# taz.de -- Dublin-Zentrum in Deutschland: Das Modell Eisenhüttenstadt | |
> Das neu errichtete Dublin-Zentrum an der deutsch-polnischen Grenze ist | |
> das Pilotprojekt einer harten, neuen Linie in der Asylpolitik. Ob sich | |
> dieses Modell durchsetzt, bleibt offen. | |
Bild: Ehemalige Kaserne, heute Dublin-Zentrum: bietet Platz für 1.500 Asylsuch… | |
Seit Wochen schläft Khaled nachts kaum noch. Die Polizei, das wissen alle | |
in „Eisen“, wie die Erstaufnahmeeinrichtung von ihren Bewohnern genannt | |
wird, kommt in der Nacht oder am frühen Morgen. Erst am nächsten Tag merkt | |
ein Zimmernachbar vielleicht, dass jemand fehlt, sagt Khaled, der anonym | |
bleiben möchte. Oder dass jemand von einem Termin bei der Ausländerbehörde | |
nicht wiederkommt, das gebe es auch. Menschen hätten Methoden entwickelt, | |
dieser Angst entgegenzutreten: woanders übernachten, den Termin nicht | |
wahrnehmen, sich selbst etwas antun. Aber als die Polizei am Donnerstag, | |
den 3. April, frühmorgens in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt | |
eintrifft, da sind alle wach. Mindestens sechs große Polizeiwagen sind laut | |
übereinstimmender Aussagen mehrerer Bewohner:innen auf dem Gelände | |
vorgefahren. Fotos, die der taz vorliegen, zeigen außerdem einen roten | |
Reisebus, der zwischen den Polizeifahrzeugen parkt. | |
Das Ziel der Aktion: Die Polizei soll erstmals eine Sammelabschiebung von | |
Asylsuchenden durchführen, [1][die ein Dublin-Verfahren] in Polen anhängig | |
haben. Das bedeutet, dass diese Menschen bereits bei der Einreise in die EU | |
in Polen registriert wurden und Polen somit zuständig für ihren Asylantrag | |
ist. So soll verhindert werden, dass Menschen in mehreren EU-Staaten | |
gleichzeitig Asyl beantragen. Erfolgt die Abschiebung binnen sechs Monaten | |
nicht, wird Deutschland für den Asylantrag zuständig und das Verfahren | |
beginnt von vorn. Rund 229.500 Menschen haben im vergangenen Jahr, laut Pro | |
Asyl, in Deutschland einen Asylantrag gestellt. | |
Bei jedem dritten dieser Anträge wäre laut Dublin-Regelung zunächst ein | |
anderer EU-Staat für die Bearbeitung zuständig gewesen. Das System steht | |
immer wieder in der Kritik – zum einen von Menschenrechtsorganisationen, | |
die auf die oft unhaltbaren Lebensbedingungen für Geflüchtete an den | |
EU-Außengrenzen hinweisen, zum anderen von den betroffenen Grenzstaaten | |
selbst, die finanziell und bürokratisch stark überlastet sind. | |
Eisenhüttenstadt liegt direkt an der polnischen Grenze, eine halbe Stunde | |
Autofahrt vom größten Grenzübergang der Region, Frankfurt (Oder), entfernt. | |
Am Rand der ehemaligen Stahlstadt, in einer alten Kaserne, umgeben von | |
einem hohen Zaun, der in alle Richtungen mit Kameras überwacht wird, ist | |
Platz für 1.500 Asylsuchende, bevor diese in Heimen untergebracht, | |
umverteilt oder abgelehnt werden. Aktuell leben hier laut Zentraler | |
Ausländerbehörde 800 Menschen. Viele warten Monate darauf, dass ihr Antrag | |
bearbeitet wird. Sie müssen sich an- und abmelden, wenn sie | |
Eisenhüttenstadt verlassen wollen, und erhalten finanzielle Leistungen. | |
## Für 37 Personen gelten Sonderregelungen | |
Doch seit März dieses Jahres gelten, laut der Zentralen Ausländerbehörde, | |
für 37 Personen weitere Sonderregeln auf dem Gelände. Sie sind im neu | |
errichteten Dublin-Zentrum untergebracht. Ein Gebäude, eigens für Menschen | |
mit Dublin-Verfahren in Polen errichtet. Khaled ist einer von ihnen. Mit | |
seinen hageren Fingern nestelt der Anfang Zwanzigjährige eine weiße | |
