# taz.de -- Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde: Geschichten vom Gehen und Blei… | |
> Eine neue Audiotour in der Erinnerungsstätte des ehemaligen | |
> DDR-Notaufnahmelagers Marienfelde verknüpft historische und aktuelle | |
> Fluchterfahrungen. | |
Bild: Ein Fenster in die Vergangenheit: Kinder betrachten historische Aufnahmen… | |
Berlin taz | Wilfried Seiring floh 1957 als junger Mann aus der DDR nach | |
Westberlin und fand für drei Wochen Zuflucht im Notaufnahmelager | |
Marienfelde. Knapp 70 Jahre später ist seine Stimme gleich zu Beginn eines | |
neuen Audiorundgangs durch die heutige Erinnerungsstätte zu hören: „In | |
meinem Koffer waren ein paar Bücher, Unterwäsche, Strümpfe, viel Hoffnung | |
und ein bisschen Angst“, sagt er da. | |
Die neue Tour „Flucht nach Deutschland“ durch [1][die Dauerausstellung der | |
Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde] verbindet Fluchtgeschichten | |
aus der DDR – wie die von Seiring, dessen Koffer in der Schau zu sehen ist | |
– mit [2][aktuellen Erfahrungen von Geflüchteten in Deutschland]. Es gibt | |
13 Hörstationen, zusätzliche Exponate sowie Videos von | |
Protagonist*innen. „Die gewanderten Menschen damals und heute verdienen | |
unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung“, erklärte Museumsleiterin Bettina | |
Effner bei der feierlichen Eröffnung am vergangenen Samstag. | |
„Die Erinnerungsstätte ist ein besonderer Ort der Migration, wo Besuchende | |
einer Vielfalt von Fluchtgeschichten aus Vergangenheit und Gegenwart | |
begegnen können“, sagt Pia Eiringhaus zur taz. Sie ist eine von zwei | |
Kuratorinnen der [3][Stiftung Berliner Mauer, die die Erinnerungsstätte | |
betreibt]. Ende 2023 haben sie begonnen, die neue Tour als | |
„Ausstellungsintervention“ zu konzipieren. Das Drehbuch wurde mit neun | |
Betroffenen und Aktivist*innen erarbeitet. | |
Die Intervention ist laut Eiringhaus ein Versuch, das Notaufnahmelager und | |
die deutsch-deutschen Fluchtgeschichten stärker mit Erfahrungen der | |
Gegenwart zu verbinden und die zahlreichen Facetten der heutigen diversen | |
Gesellschaft einzubeziehen: „Nun finden auch Menschen mit Fluchterfahrung | |
aus anderen Kontinenten, die Diskriminierung und Rassismus erfahren haben, | |
ihren Platz. Sie haben selbst die Tour mitgestaltet und erhalten eine | |
Möglichkeit zur kulturellen Teilhabe.“ | |
## Nach wie vor Übergangswohnheim auf dem Gelände | |
Das denkmalgeschützte ehemalige Notaufnahmelager Marienfelde im Süden von | |
Berlin ist seit seiner Einrichtung im Jahr 1953 stummer Zeuge der | |
Geschichten von Flucht und Ankommen – wie auch der im Gründungsjahr | |
gepflanzte Baum vor dem Eingang, unter dessen Krone unzählige Menschen | |
gelacht, geweint oder gebangt haben. | |
Noch immer gibt es auf dem Gelände ein Übergangswohnheim für Geflüchtete. | |
„Wir wollten diese Erfahrungen miteinander in Bezug setzen“, so Eiringhaus. | |
Mittlerweile wurde das Museum mehr für die Nachbarschaft und die Berliner | |
Gesellschaft geöffnet; Menschen mit Fluchtgeschichte wurden ermutigt, an | |
Angeboten wie dem Sprachcafé oder an Tandem-Führungen teilzunehmen. | |
„Es ist nicht leicht, seiner eigenen Heimat den Rücken zu kehren und | |
Freunde und Familie hinter sich zu lassen“, sagt Silin Abdula. Sie ist eine | |
