| # taz.de -- Landesweite Kontrollen ab Montag: Deutsche Grenzerfahrungen | |
| > Ab Montag soll es deutschlandweit Grenzkontrollen geben. In Frankfurt | |
| > (Oder) am Übergang zu Polen gibt es diese fast seit einem Jahr. Ein | |
| > Rundgang. | |
| Bild: Polnischer Abgang: Am deutschen Grenzübergang in Frankfurt (Oder) staut … | |
| FRANKFURT (ODER)/SŁUBICE taz | Ein gelber Kastenwagen fährt über das | |
| Kopfsteinpflaster und hält vor einer alten Sporthalle. Auf der Fahrertür | |
| prangt ein großes blaues Wappen mit der Aufschrift „SŁUBFURT“. Michael | |
| Kurzwelly steigt aus. Er hat die Fantasiestadt Słubfurt erfunden, die das | |
| deutsche Frankfurt (Oder) und die polnische Nachbarstadt Słubice umfasst. | |
| „Nationen, Staaten, Grenzen, das sind Wirklichkeitskonstruktionen. Sie | |
| funktionieren nur, weil genügend Menschen daran glauben“, sagt er. Der | |
| 61-Jährige trägt einen Anorak, eine schwarze Brille mit dunklen Gläsern und | |
| eine auffällige blau-grüne Kopfbedeckung, eine Mütze aus Usbekistan. | |
| „Herzlich willkommen beim Brückenplatz. Wir nennen das hier auch Café | |
| Blabla“, sagt Kurzwelly. „Das versteht jeder.“ Es ist der Donnerstag | |
| vergangene Woche. Neben dem Parkplatz steht ein Schild: „Dies ist ein | |
| offener Ort. Alle dürfen sich hier zu Hause fühlen und ihre Ideen | |
| einbringen“, steht dort in acht Sprachen. Kurzwelly geht am Schild vorbei | |
| und in die ehemalige Sporthalle hinein. | |
| In jeder Ecke der Turnhalle steht etwas, Kurzwelly zeigt auf einen großen | |
| runden Tisch, um den etwa 20 Stühle stehen: „Hier treffen wir uns jeden | |
| Mittwoch.“ In einer anderen Ecke stehen Fahrräder, Werkzeug liegt herum. | |
| „Das ist unser [1][Repariercafé]“, sagt Kurzwelly. „2014 hat Słubfurt v… | |
| neue Bürger bekommen“, erzählt er. „Ein Kollege und ich sind zur | |
| Flüchtlingsunterkunft gegangen und haben gefragt, ob jemand singen möchte, | |
| wenig später haben wir gemeinsam Lieder aus Eritrea, Deutschland, Kamerun, | |
| Polen, Syrien und Afghanistan gesungen.“ Seitdem engagiere sich Kurzwelly | |
| für Geflüchtete. | |
| An Pressspanplatten lehnen Pappschilder: „Stop pushbacks“ und „Bürgerrec… | |
| für alle“. In den vergangenen Monaten haben sie Demonstrationen | |
| organisiert. Grenzkontrollen gibt es hier genauso wie an den Übergängen zu | |
| Tschechien und der Schweiz bereits seit vergangenem Oktober. | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte sie damals angeordnet, um gegen | |
| Schleuseraktivitäten vorzugehen. An der Grenze zu Österreich kontrolliert | |
| Deutschland schon seit dem Herbst 2015, als Zehntausende Geflüchtete über | |
| die Grenzen kamen. Nun sollen die Kontrollen im Zuge [2][des Anschlags in | |
| Solingen] auf ganz Deutschland ausgeweitet werden. Kurzwelly befürchtet, | |
| dass Deutschland und die anderen europäischen Länder sich weiter | |
| gegenseitig abschotten und die EU zerfällt. | |
| Die alte Turnhalle liegt ein paar hundert Meter vom Ufer der Oder entfernt | |
| und damit von der Grenze. Kurzwelly spaziert in Richtung der Stadtbrücke, | |
| die Deutschland mit Polen verbindet. Er ist Aktionskünstler, hat in Bonn | |
| studiert und ist 1990 nach Polen gezogen, 1998 nach Frankfurt: „Wenn ich in | |
| den ersten Jahren in Frankfurt im Supermarkt an der Kasse stand und | |
| angerufen wurde, ein polnischer Freund dran war und ich Polnisch geredet | |
| habe, dann habe ich die Blicke gespürt.“ Es habe viele Vorurteile gegenüber | |
| Polen gegeben, das sei heute anders: „Frankfurt hat sich zu einer offenen | |
| Stadt gemausert, aber das droht jetzt wieder zu kippen.“ Kurzwelly sagt, | |