Plastikkarte aus der Jeans. Darauf eine Kombination aus einem Buchstaben, | |
einer Zahl und einem großen D, für Dublin. | |
Sein Asylantrag wurde abgelehnt, weil er bereits in Polen registriert | |
wurde. Jetzt darf er Eisenhüttenstadt nicht mehr verlassen. „Die letzten | |
Wochen waren die Hölle“, sagt Khaled, „es fühlt sich an wie im Gefängnis, | |
ich warte jede Nacht darauf, dass sie mich holen. Es ist Psychoterror.“ | |
Mittagessen, das gibt es in der Unterkunft schon um 11.30 Uhr, Abendessen | |
ist um 16 Uhr, erzählt Khaled. „Das Essen ist schrecklich, aber ich kann | |
auch nichts anderes mehr kaufen. Mein Geld wurde komplett gestrichen. Nicht | |
mal eine neue Zahnbürste kann ich mir leisten.“ | |
Im vergangenen Jahr verschärfte die Ampelregierung die | |
Kürzungsmöglichkeiten im Asylbewerberleistungsgesetz. In Eisenhüttenstadt | |
wird diese Verschärfung seit März erstmalig in Brandenburg mit all ihren | |
gesetzlichen Möglichkeiten ausgeschöpft: Eine strenge Residenzpflicht, | |
beschränkt auf wenige Kilometer Radius, und die [2][Streichung von | |
finanziellen Leistungen] im Dublin-Verfahren bei jenen, die im | |
Dublin-Zentrum auf die Rückführung warten. Kombiniert mit der gesonderten | |
Unterbringung im Dublin-Zentrum soll laut Leiter der Zentralen | |
Ausländerbehörde, Olaf Jansen, das Verfahren so „erheblich gestrafft und | |
beschleunigt“ werden, so dieser in einem Interview mit dem RBB. „Das haben | |
wir so jetzt nicht beobachtet, dass das gut funktioniert hat“, sagt eine | |
Person, die in der Erstaufnahmeeinrichtung arbeitet. Im Gegenteil. | |
Das Dublin-Zentrum als Pilotprojekt der Zentralen Ausländerbehörde wird von | |
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl genauso kritisiert wie das | |
Dublin-Verfahren selbst. „Die Präsenz der Polizei ist einschüchternd. | |
Dieses Regime der Angst hat man durch diese Sondereinrichtung noch mal | |
verschärft“, sagt Karl Kopp, Europaexperte von Pro Asyl, „im Lager denkt ja | |
jeder bei so einem Einsatz: Jetzt kommen sie mich holen, egal wie das | |
eigene Verfahren wirklich ist.“ Dabei sei der Grundgedanke eines fairen | |
Asylverfahrens ja gerade, „dass diese Verfahren, auch die | |
Dublin-Regelungen, im angstfreien Zustand ohne diese Kontrolle und | |
Einschüchterung geschehen“. Die Angst, das ist laut Kopp Teil einer | |
Strategie: „Wenn von Effizienz die Rede ist, dann ist eigentlich | |
Abschreckung gemeint.“ Und die scheint zu funktionieren: | |
„Sie haben Menschen über das gesamte Gelände verfolgt“, erinnert sich | |
Khaled, der das Vorgehen der Polizei aus einem Versteck heraus beobachtet | |
hat. „Sie hatten einen dicken Stapel Akten dabei, obenauf lagen die Fotos | |
der Menschen, die sie gesucht haben, zehn vielleicht.“ Weitere Augenzeugen | |
bestätigen der taz gegenüber diese Beobachtungen. Auch in das Schutzhaus, | |
das besonders vulnerable Personengruppen beherbergt, seien Mitarbeiter der | |
Ausländerbehörde eingedrungen, berichten Anwohner:innen. Der | |
stellvertretende Pressesprecher des brandenburgischen Innenministeriums, | |
Andreas Carl, weist diesen Vorwurf im Namen der Zentralen Ausländerbehörde | |
entschieden zurück. Die Maßnahme sei geordnet verlaufen, „es wurden keine | |
Vorkommnisse festgestellt, die über das übliche Maß an Reaktionen | |
hinausgingen“, heißt es. | |
## Das Vorgehen setzt Menschen unter psychischen Stress | |
Grace, eine alleinerziehende Mutter, die selbst bereits in Polen | |
registriert wurde und anonym bleiben möchte, erinnert den Morgen anders: | |
„Es war extrem hektisch, überall rannten Menschen auf und ab.“ In das | |
