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# taz.de -- Historie der deutschen Grenze: Grenzen sind so 19. Jahrhundert
> Die Debatte um die Grenzen Deutschlands erinnern an historische Debatten
> um nationale Souveränität – und zeigt: Grenzen sind soziale Konstrukte.
Bild: Auch 1950 waren Grenzen verhasst: Deutsche und französische Studierende …
Nur wenige Tage nach der Ausweitung [1][von Grenzkontrollen] Mitte
September bebilderte der Spiegel die „Neue Härte in der Migrationspolitik“
mit einer von vermummten Polizisten umringten Innenministerin. Etliche
Artikel zitierten den [2][Chef des BKA,] der vom bereits erfolgreichen
Kampf gegen Schleuser sprach.
Keine Frage, die medienwirksame Ausweitung von Grenzkontrollen hängt mit
der [3][rassistischen Mobilmachung] der gesellschaftlichen Mitte in der
sogenannten Migrationsfrage zusammen. Darüber hinaus führen die Maßnahmen
zu einer Renationalisierung von Grenzen.
Das, was hier so medienwirksam in Szene gesetzt wird, ist die Erinnerung
daran, dass zur Nation ein Territorium gehört, dessen polizeiliche
Kontrolle alle Angehörigen der vorgestellten nationalen Gemeinschaft
angeht. Dies etabliert nach Jahrzehnten europäischer Freizügigkeit nun
ausgerechnet die Ampelregierung. Jenseits linker Warnungen vor dem Eingriff
in das Asylrecht gibt es daran kaum umfassende Kritik.
Ähnliche Maßnahmen führten Ende des 19. Jahrhunderts zu grundlegenden,
erhitzten Debatten. Dabei musste das Verhältnis des Staates zu seinem
Gebiet in diesem Zeitraum erst bestimmt werden. Staatsrechtler wie Georg
Jellinek, Paul Laband oder Hugo Preuß konstatierten die „Notwendigkeit
eines abgegrenzten Gebiets für das Dasein des Staates“, dass also der Staat
durch sein Territorium verkörpert werde.
Preuß formulierte, „eine Verletzung des Reichsgebiets“ sei „eine Verletz…
des Reichs selbst“ und entspreche somit eher „einer Körperverletzung, nicht
einem Eigentumsdelikt.“ Dies machte Grenzüberschreitungen überhaupt erst zu
einer gravierenden Angelegenheit.
## Vor allem bürgerliche Reisende beschwerten sich
Auch polizeiliche Kontrollen – wie sie nun an allen deutschen Außengrenzen
vorgesehen sind – waren alles andere als selbstverständlich, zumal sich die
moderne Polizei erst entwickelte. Als 1888 an der deutsch-französischen
Grenze aufgrund außenpolitischer Spannungen eine Passkontrolle eingeführt
wurde, folgten aufgebrachte Reaktionen.
Die Grenzpolizei prüfte die Staatsangehörigkeit von Reisenden, die diese
jedoch oft nicht einmal selbst kannten. Das lag an komplizierten Regelungen
in Elsass-Lothringen, für Frauen auch an Heirat, aber auch an dem, was in
der Forschung als nationale Indifferenz bezeichnet wird.
Vor allem bürgerliche Reisende beschwerten sich, wie etwa ein Mann, der
laut Frankfurter Zeitung bei der Passkontrolle „in einer Weise behandelt
wurde, als ob er irgendeines Verbrechens verdächtig wäre“. Deutsche und
französische Zeitungen kritisierten immer wieder die Willkür des
polizeilichen Vorgehens.
Vor allem aber galten die Passmaßnahmen als unmodern. Im Reichstag verglich
ein elsässischer Abgeordneter, die Maßnahme mit Verhältnissen in Russland,
„das man bis dahin als ein halb barbarisches Land angesehen hat“. Zeitungen
warnten, dass Deutschland „in den Ruf eines ‚wilden Landes‘“ komme und …
die Passpflicht „zu den Verkehrsverhältnissen der Jetztzeit in grellem
Widerspruch“ stehe.
