# taz.de -- Schwarz-rote Koalition: Scheitern ist gestattet | |
> Diese Bundesregierung muss Bestand haben, sonst regiert bald die AfD. | |
> Dieses Narrativ ist falsch und so etwas wie eine selbsterfüllende | |
> Prophezeiung. | |
Bild: Finanzminister Lars Klingbeil (l, SPD) spricht am 14. 5. 2025 in Berlin m… | |
Diese Bundesregierung darf nicht scheitern. Das hat Friedrich Merz seiner | |
Wahlperiode als Kanzler vorangestellt. Auch [1][der baden-württembergische | |
Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht das so]. Der Hintergrund | |
hierfür ist die Annahme: Wenn sie scheitert, dann gewinnt die AfD die | |
nächste Bundestagswahl, führt dann wohl auch die nächste Bundesregierung an | |
und baut die liberale Demokratie ab. Oder man kratzt für eine Mehrheit noch | |
mal alles zusammen – von CSU bis Linkspartei – und ist dann aber so | |
disparat, uneins, schwach, dass das AfD-Szenario bei der übernächsten Wahl | |
passiert. | |
Es gibt nur einen Weg, das zu verhindern: Diese Bundesregierung muss | |
scheitern dürfen. So wie jede Regierung in einer liberalen Demokratie | |
scheitern dürfen muss – und dann eine neue liberaldemokratische Regierung | |
gewählt wird, in der Hoffnung, dass sie nicht alles anders, aber einiges | |
besser macht. | |
Zunächst mal: Darf-nicht-Ultimaten sind Metaphysik, spekulative Predigten | |
und gern auch negative self fulfilling prophecies. Bestes Beispiel: Trump | |
darf nicht Präsident werden, so lautete die Wahlbeschwörung der Demokraten. | |
Das war der Grundstein für Trumps erneute Präsidentschaft. Ein | |
Darf-nicht-Ultimatum ist der Versuch, mit einer hochmoralischen Verneinung | |
durchzukommen, wenn man selbst kein attraktives Angebot zu machen hat. | |
Darf-nicht ist keine Grundlage für Politik und politisches Gespräch, denn | |
was soll man mit der Vorgabe noch inhaltlich diskutieren? | |
Ein besserer Ansatz scheint daher erst einmal, zu klären, worin das | |
„Scheitern“ bestehen würde. Wenn sich das allein darauf bezieht, dass die | |
AfD nicht weiter wachsen darf, könnte die Regierung zum Beispiel eine | |
gescheiterte Klimapolitik als Voraussetzung dafür behaupten. Oder einen | |
Rückbau der emanzipatorischen Moderne. Nach dem Motto: Leider keine | |
postfossile und konkurrenzfähige Wirtschaft, sonst wächst die AfD. Leider | |
keine offene Gesellschaft mehr, sonst wächst die AfD. Und so weiter. In | |
diesem Denken wäre dann nicht Kanzler Merz gescheitert, aber die liberale | |
Ordnung des Westens. Das Aufgeben von Zukunft und Politik wäre | |
alternativlos, denn Zukunftspolitik hieße, dass die AfD wächst. | |
## Der Politiklieferdienst soll Normalität bringen | |
Genau dieses Prinzip, Politik beziehungsweise deren Vermeidung zu sehr | |
[2][an der Stimmungsgesellschaft und der AfD auszurichten,] hat die AfD | |
groß gemacht. Man muss hier nicht nostalgisch mit dem früheren SPD-Kanzler | |
Willy Brandt und seiner Ostpolitik gegen eine aufgeheizte | |
Stimmungsgesellschaft kommen. Aber die These wäre schon, dass der | |
weitgehend macht- und zu wenig inhaltsorientierte Opportunismus von Union | |
und SPD (und zuletzt auch in geringerem Maße von den Grünen) die liberale | |
Demokratie geschwächt hat. | |
Die Verärgerung von Leuten ist im System angelegt, solange man wie ein | |
Mantra behauptet, dass man als Politiklieferdienst die veränderte Realität | |
wieder auf „normal“ stellen werde. Das war eine Lüge angesichts der | |