Stockwerk für Frauen und Kinder, in dem sie untergebracht ist, sei die | |
Polizei zwar nicht gekommen, dafür habe sie aber die Kantine und die | |
Toiletten durchsucht und wahlweise Menschen auf dem Hof befragt. Ihre | |
Nachbarin sei in dem Chaos ohnmächtig geworden, erzählt sie. Sie selbst | |
habe ihr Baby an die Brust gepresst, damit es nicht schreit. | |
Eigentlich sollte das Dublin-Zentrum das schnelle Erfassen von Personen im | |
Abschiebeverfahren erleichtern. Stattdessen setze das Vorgehen noch viel | |
mehr Menschen enormem psychischem Stress aus und sei außerdem | |
verfassungswidrig, sagt Sarah Lincoln, Rechtsanwältin und Legal Director | |
der Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V.. Sie weist darauf hin, dass die | |
Schlafzimmer in den Unterkünften grundrechtlich geschützte Wohnräume seien. | |
„Die sind der einzige Rückzugsort, den Geflüchtete haben“, sagt sie. | |
Artikel 13 Grundgesetz bestimme, „dass Wohnräume nur bei dringender Gefahr | |
betreten werden dürfen und es für Durchsuchung einen richterlichen | |
Beschluss braucht. Man sieht an diesem Beispiel ganz gut, dass dieser | |
Wohnungsschutz gerade in Geflüchtetenunterkünften oft missachtet wird.“ | |
Man habe sich bei der Suche auf zwei Wohnhäuser sowie die Frühstückskantine | |
im Männerbereich beschränkt, erwidert die Pressestelle des | |
Innenministeriums. Gesucht habe man zehn Personen, von denen nur zwei | |
aufgefunden worden seien, sagt der stellvertrende Pressesprecher Carl: „Bei | |
der Überstellung von zwei Personen aus Eisenhüttenstadt nach Polen kann man | |
beim besten Willen nicht von einer ‚groß angelegten‘ Rückführung spreche… | |
Die taz sprach mit fünf Personen, die anonym bleiben wollen. Sie hatten | |
einen anderen Eindruck, einige von ihnen sagen, auch ihre Zimmer seien | |
durchsucht worden, obwohl sie sich nicht im Abschiebeverfahren befinden. | |
Die Polizei darf laut Aufenthaltsgesetz im Rahmen einer Abschiebung zwar | |
auch andere Räume von Dritten betreten, aber nur, wenn sie Hinweise darauf | |
hat, dass sich dort die gesuchte Person aufhält. „Keinesfalls dürfen | |
Polizei oder Sozialarbeiter vor Ort einfach pauschal alle Gebäude und Räume | |
durchsuchen“, sagt Rechtsanwältin Lincoln. | |
## Rechtliche Lage für Geflüchtete noch prekärer | |
Mit dem neuen Koalitionsvertrag wird die rechtliche Lage für Geflüchtete | |
noch prekärer. Im Asylverfahren sollen zukünftig die Geflüchteten selbst | |
die Beweislast vorbringen – bisher gilt der sogenannte | |
Untersuchungsgrundsatz, der besagt, dass das Gericht den Sachverhalt selbst | |
aufklärt und zum Beispiel Umstände, die es über das Herkunftsland weiß, | |
berücksichtigt. Künftig soll der Beibringungsgrundsatz gelten. Das | |
bedeutet, dass Geflüchtete selbst sämtliche Informationen über ihre | |
Fluchtursachen vortragen müssen. | |
Rechtsanwältin Lincoln sieht darin einen großen Nachteil für ein faires | |
Asylverfahren. Wenn der Untersuchungsgrundsatz durch den | |
Beibringungsgrundsatz ersetzt wird, hat das erhebliche Folgen für die | |
Geflüchteten. Konkret heißt das: Geflüchtete ohne guten Anwalt stehen | |
deutlich schlechter da und könnten keinen Schutzstatus bekommen, obwohl er | |
ihnen zusteht. „Das ist verfassungsrechtlich und europarechtlich | |
inakzeptabel, weil das dazu führen kann, dass man Leute ablehnt, denen in | |
ihrem Land Krieg oder politische Verfolgung droht“, sagt Lincoln. | |
Auch in den von der neuen Regierung geplanten Zurückweisungen von | |
Asylsuchenden an der Grenze sieht Lincoln einen klaren Verstoß gegen | |
