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# taz.de -- 10 Ideen von Intellektuellen: Wie retten wir die Demokratie?
> Rechtsruck, Klimakrise, Autokraten – die Liste der Bedrohnungen können
> viele Menschen nicht mehr hören. Zehn Vorschläge für ein
> Demokratie-Update.
Bild: Eine Demokratie setzt sich aus den Interessen vieler verschiedener Mensch…
Hier könnte eine Liste des Grauens stehen: Rechte Wahlerfolge, drohender
Klimakollaps, Autokraten mit Atombomben. Unsere Demokratie ist bedroht, ihr
Image als Exportschlager stark ramponiert. Doch die Schlagworte verstopfen
das Gehirn und damit auch das konstruktive Nachdenken über die Demokratie
der Zukunft. Die großen Krisen scheinen unsere Zukunft festzuschreiben,
verdammen uns dazu, nur noch zu reagieren und uns anzupassen.
Das wollen wir nicht hinnehmen. Die taz hat zehn Menschen gefragt, wie die
Demokratie im 21. Jahrhundert nicht nur überleben, sondern auch besser
werden kann. Hier sind ihre Ideen.
## 1. Lasst uns aufhören, Wählerinnen und Wähler wie Kinder zu behandeln!
Hedwig Richter ist Historikerin. In ihrem Buch „Demokratie und Revolution“
plädiert sie gemeinsam mit Bernd Ulrich für eine mündige Demokratie, die
die Klimakrise angeht.
Nach sechzehn Jahren Merkel, nach drei Jahren Olaf Scholz, nach endlosen
Zeiten der Zugeständnisse, des „Wir kümmern uns, macht Euch mal keine
Sorgen“ – wäre es nicht angebracht, mal den Kurs zu wechseln? Es wäre eine
Revolution, ein komplettes Um- und Neudenken: eine Demokratie für
Erwachsene.
„Hier, nur ein ganz kleiner Bissen noch, es liegt auch ein Stück Zucker
drauf“: Wie trotzigen Kindern versuchen Regierungen ihren Bürgerinnen und
Bürgern die anstehenden Veränderungen schmackhaft zu machen. Sie bieten
ihnen Steuergeschenke an und verwerfen unbeliebte Maßnahmen wie die
[1][Stilllegungspflicht von Landflächen], die der Anfang einer Politik zum
Artenschutz gewesen wäre. [2][Waffenlieferungen an die Ukraine?] In
Ordnung, aber nur so viele, wie es das empfindsame Volk verkraften kann.
Für die Konsequenzen ihres Tuns, so die tägliche Botschaft, tragen die
Menschen keine Verantwortung.
Diese Beschwichtigungspolitik erweist sich als fruchtlos. Die Ziele des
[3][Pariser Abkommens] werden nicht eingehalten, der Umbau der Industrie
stockt – falls er überhaupt begonnen hat – und viele Menschen finden die
Grünen mit ihrem Öko einfach scheiße.
Politik für Erwachsene würde davon ausgehen, dass Menschen in einer
Demokratie als Bürgerinnen und Bürger angesprochen werden, dass sie
Verantwortung tragen. Und dass die Politik sagt, was Sache ist. Die Frage
wäre dann nicht mehr: Wie bequem macht man dem unmündigen Volk die
notwendigen Veränderungen, wie minimal müssen die Häppchen sein? Sondern:
Was ist notwendig, und wie schaffen wir das in unserer Republik?
Ausgangspunkt wären nicht länger der Kleinmut und die Konsumprognosen,
sondern das, was notwendig wäre, um ein Leben in Zerstörung zu beenden und
die demokratische Freiheit zu retten.
## 2. Lasst uns Politik mit Kennzahlen messbar machen!
Ralph Brinkhaus ist CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger
Fraktionsvorsitzender.
Was die Bundespolitik braucht, ist eine klare Systematik. Bürgerinnen und
Bürger können Zusammenhänge zwischen vielen Zielen und Maßnahmen nicht mehr
nachvollziehen, da messbare Kennzahlen fehlen. Wurden nun Fortschritte
erzielt? Was genau soll überhaupt erreicht werden? Antworten auf diese
Fragen sind schwer zu formulieren. Selbst dort, wo es Kennzahlen gibt, so
etwa in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, bleiben sie oft im
Verborgenen.
Dieses Problem ist das Ergebnis von Kompromissen zwischen Parteien mit
unterschiedlichen Politikansätzen. Die machen sich auch in den
Koalitionsvereinbarungen bemerkbar: 1961 hatten sie einen Umfang von 9
Seiten, 2021 waren es 177. Eine nachhaltige Abarbeitung dieses
umfangreichen Katalogs scheitert dann oft an ungeplanten Ereignissen wie
der Eurokrise, der Coronapandemie oder dem [4][Krieg in der Ukraine], die
alle Pläne ganz schnell relativieren.
Daher mein Vorschlag: Der nächste Koalitionsvertrag enthält 3 Seiten und
benennt höchstens 10 Leitziele. Um sie für Bürgerinnen und Bürger greifbar
zu machen, müssen sie alle mit Kennzahlen unterlegt sein. Als Beispiele
fallen mir ein: „Längere Lebenserwartung“, „Wohlstandssteigerung“,
[5][„Mehr Wohnraum“] oder [6][„CO2-Reduktion“]. Alle beteiligten Partei…
definieren dann ihre roten Linien und setzen Prioritäten innerhalb der
Leitziele.
Auf diese Weise könnten ganze Ministerien neu gebildet werden: Statt sich
an die seit 75 Jahren bestehenden Ressorts zu halten, könnten Ministerinnen
und Minister ihre Arbeit an den Zielen orientieren und messen, welche im
Koalitionsvertrag festgelegt wurden. Dann verhandelt die Bundesregierung
mit dem Bundestag über die für die Zielerreichung benötigten Finanzmittel
und Gesetze.