| dass die Grenzkontrollen die deutsch-polnischen Beziehungen belasten. | |
| ## Grenzkontrollen? Soll es gemäß Schengen gar nicht geben | |
| Die 252 Meter lange Stadtbrücke führt über die Oder. Sie verbindet | |
| Frankfurt und das polnische Słubice. Ein riesiges weißes Zelt steht | |
| zwischen den zwei Spuren – der Spur nach Polen und der nach Deutschland. | |
| „Anfangs hat die Polizei die Autos einfach auf der Straße angehalten“, | |
| erzählt Kurzwelly. Wenig später wurde der Grünstreifen zwischen den Spuren | |
| asphaltiert, das weiße Zelt aufgebaut, das wie ein Tunnel aussieht. Hier | |
| kontrolliert die Bundespolizei, so wie auch an den Autobahnen. An vielen | |
| anderen Stellen, zum Beispiel bei Küstrin und an der „grünen Grenze“, gibt | |
| es dagegen keine Kontrollen. | |
| Eigentlich soll es laut dem Schengen-Abkommen innerhalb der Europäischen | |
| Union keine Grenzkontrollen geben. Nur „im Falle einer schwerwiegenden | |
| Bedrohung ihrer öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ können sie | |
| eingeführt werden. Die Mitgliedstaaten müssen die EU-Kommission über die | |
| Kontrollen informieren. Im Februar und Mai verlängerte Faeser die | |
| Kontrollen mit der offiziellen Begründung, die illegale Migration und | |
| Schleuserkriminalität weiter zu bekämpfen. | |
| An der Straße, einige Meter vor dem Zelt, stehen drei Polizisten. Einer | |
| hält eine Polizeikelle in der Hand. Hinter ihnen stehen vier blaue | |
| Container. „Wir ziehen dann jemanden raus, wenn uns etwas verdächtig | |
| vorkommt“, erklärt der Beamte. „Ein Auto, ein Kennzeichen, die Personen im | |
| Wagen“, sagt er. Wann und wo kontrolliert wird, dazu dürfe er nichts sagen. | |
| Ein paar Meter weiter, unter dem weißen Zelt, steht ein Auto. Ein paar | |
| Beamte schauen in den Kofferraum. Heute fließt der Verkehr, doch das sei | |
| nicht immer so, sagt Kurzwelly. | |
| Er spaziert die Brücke weiter entlang Richtung Polen. Bis zur Mitte, der | |
| Grenze, hängen Wahlplakate wegen der Landtagswahlen [3][am nächsten Sonntag | |
| in Brandenburg], die meisten sind von der AfD. Am polnischen Ufer | |
| angekommen, grüßt Kurzwelly einen Bekannten. Sie wechseln ein paar Sätze. | |
| Kurzwelly ist hier in Słubice genauso gut vernetzt wie in Frankfurt. | |
| ## Berichte über Pushbacks | |
| „Im April 2024 hat mich eine Bekannte angerufen. Sie hat von zwei | |
| Flüchtlingen erzählt, die hier in einem Park im Gebüsch saßen“, sagt | |
| Kurzwelly. „Ich habe meinen Rucksack voll mit Essen gepackt und bin rüber. | |
| Die beiden Jemeniten, die ich dort getroffen habe, waren total unterkühlt.“ | |
| Sie hätten der deutschen Polizei gesagt, dass sie Asyl beantragen wollten, | |
| aber die habe sie abgewiesen. Belegen lässt sich das nicht, aber immer | |
| wieder gibt es Berichte über Pushbacks an der deutsch-polnischen Grenze. | |
| „Ich bin mit den beiden zur Grenze, wollte das vermutete Missverständnis | |
| aufklären, aber auch bei diesem Mal wurden die beiden abgewiesen“, sagt | |
| Kurzwelly. | |
| An einer Bushaltestelle sitzt ein junger Mann und schaut auf sein Handy. Er | |
| erzählt, er studiere an der Viadrina, der Uni in Frankfurt. „Manchmal komme | |
| ich aber zum Mittagessen rüber.“ In Polen sei das günstiger. Ein Kumpel aus | |
| der Uni komme aus Mittelamerika und habe ihm gesagt, er wolle nicht mit | |
| nach Polen kommen: „Er meinte, dass er fast immer kontrolliert wird.“ | |
| Nachdem Kurzwelly Geld gewechselt hat, geht er zurück über die Brücke, | |
| vorbei an der Polizei, und verabschiedet sich. Weder er noch andere | |
| Fußgänger*innen werden angehalten. | |
| Auf dem Frankfurter Rathausplatz ist an diesem Donnerstagvormittag | |