Realität militärischer Kriege, Wirtschaftskriege, des Kampfs um Rohstoffe, | |
der bröckelnden Sozialsysteme und Infrastrukturen. Da hilft auch der | |
riesige Kredit auf die Zukunft vermutlich nur bedingt. Die | |
Wahrscheinlichkeit in dieser Lage ist hoch, dass das Regieren von Union und | |
SPD die Ränder stärken wird. Den einen wird es so oder so „zu links“ sein, | |
einem kleineren Teil nicht links genug. | |
## Fehler der Regierung zahlen auf die AfD ein | |
Der Trick der Union in den vergangenen Jahren bestand darin, die veränderte | |
Realität den Grünen in die Schuhe zu schieben. Der [3][Trick der AfD | |
besteht darin, die veränderte Realität der liberalen Demokratie in die | |
Schuhe zu schieben], zunächst den Grünen, inzwischen volle Pulle ihrem | |
Hauptfeind, der Union. | |
Das macht die Lage für die letzte verbliebene Mittepartei in der Opposition | |
extrem schwierig, wenn die Fehler der Regierung eben nicht auf die Grünen | |
einzahlen, sondern auf die AfD – und vielleicht noch auf die Linkspartei. | |
Noch schwieriger: Zum einen ist es essenziell, einen Umgang mit der | |
unionsgeführten Regierung zu finden, die deren Arbeit aus Sicht des bedingt | |
aufbruchsbereiten Teils der gesellschaftlichen Mitte in der Sache | |
kritisiert. Zum anderen aber eine künftige Zusammenarbeit nicht | |
ausschließt, schon gar nicht mit dem tödlichen Gift der Hochmoral. Denn | |
eine liberaldemokratische Mehrheit ohne Union ist mathematisch schwer | |
vorstellbar. Und würde eine Aufgabe der Mitte bedeuten und damit feindliche | |
Polarisierung. | |
Selbstverständlich werden die üblichen Verdächtigen nichtsdestotrotz eine | |
„linke Mehrheit“ beschwören, okay, das ist ihr Job. Aber bitte, wo sollten | |
die dafür notwendigen Linken plötzlich herkommen? Sie müssten schon | |
einwandern (aber woher?). Oder von der Union konvertieren (statt zur AfD zu | |
gehen). Die entscheidende Frage ist: Wie handelt eine linke Mehrheit | |
realpolitisch mit Blick auf das Projekt der liberalen Moderne, der | |
emissionsfreien Marktwirtschaft, des komplizierten Handlings der | |
geopolitischen Krisen des 21. Jahrhunderts? „Antikapitalismus“ und | |
„Antifaschismus“ sind keine sachpolitischen Zukunftsprojekte, sondern | |
allenfalls Vaterunser. | |
## Die erste Frage ist: Wozu? | |
Die Lage ist verzwickt: Die Regierung aus Union und SPD muss scheitern | |
dürfen, ohne dass deshalb die liberale Demokratie gescheitert wäre. Dafür | |
braucht es ein Bewusstsein dafür, dass Angst vor und Orientierung an der | |
AfD der sicherste Weg sind, sie immer größer zu machen. Die Frage ist, wer | |
2029 noch eine Mehrheit gegen die AfD bilden kann. Davor steht aber die | |
Frage: Wozu? Die AfD ist ein Problem, keine Frage, aber sie wird auch | |
benutzt, um von der eigenen Politik- und Zukunftslosigkeit abzulenken. Wenn | |
diese Regierung tatsächlich unsere „letzte Chance“ wäre, dann gnade uns | |
Gott. | |
Es braucht jetzt ein öffentliches und politisches Gespräch über die | |
zentralen Probleme, die prioritär gelöst werden müssen. Und was gemäßigt | |
Konservative wie bedingt Aufbruchsbereite bereit sind, dafür gemeinsam zu | |
tun und was hintanzustellen. Daran und nur daran muss man diese | |
Bundesregierung messen. Und dann entweder bestätigen oder abwählen. | |
27 May 2025 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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