Europarecht und menschenrechtliche Vorgaben. „Wer in Deutschland einen | |
Asylantrag stellt, hat ein Recht darauf, dass in einem geordneten Verfahren | |
geprüft wird, ob Deutschland zuständig ist“, sagt sie, und falls nein, | |
müsse geprüft werden, ob die Aufnahmebedingungen im zuständigen Land eine | |
Überstellung erlauben. | |
Harte Rückweisungen dürften innerhalb der EU schwer umzusetzen sein. „Die | |
Klügeren in der Koalition wissen, dass das nur im Konsens der | |
Nationalstaaten geht, sonst zerlegt man Europa“, sagt Karl Kopp, „die | |
weniger Klugen werden vielleicht mit der Polizei versuchen, ab und zu | |
einfach mal zu machen. Also: Zurückweisungen durchzuführen, bis ein Gericht | |
sie stoppt“, sagt Karl Kopp. Pro Asyl lägen bereits mehrere Berichte über | |
illegale Pushbacks zurück nach Polen vor. Er betont, dass diese Politik der | |
Abschottung mit dem Koalitionsvertrag nicht neu erfunden wurde: „Dublin ist | |
die Obsession der verschiedenen deutschen Regierungen gewesen. Und die | |
haben immer den Fokus gehabt; die Außengrenzen sollen die | |
Hauptverantwortung tragen. Das passiert vor allem auf Kosten der | |
Schutzsuchenden. Die erleben Pushbacks, Elendslager, Inhaftierungen.“ | |
## Khaled wird nach Eisenhüttenstadt gebracht | |
Sechs Tage versteckte sich Khaled in den Wäldern zwischen Polen und | |
Belarus. Nur die Klamotten am Körper, ein Handy und etwas Essen. Khaled | |
kommt aus einem afrikanischen Land im Bürgerkrieg. Geschossen wurde auf ihn | |
in Europa. Er glaubt, dass es polnische Grenzbeamte waren, deren Kugel sein | |
Bein gestreift hat. Noch immer sieht man an der Stelle eine Narbe. | |
Schlimmer seien aber die Schläge danach gewesen, erzählt er. „Sie haben | |
mich so lange geschlagen, bis ich blutete. Dann zerstörten sie mein Handy, | |
warfen mein Essen weg und fuhren mich zurück in den Wald auf die | |
belarussische Seite.“ Dort hätten belarussische Grenzbeamte ihn | |
eingesammelt und ärztlich versorgt. Beim zweiten Versuch, die Grenze zu | |
überqueren, habe er auf ein Schleuser-Auto gesetzt. Das setzte ihn kurz | |
hinter der Grenze wieder ab. Wieder wird Khaled von der polnischen Polizei | |
aufgegriffen, dieses Mal inhaftieren sie ihn für mehrere Tage auf einer | |
Polizeiwache, bevor er in ein geschlossenes Haftzentrum nahe der Grenze | |
gebracht wird. Drei Monate wird er hier bleiben. | |
„Es war wie im Knast. Zehn Männer teilten sich ein Zimmer. Die Fenster | |
waren vergittert. Ich durfte das Zimmer nur zum Essen verlassen oder um | |
eine Stunde am Tag den Computer zu benutzen. Die Messenger-Apps waren | |
darauf aber alle gesperrt. Unsere Handys wurden uns abgenommen. Viele | |
Menschen haben dort ihren Verstand verloren. Auch ich dachte, ich werde | |
hier sterben.“ Den Anwalt, den er zugeteilt bekommt, hat er kein einziges | |
Mal gesprochen. Das Eingesperrtsein habe ihn mürbe gemacht. Als er dem | |
Personal mitteilt, er würde eher freiwillig zurück in den Krieg gehen, | |
statt länger eingesperrt zu sein, lassen sie ihn gehen. Einfach so. Zu Fuß | |
läuft er Richtung Deutschland, bis zu der großen Brücke, die Deutschland | |
mit Polen verbindet. Als er den Grenzbeamten dort in die Arme läuft, bittet | |
er sofort um Asyl. Sie bringen ihn nach [3][Eisenhüttenstadt.] | |
„Wenn Leute so was erfahren haben, dann müssten sie eigentlich von der | |
Zurücküberstellung geschützt werden“, sagt Karl Kopp, dem viele Fälle | |
dieser Art bekannt sind, „das ist keine revolutionäre Forderung. So würde | |
eigentlich Rechtsstaatlichkeit aussehen.“ Und trotzdem bekommt Khaled nur | |