| Markttag. An einem Wagen, der Kaffee verkauft, unterhalten sich drei | |
| Händler an einem Stehtisch. „Gut, dass kontrolliert wird“, sagt einer von | |
| ihnen. 40 Prozent derer, die hier rüberkämen, begingen Straftaten, | |
| behauptet er. Belege dafür gibt es auch dafür nicht. Einem der anderen | |
| Händler ist das sichtlich unangenehm. Er versucht, seinen Kollegen zu | |
| unterbrechen. Was „die Faeser da macht“, sei ein Tropfen auf den heißen | |
| Stein: „Messerstechereien hat es doch früher auch gegeben“, sagt er. „Und | |
| Messerverbote auf Festen und in der Bahn bringen gar nichts.“ | |
| Am Bahnhof stehen mehrere Busse. In der 983, die über die Grenze fährt, | |
| wartet ein Fahrer. Der Bus ist noch leer, gerade versucht er, ein | |
| Einmachglas mit gekochtem Gemüse zu öffnen. „Ich bin die Strecke heute | |
| dreimal gefahren. Jedes Mal fahre ich langsam. Die Polizisten schauen dann | |
| von außen in den Bus.“ Bei der ersten Tour habe ihn ein Polizist gefragt, | |
| ob ihm etwas aufgefallen sei. „Nur die Üblichen, habe ich gesagt, der | |
| Polizist hat gelacht und mich durchgewunken.“ Zuvor sei er auf der Strecke | |
| länger nicht im Einsatz gewesen. Das letzte Mal, im Juni oder Juli, sei | |
| mehr kontrolliert worden: „Da sind die Polizisten häufiger in den Bus | |
| gekommen und haben Pässe kontrolliert.“ | |
| Ein Ploppen. Das Weckglas ist nach größerer Kraftanstrengung endlich offen. | |
| Was er von den Kontrollen halte? „Als Pendler finde ich es nervig. Aber als | |
| deutscher Steuerzahler finde ich es wichtig, dass es Kontrollen gibt, dass | |
| die Ausländer nicht alle reinkommen“, sagt er und lächelt. | |
| ## Angst vor Brandenburg-Wahlen | |
| Ein paar Straßen hinter dem Bahnhof steht neben einem Imbissladen ein | |
| weißer Flachdachbau. Das Haus sieht nach einem kleinen, verlassenen | |
| Lagerraum aus. „Alrahman Moschee Kulturzentrum“ steht auf einem Schild an | |
| der Hauswand. Mohammed Ibrahim öffnet die unscheinbare weiße Tür. Seine | |
| schwarzen und grauen Locken sind kurz und kraus. Er winkt einen herein und | |
| bittet, die Schuhe auszuziehen und im Regal zu den anderen Paaren zu | |
| stellen. | |
| Auf dem gesamten Boden liegen Teppiche. Zwei Vorhänge bilden einen | |
| abgetrennten Bereich. Dahinter stehen ein paar Stühle um einen weißen | |
| Campingtisch. Ibrahim setzt sich. Er erzählt, dass er sich im Verein | |
| „Muslime an der Oder e. V.“ engagiere. Er stammt aus dem Sudan und lebt | |
| seit 2017 in Deutschland. „Ich wohne in Frankfurt, aber zum Einkaufen und | |
| Tanken fahre ich nach Polen. Mindestens zweimal die Woche.“ Alleine am | |
| Steuer werde er etwa jedes fünfte Mal kontrolliert, schätzt Ibrahim. „Wenn | |
| ich mit einer anderen Person fahre, die auch schwarz ist, dann werden wir | |
| immer kontrolliert.“ Solange die Kontrollen verfassungsmäßig seien, habe er | |
| nichts dagegen, sagt Ibrahim: „Ein sicheres Land ist gut für uns alle.“ | |
| Die anstehenden Landtagswahlen am Sonntag machen ihn Sorgen: „Heute habe | |
| ich in der Stadt ein AfD-Plakat gesehen. ‚Es ist Zeit, die Asyl-Industrie | |
| stillzulegen‘ stand da“, sagt Ibrahim. „Ich war total schockiert, was ist | |
| das denn? Es gibt keine Asylindustrie. Menschen fliehen vor Krieg: ganz | |
| egal, ob in der Ukraine, in Sudan, meiner Heimat, oder Gaza.“ Ibrahim | |
| gestikuliert mit seinen Händen und ringt nach Worten. „Bei der Europawahl | |
| ist die AfD in Brandenburg stärkste Kraft geworden. Ich hoffe, es wird | |
| dieses Mal anders.“ | |
| 15 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marie Sophie Hübner | |
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