von drei Sprecher*innen, die durch die Audiotour führen und sich auch in | |
Videoclips vorstellen. „Im Wohnheim leben heute rund 750 Menschen, die aus | |
Krisengebieten weltweit geflohen sind. Ich bin auch eine von ihnen“, so die | |
16-jährige Syrerin, die seit zehn Jahren in der Unterkunft lebt. | |
„Die Erinnerungsstätte ist mein zweites Zuhause“, erzählt Abdula im Video. | |
„Ich habe hier fast mein ganzes Leben verbracht, viele Freunde hier | |
gefunden“, sagt sie in der Audiostation im Themenraum „Alltag“. | |
## Gemeinschaftsgärten als heilende Komponente | |
Dort steht am Tag der Eröffnung Anuscheh Amir-Khalili. Sie ist Teil der | |
Gruppe, die den neuen Rundgang erstellt hat. Außerdem hat Amir-Khalili im | |
Übergangswohnheim ein Gartenprojekt mit aufgebaut. „Gemeinschaftsgärten | |
haben eine heilende Komponente“, sagt sie. „Mit den Händen in der Erde | |
sein, erinnern, riechen, darüber ins Gespräch kommen. Durchs Gärtnern kann | |
man in Austausch kommen, du bist draußen, du kannst frei atmen und kommst | |
auf andere Gedanken.“ Eine Kollegin ergänzt, dass Gemeinschaftsgärten im | |
Zusammenhang von Migration und Flucht „eine wichtige Verbindung zwischen | |
Herkunftsland und Ankunftsland herstellen“. | |
Noor Hammood kam 2015 nach Deutschland. „Ich kannte damals nur das Wort | |
‚Dankeschön‘“, sagt der Iraker heute. Und: „Es gab für mich keinen an… | |
Ausweg, als zu gehen.“ Doch diese Entscheidung zu treffen, sei schwer: „Sie | |
macht Angst und erfordert viel Mut. Das war für Menschen aus der DDR so und | |
ist auch heute noch so“, erklärt Hammood, der als Historiker arbeitet und | |
ebenfalls ein Sprecher der neuen Audiotour ist. | |
Doch die Unterschiede zwischen damals und heute liegen auf der Hand. Die | |
DDR-Bürger*innen galten als Deutsche, sie waren nie von Abschiebung | |
bedroht. Gleiches galt später größtenteils für die [4][Aussiedler*innen | |
aus der ehemaligen Sowjetunion]. Heute werden Grenzen verstärkt, um | |
Menschen nicht hereinzulassen. „In dem Moment, in dem eine Grenze | |
geschlossen wird, verringert sich nicht die Not der Menschen, nur ihre | |
Flucht wird gefährlicher“, heißt es dazu in der Audiotour. „Nicht die | |
Flucht gefährdet Menschenleben, sondern die Umstände, unter denen sie | |
fliehen. Damals wie heute.“ | |
Die Begriffe Flucht und Vertreibung standen im Nachkriegsdeutschland lange | |
Zeit für etwas, das den Deutschen selbst passiert ist – und deshalb | |
Anteilnahme verdient. Im Jahr 2015, als viele Geflüchtete nach Deutschland | |
kamen, begründeten gerade ältere Menschen in Deutschland damit ihr | |
Wohlwollen gegenüber den Schutzsuchenden. Heute ist davon kaum noch etwas | |
zu hören, höchstens noch im Zusammenhang mit Geflüchteten aus der Ukraine. | |
Stattdessen werden Schutzsuchende [5][stigmatisiert und ausgegrenzt], es | |
ist die Rede vom vermeintlichen „Asylmissbrauch“. | |
Warum Menschen fliehen und fliehen müssen – darum geht es in der | |
Audiostation „Gründe“ der neuen Tour. Das Wort „Fluchtgründe“ klinge … | |
allgemein, ist dort zu hören, vorgeschlagen wird stattdessen von „Gründen | |
zu gehen“ zu sprechen: „Als Flüchtling bezeichnet, fühlen sich Menschen o… | |
reduziert und abgewertet.“ Auch [6][zahlreiche Menschen aus der DDR hätten | |
