# taz.de -- Kieztandems in Treptow-Köpenick: Ein Partner zum Ankommen | |
> Vielen Geflüchteten fällt es schwer, Anschluss an die Menschen in der | |
> Nachbarschaft zu finden. Das Projekt Kieztandem hilft dabei. Ein | |
> Vor-Ort-Besuch. | |
Bild: Projekt Kieztandem in Treptow-Köpenick: Nataliia Frolova (l.) und Johann… | |
Berlin taz | Nataliia Frolova würde gerne wieder arbeiten. Die Psychologin | |
bastelt gerade einen Vogel aus gelbem und blauem Tonpapier. „Ich bin sehr | |
patriotisch“, sagt sie. Vor drei Jahren kam Frolova aus der Ukraine nach | |
Deutschland. An diesem Nachmittag nimmt sie an einem Nachbarschaftstreff | |
des [1][Projekts Kieztandem] in Treptow-Köpenick teil. Es wird Kaffee | |
getrunken, Kuchen gegessen und für ein anstehendes Straßenfest gebastelt. | |
Obwohl sie ausgebildete Psychologin ist, wäre sie auch bereit, als Coach, | |
Beraterin oder Sozialarbeiterin zu arbeiten, sagt Frolova. Denn Abschlüsse | |
anerkennen zu lassen, ist schwierig, Deutsch lernen sowieso. Dabei helfen | |
Frolova vor allem die langen Spaziergänge, auf denen sie mit ihrer | |
Kieztandem-Partnerin quatschen kann. | |
Das Projekt Kieztandem gibt es seit 2019 in Treptow-Köpenick. Es geht dabei | |
um Integration und Anschluss in der Nachbarschaft. Dafür werden Menschen | |
mit Flucht- und Migrationserfahrung und Ehrenamtliche aus dem Bezirk | |
zusammengebracht. Meist sind es Einzelpersonen, aber auch Paare und | |
Familien nehmen teil. | |
Für ein halbes oder ganzes Jahr verbringen sie jede Woche zwei bis drei | |
Stunden miteinander. Ob die Zeit dabei für Sport, Theaterbesuche, | |
Behördengänge oder zum Puzzeln genutzt wird, spielt keine Rolle. Neben den | |
Treffen der einzelnen Tandems gibt es regelmäßig | |
Gemeinschaftsveranstaltungen mit Ausflügen, Spieleabenden oder | |
Filmvorführungen. | |
## „Das Leben ist Lernen“ | |
Für Frolova ist der Eins-zu-eins-Kontakt besonders hilfreich, um Deutsch zu | |
üben. Das kommt ihr im Unterricht des Berufssprachkurses zu kurz, sagt sie. | |
Auch Iryna, die nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen möchte, | |
findet, dass der Deutschkurs zu viele Relativpronomen und zu wenig die | |
Realität behandelt. | |
Die Ukrainerin ist eigentlich Mathematikerin und genervt vom ständigen | |
Sprachelernen. „Ich will leben, nicht lernen, lernen, lernen!“, sagt sie | |
bei einem Stück Kuchen. „Das Leben ist Lernen“, wirft Carmen, die ebenfalls | |
anonym bleiben möchte, vom anderen Ende des Tischs ein. Sie ist eine von | |
den Alteingesessenen und heute etwas aufgeregt, weil ihre neue | |
Kieztandem-Partnerin vorbeikommen soll. | |
Die Zusammenstellung der Tandems wird von den Mitarbeiterinnen des Projekts | |
sorgfältig ausgewählt. Sie lernen jede interessierte Person zunächst einmal | |
persönlich kennen. Anhand von Hobbys, Interessen oder Wünschen versuchen | |
sie, ein passendes Gegenüber zu finden. Das erste Aufeinandertreffen findet | |
zusammen mit einer Mitarbeiterin statt. | |
In den allermeisten Fällen funktionieren die Tandems gut miteinander. „Zu | |
einem Abbruch kommt es eigentlich nur, wenn jemand wegzieht oder sich | |
Termine verschieben“, sagt Projektleiterin Sophie Hollop. Manchmal | |
entstünden sogar Freundschaften und bleibe der Kontakt auch nach dem Ende | |
der Tandemzeit bestehen. Aktuell betreut das Team 27 Tandems, einige | |
weitere bahnen sich an. Aber es fehle an deutschen Ehrenamtlichen, sagt | |
Hollop. | |
## 40 Prozent der Menschen engagieren sich ehrenamtlich | |
Laut einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums engagieren sich rund 40 | |
Prozent der Menschen in Deutschland ehrenamtlich. Soziale Projekte wie das | |
Kieztandem liegen auf Platz drei der beliebtesten Ehrenämter – nach | |
Sportvereinen sowie Kultur- und Musikeinrichtungen. Knapp jede zehnte | |
engagierte Person setzt sich für Geflüchtete oder Asylsuchende ein. | |
Über die Einsatzbereiche hinweg klagen viele Organisationen über | |
Nachwuchssorgen. Verschiedene Träger berichten, dass erst durch die | |
Coronakrise mit ihren Lockdowns und später die Energiekrise samt Inflation | |
weniger Menschen mithelfen. Dabei ist besonders in Krisenzeiten | |
freiwilliges Engagement wichtig, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu | |
stärken. Für Carmen von Kieztandem in Treptow-Köpenick gab der aktuelle | |
Rechtsruck in der Politik den Ausschlag, sich ehrenamtlich für Geflüchtete | |
einzusetzen. „Wir könnten alle irgendwann Flüchtlinge sein“, sagt sie. | |
Viele der Ehrenamtlichen erführen durch persönliche Empfehlungen und durch | |
Mundpropaganda vom Projekt, erzählt Sophie Hollop. Auch über das | |
[2][Freiwilligenzentrum Sternenfischer] kommen Ehrenamtliche zu den | |
Kieztandems. Bei Sternenfischer werden Menschen beraten, wie sie sich in | |
Treptow-Köpenick am besten freiwillig engagieren können. Die | |
Neuberliner*innen wiederum werden von Hilfsstellen und Behörden an das | |
Projekt weitergeleitet. Analog zu den Fluchtbewegungen hätten zu Beginn | |
viele Syrer*innen teilgenommen, aktuell komme ein Großteil der | |
Teilnehmenden aus Afghanistan oder der Ukraine, sagt Hollop. | |
Die Mathematikerin Iryna besucht zusätzlich noch zwei Sprachcafés, um noch | |
mehr Deutsch zu üben. Ihrer 14-jährigen Tochter sei die Sprache viel | |
leichter gefallen, erzählt sie. Wenn man sie fragt, scherzt Iryna, dass sie | |
vier Kinder habe: zwei Söhne, die Tochter – und ihren Mann. | |
Er ist noch in der Ukraine. Ihre Heimat Henitschesk ist von Russland | |
besetzt. Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von der südukrainischen Stadt am | |
Asowschen Meer. Vom Garten aus kann man das Wasser sehen, im Winter sogar | |
den Sonnenuntergang. Im Garten hat die Familie Granatäpfel und Gemüse | |
angebaut. Ein Foto zeigt eine riesige Tomate auf einer Küchenwaage mit 648 | |
Gramm. | |
## Leidenschaft für Blumen mit der Tandempartnerin teilen | |
Und jetzt ist Iryna in Berlin und hat nicht mal einen Balkon. Die | |
Fensterbänke seien zu schmal für Blumentöpfe, und durch die hohen Bäume in | |
der Straße sei es für viele Pflanzen in der Wohnung zu dunkel, sagt sie. | |
Aber immerhin kann sie ihre Leidenschaft für Blumen mit ihrer | |
Tandempartnerin teilen. Weil die schon älter ist und nicht mehr gut genug | |
zu Fuß für lange Spaziergänge, treffen sie sich bei ihr in der Wohnung. | |
Auch, weil sie zwei Balkone hat. „Letzte Woche haben wir Samen in die | |
Blumenkästen gesteckt.“ | |
Zum Nachbarschaftsnachmittag in Treptow-Köpenick sind dieses Mal einige | |
junge Leute gekommen. Sonst seien es vor allem Senior*innen, sagt eine | |
Mitarbeiterin. Auch ein paar Kinder sitzen am Basteltisch und schneiden | |
Wimpel für ein anstehendes Straßenfest aus oder basteln Vögel wie Nataliia | |
Frolova. | |
Während Frolova malt, ausschneidet und aufklebt, beschreibt sie, wie ihr | |
die vielen ähnlich klingenden Wörter das Deutschlernen erschweren: | |
„Ausstellen, anstellen, abstellen“, listet sie Beispiele auf. „Einerseits | |
ist es wichtig, Sprache als Tradition zu bewahren. Andererseits hätte ich | |
gerne einfachere Wörter, Abkürzungen und keine Artikel.“ | |
## „Bürokratie ist eine deutsche Tradition“ | |
Für die Teilnahme an Kieztandem braucht man Deutschkenntnisse Niveau A2. | |
Zwar wäre Gemeinschaft und praktische Hilfe im Alltag auch auf Englisch, | |
mit Händen und Füßen möglich, aber bei dem Projekt gehe es eben um | |
Integration und das Ankommen auf Deutsch, erklärt Mitarbeiterin Sophie | |
Hollop. | |
„Bürokratie ist eine deutsche Tradition“, sagt Nataliia Frolova, während | |
sie sich in die Anwesenheitsliste einträgt, wo man neben Namen und | |
Unterschrift auch Alter und Staatsbürgerschaft angeben muss. Das ist | |
wichtig für die Förderung, erklärt Hollop. Das Projekt will weniger eine | |
Patenschaft zwischen Deutschen und Geflüchteten sein als vielmehr ein | |
echtes Tandem: eine Beziehung auf Augenhöhe. Auf einem Tandem treten beide | |
Parteien schließlich gemeinsam in die Pedale und sehen etwas von der Welt. | |
„Es ist ja auch für mich eine Bereicherung – ich will helfen, aber ich | |
lerne ja auch was dazu“, sagt Ehrenamtlerin Carmen. Ihre Tandempartnerin | |
ist an diesem Nachmittag doch nicht gekommen. Vielleicht kam etwas | |
dazwischen, schließlich hat sie zwei kleine Kinder. Vielleicht klappt es | |
beim nächsten Mal. | |
7 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://kieztandem.de/ | |
[2] https://sternenfischer.org/ | |
## AUTOREN | |
Marie Gönnenwein | |
## TAGS | |
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