |
historischen Kompromiss, der die beiden zentralen Themen – Zuwanderung und | |
staatliche Investitionsfähigkeit – in der politischen Mitte neu aufstellt: | |
Dabei könnte die Zuwanderung auch genutzt werden, um den Staatsapparat | |
weiter zu modernisieren und zu professionalisieren. Dies setzt aber voraus, | |
dass die staatliche Investitionsfähigkeit verbessert wird, also die | |
Schuldenbremse reformiert wird, [3][um Integration und Infrastruktur zu | |
verbessern]. Hinsichtlich der Zuwanderung wird dies vermutlich nur | |
gelingen, wenn man mehr Zugänge im ökonomischen Bereich eröffnet und die | |
illegale Zuwanderung begrenzt. | |
Foroutan: Bei uns gilt aber immer noch das Grundrecht auf Asyl. Das wird | |
hier gerade untergraben, weil so getan wird, als ob Flüchtlinge illegale | |
Zuwanderer seien. Laut Grundgesetz und Genfer Flüchtlingskonvention sind | |
sie aber legitime Schutzempfänger, wenn sie bedroht sind. Das betrifft in | |
Deutschland etwa 70 Prozent – laut bereinigter Schutzquote. Wir müssen für | |
die Geflüchteten, die hier sind, stärker den Spurwechsel Richtung | |
Arbeitsmigration ermöglichen und parallel neue Migrationswege öffnen. Wir | |
sollten durch den Druck der AfD nicht weiter in eine planlose und | |
populistische Migrationspolitik bei immer schlechter werdender | |
Infrastruktur stolpern. | |
22 Feb 2025 | |
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