den Begriff abgelehnt]: „Sie wollten frei sein, aber kein Flüchtling.“ | |
## Verlust von Familie, von Geschwistern, von Heimat | |
Auch Atefa Waseq wollte, dass ihre vier Töchter frei und sicher aufwachsen | |
können. Sie kam 2016 mit ihren Kindern aus Afghanistan nach Marienfelde: | |
„Ich habe in Afghanistan als Dozentin an einer Privatuniversität gearbeitet | |
und fast fünf Jahre mit der Bundeswehr in Masar-e Scharif“, erzählt sie der | |
taz. „Aber leider wurde Ende 2015 die Sicherheitslage immer schlimmer und | |
da ich vier Mädels habe, hatte ich große Angst, wie sie später in | |
Afghanistan aufwachsen.“ | |
Sie entschied sich, ihre Karriere aufzugeben, um ihren Töchtern ein | |
besseres Leben zu ermöglichen. „Dieser Verlust von Familie, von | |
Geschwistern, von Heimat, das ist nicht so leicht. Aber trotzdem habe ich | |
nie aufgegeben“, sagt Waseq. Inzwischen arbeitet sie als ehrenamtliche | |
Sprachmittlerin und als mobile Sozialpädagogin an Schulen. „Dieses Museum | |
hat für mich einen neuen Weg eröffnet“, schwärmt sie. „Immer wenn ich | |
hierherkomme, denke ich, ich bin zu Hause. Ich fühle mich dann nicht mehr | |
heimatlos.“ | |
Damals und heute bedeutet Flucht für die Schutzsuchenden, eine schwere | |
Entscheidung zu treffen und die Gefahren der Migrationsreise in Kauf zu | |
nehmen. Diese und weitere Gemeinsamkeiten stellt der neue digitale Rundgang | |
in den Vordergrund – und kann so „Empathie und Sensibilität für das | |
menschliche Miteinander“ stärken, wie Kuratorin Pia Eiringhaus hofft. | |
„Mit Blick [7][auf den aktuellen Diskurs] kann das dabei helfen, | |
Migrationen nicht als Ausnahmephänomen, sondern als festen Bestandteil | |
historischer Entwicklungen zu verstehen“, sagt Eiringhaus. Für sie steht | |
die Stärkung der Entscheidung des Individuums im Vordergrund. „Dieser | |
Aspekt kommt beim Reden über Flucht, Migrationen und Asyl oft zu kurz.“ | |
## Wunsch nach einem besseren Leben | |
Zur Einweihung der Tour wird dann noch ein Remake des Musikvideos „A New | |
Home“ der Kölner Band Bukahara präsentiert: „I leave this dirty place/ To | |
find myself a new home/ And if anybody wants to know/ Where I am/ Tell him/ | |
I’m gone to find myself/ A new home.“ Der Clip wurde in der | |
Erinnerungsstätte gedreht, mit Geflüchteten, Mitarbeitenden des Sprachcafés | |
und DDR-Zeitzeug*innen, die nach 1953 in Marienfelde angekommen sind. Auch | |
Wilfried Seiring ist dabei. | |
Der Wunsch nach einem besseren Leben und einer besseren Zukunft – das ist | |
wohl das, was alle Menschen miteinander verbindet, die in den vergangenen | |
mehr als 70 Jahren in Marienfelde angekommen sind. „Migration und Flucht | |
sind ein großer Teil von Deutschland“, sagte Atefa Waseq zum Abschied. | |
„Davor kann niemand die Augen verschließen.“ | |
25 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/notaufnahmelager-marienfelde/besu… | |
[2] /Situation-von-Gefluechteten-in-Berlin/!6070372 | |
[3] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/notaufnahmelager-marienfelde | |
[4] /Museum-fuer-russlanddeutsche-Geschichte/!6041045 | |
[5] /CDU-Plan-zu-Migration/!6062016 | |
[6] /Geschichte-einer-Flucht-aus-der-DDR-/!5246213 | |
[7] /Forscher-ueber-Einwanderungspolitik/!6068188 | |
## AUTOREN | |
Darius Ossami | |
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