Diese Kritik wird nur verständlich, wenn man bedenkt, dass seit der
Reichsgründung 1871 Pässe an der Grenze weder für Staatsangehörige noch für
Ausländer nötig waren. Generell wurden im 19. Jahrhundert Reisende eher im
Landesinneren kontrolliert, sozialer Status war wichtiger als Nationalität
und Migration wurde durch Ausweisungen reguliert. Somit erschien die
polizeiliche Kontrolle als unzeitgemäß und warf grundlegende Fragen nach
einem „zivilisierten“ Umgang mit der Grenze auf.
Ein Einwand findet sich ähnlich auch heute: der ökonomische Nachteil. So
wie derzeit Pendler:innen und Wirtschaftsverbände Grenzkontrollen
innerhalb der EU als belastend bezeichnen, bemängelte etwa das Berliner
Tageblatt den „verderblichen Einfluss auf Handel und Industrie“, die
internationale Kundschaft bliebe aus und Rohstoffe erreichten ihr Ziel
nicht mehr. Eine Kritik an Grenzkontrollen überhaupt war und ist damit
jedoch nicht verbunden.
Die Passmaßnahme von 1888 wurde drei Jahre später wieder aufgehoben. Doch
der mediale Fokus auf Grenzpolizei und Grenzzwischenfälle führte zunehmend
zu einer Nationalisierung der Grenze. Mit technisch immer schnellerer
Berichterstattung wurde es nicht nur für die Außenpolitik notwendig, sich
mit dem „Grenzverletzungsproblem“ auseinanderzusetzen.
## 3.800 Kilometer Grenze
Auch für die Öffentlichkeit wurde die Grenze und ihre Überschreitung immer
relevanter. Bilder und Berichte erreichten Leser:innen in allen Teilen
des Deutschen Reichs und etablierten überhaupt erst, dass Grenzkontrollen
von nationaler Relevanz waren.
Auch heute zeigen Pressefotos, Hoheitszeichen oder Polizisten, die Autos
durchsuchen, und Reportagen berichten von „vor Ort“ über Verhaftungen und
Zurückweisungen. Es gibt wieder eine Aufmerksamkeit für die territorialen
Ränder der Nation. Während es zuletzt vor allem „Freie Sachsen“ oder
„Identitäre“ waren, die immer wieder Grenzabsperrungen simulierten, sind es
nun offizielle politische Maßnahmen, die die Grenzen derart ins Bewusstsein
rücken.
Sowohl für heute wie damals heißt dies allerdings nicht, dass Grenzen sich
tatsächlich umfassend überwachen ließen. Der Rede von „massiven
Zurückweisungen“, stehen 3.800 Kilometer Grenze gegenüber, die insgesamt
nur sporadisch kontrollierbar sind. Und dennoch hält sich die Rede vom
„Öffnen“, „Schließen“ oder gar von der Grenze als Mauer.
Diese Metaphern sind zentraler Bestandteil des nationalen Spektakels, weil
sie verschleiern, dass Grenzen eine Praxis sind, die Menschen durchsetzen
und eine Erfahrung, die Menschen machen. Wie diese aussehen, ist jedoch
Teil eines gesellschaftlichen Deutungskampfes.
Und hier sehen wir eine Entwicklung, die der Nationalisierung der Grenzen
des ersten deutschen Nationalstaates ähnelt. Rechtliche Normen – heute die
europäische Freizügigkeit, damals die Passfreiheit – werden durch
Ausnahmeregelungen außer Kraft gesetzt.
Grenzkontrollen machen das Territorium zu einer Sache des nationalen
Interesses. Dies bedeutet nicht nur einen massiven Eingriff in die
Bewegungsfreiheit zahlreicher Menschen und die Zurückweisung von
Geflüchteten.
Unter Rückgriff auf die Polizei wird wieder eine nationale Gemeinschaft
beschworen, die sich ihrer Grenzen bewusst sein soll. Das ist ein Appell,
der nichts Gutes verheißt.
4 Oct 2024
## LINKS
[1] /Grenzkontrollen-haben-kaum-Effekt/!6035717
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[3] /Rechte-Erfolge-bei-Europawahl/!6017125
## AUTOREN
Sarah Frenking
## TAGS
Immigration
EU-Außengrenzen
Deutsche Geschichte
Souveränität
GNS
Social-Auswahl
Asyl
Ampel-Koalition
Holger Münch
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