wenige Wochen nach seiner Einreise in Deutschland den Dublin-Bescheid | |
zugestellt. „Es fühlt sich wieder an wie im Gefängnis“, sagt er, „ich k… | |
mir zwar die Füße vertreten, aber wieder bin ich in einem permanenten | |
Angstzustand.“ | |
## Das Dublin-Zentrum scheint der Symbolpolitik zu dienen | |
Auch Grace, die junge Frau mit dem kleinen Kind, hat in Polen nach eigenen | |
Angaben Ähnliches erlebt. Im August 2024 schlägt sie sich gemeinsam mit | |
ihrem Partner durch die belarussisch-polnischen Wälder, den Säugling auf | |
dem Rücken, wie sie ihn heute noch trägt. Auch sie wird von polnischen | |
Grenzbeamten aufgegriffen und vier Monate in einem geschlossenen | |
Haftzentrum festgehalten. Ihr Asylgesuch soll sie online ohne Übersetzerin | |
einer Rechtsanwältin vortragen. „Es war ein Raum voll fremder Menschen, ich | |
war im Schockzustand – wie sollte ich da meine traumatische Geschichte und | |
meine Fluchtgründe vortragen?“, sagt sie, „nicht mal mein Partner wusste | |
all die Dinge, die mir zu Hause angetan wurden, deshalb habe ich in dem | |
Moment auch nichts gesagt.“ Einen rechtlichen Beistand habe sie nicht | |
gehabt. Binnen weniger Minuten sei ihr Antrag abgelehnt worden, erzählt | |
sie. | |
Grace versteht ein bisschen Polnisch und bekommt mit, wie das Personal über | |
sie spricht. „Ich habe viele rassistische Wörter gehört. Mir wurde so viel | |
Hass entgegengebracht“, sagt die junge Mutter, „ich bekam kein ordentliches | |
Essen für mein Baby, keine Windeln – gar nichts. Irgendwann habe ich meine | |
Zimmernachbarn angefleht, mir Essen für das Kind abzugeben, weil es einfach | |
nicht gereicht hat.“ Erst als ihr Partner nach Monaten in der Einrichtung | |
einen Suizidversuch unternimmt, wird sie kurzfristig entlassen. Grace setzt | |
die Reise alleine fort, fragt sich nach Warschau durch und steigt in den | |
Zug nach Berlin. | |
„Ich wurde nicht kontrolliert, vielleicht, weil ich mit meinem Baby so | |
elend aussah, dass der Kontrolleur Mitleid mit mir hatte, vielleicht war | |
das mein Glück.“ Mitten in der Nacht kommt sie am Hauptbahnhof an, in ihren | |
Schuhen steht das Blut vom Laufen. Über Umwege gelangt sie in die | |
Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt. Zwei Monate später erhält sie ihren | |
Bescheid: Sie soll zurück nach Polen. „Wenn ich die Wahl hätte zwischen | |
einem Gefängnis in Deutschland und einer Asyl-Einrichtung in Polen – ich | |
würde liebend gern mit meinem Kind hier ins Gefängnis gehen“, sagt sie. | |
Das Dublin-Zentrum speziell für Polen scheint eher der Symbolpolitik zu | |
dienen statt der Effizienzsteigerung: Beide Personen, die am 3. April von | |
den Beamten nach Polen abgeschoben wurden, sind mittlerweile zurück in | |
Deutschland. Einer der beiden Fälle stellte sich im Nachhinein als | |
rechtswidrig heraus, da der Mann keinen Bescheid erhalten hatte. | |
Doch egal wie sehr das Vorgehen im Umgang mit Dublin-Verfahren nur ein | |
politisches Strohfeuer sein mag, darin zeige sich der neue „Sound“ der | |
deutschen Asylpolitik, sagt Europaexperte Kopp. „Die übergeordnete Frage | |
‚Wie kann Europa ein faires Aufnahmesystem für Asylsuchende organisieren?‘ | |
ist mit dem Koalitionsvertrag nicht berührt. Im Gegenteil: Man ist bereit, | |
Menschenwürdestandards in Deutschland runterzufahren“, sagt er, „der Erfolg | |
dieser neuen Asylpolitik ist nicht die Integration, sondern der Flüchtling, | |
der nicht mehr da ist.“ | |
5 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Eva Hoffmann | |
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