Ob die Ziele erreicht worden sind oder nicht, kann der Bundestag jedes Jahr
anhand der im Koalitionsvertrag festgelegten Kennzahlen entscheiden. Dies
wäre ein für Bürgerinnen und Bürger transparenter und nachvollziehbarer
Prozess, der eine bessere Bewertung der Politik ermöglichen würde.
## 3. Lasst uns unsere familiären Vergangenheiten aufrollen!
Hadija Haruna-Oelker ist Autorin und Moderatorin. 2022 erschien ihr Buch
über „Die Schönheit der Differenz“.
Was tun im [7][76. Jahr des Grundgesetzes], in dem die Würde so vieler
Menschen antastbar, unsere Demokratie nicht sicher ist und [8][Deutschland
nach rechts rückt]? In einer Zeit, in der Menschenrechte abschätzig als
„woke“ weggeredet werden? Eine andere Richtung einschlagen.
Dafür müssen wir zunächst daran erinnern und verstehen, wie der
gesellschaftliche Dissens so groß werden konnte. Wir sind auf- und
herausgefordert, unsere familiären Vergangenheiten im Privaten aufzurollen,
um sie dann gemeinsam in Bildungsräumen zu überarbeiten. Nur so kann unsere
gängige Erinnerungskultur öffentlich und im Politischen neu verhandelt
werden.
Wer und was nimmt Einfluss auf unsere alltäglichen Vorstellungen, auf die
mediale Berichterstattung? Darauf müssen wir dringend Antworten finden.
Denn unsere „superdiverse“ Gesellschaft setzt sich aus Menschen zusammen,
deren Biografien und Beziehungen zu diesem Land so unterschiedlich sind wie
die Menschen selbst. So viele haben dafür einst mit ihrem Leben bezahlt.
Die Frage nach einer Demokratie der Zukunft beantwortet sich daher auch im
Wissen um die Identitäten, die unsere Gesellschaft ausmachen. Wir brauchen
eine Erzählung, die alle mit einschließt, denn die Zukunft der Demokratie
ist inklusiv.
Vor allem müssen wir Wege finden, marginalisierte Gruppen nicht mehr
auszugrenzen und abzuwerten. Das bedeutet auch, unser soziales
Selbstverständnis zu hinterfragen. [9][Inklusion] ist eine Vision und
politische Leitidee, ein pädagogisches Ziel und ein individueller
Lernprozess, der von klein auf, bereits in Kindergärten, vermittelt werden
sollte. Inklusion kann unser Miteinander zum Positiven verändern, wenn sie
endlich, wirklich umgesetzt wird.
Stellen wir uns also eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit vor. Eine
Gesellschaft, in der Menschen Verantwortung übernehmen und andere
auffordern, das ebenfalls zu tun. Dafür muss sich jede*r einzelne an
grundsätzlichen Perspektivwechseln versuchen. Denn schlussendlich sind wir
alle daran beteiligt, an unserer Demokratie der Zukunft.
## 4. Lasst uns arme Menschen als Zielgruppe von Politik entdecken!
Helena Steinhaus ist Gründerin von Sanktionsfrei. Der Verein setzt sich für
die Belange von Menschen ein, die Grundsicherung beziehen.
Der Zustand einer Demokratie wird an den Wahlen gemessen. 76,6 Prozent
Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl – das klingt ganz okay. Aber
wenn man genauer hinschaut, ist es nicht okay: Die Beteiligung von Menschen
mit geringem Einkommen ist dramatisch gering. 2018 ging nur noch jeder
zweite Erwerbslose wählen, während es bei Menschen mit hohem Einkommen bis
zu 90 Prozent waren!
Das ist kein Zufall. Wer über Geld, Einkommen, Vermögen verfügt, kann die
Demokratie auch jenseits der Wahlen mitgestalten und füllt deswegen auch
brav seinen Stimmzettel aus. Die Belange armer Menschen werden zugleich mit
großer Beharrlichkeit ignoriert. Im Lobgesang auf angebliche
Leistungsträger unserer Gesellschaft überbieten sich die
bürgerlich-liberalen Parteien. Armut dient ihnen nur als Kulisse für diese
Darbietung.
Deswegen mein Vorschlag: Lasst uns doch mal die 20 Millionen Menschen an
und unter der Armutsgrenze so behandeln, wie sonst Reiche behandelt werden.
Lasst uns ihnen zuhören, Gesetze für sie gestalten, ihnen Privilegien
zuschustern und auch mal Fünfe gerade sein lassen.
Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir das Steuersystem anders staffeln würden?
Derzeit zahlen den höchsten Steuersatz von 45 Prozent Menschen mit einem
Jahreseinkommen von über 260.000 Euro. Danach kommt nix mehr. Was würde
passieren, wenn wir ab einer halben Million Euro Einkommen einfach 5 Cent
mehr von jedem Euro für die Gemeinschaft in Anspruch nehmen? Und ab einer
ganzen Million noch ein paar Cent mehr?
Was würde passieren, wenn wir die Regelsatz-Leistungen des Bürgergelds von
563 auf 813 Euro anheben und damit wirksam vor Armut schützen würden? Es
wäre ein Leichtes, Nebentätigkeiten von Abgeordneten genauso zu behandeln
wie Zuverdienste im Bürgergeld – nämlich: Rund 80 Prozent werden mit den
Diäten verrechnet. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, [10][bis sich
auch das Bürgergeld-System grundlegend ändert.]
Und wetten, dass bei der nächsten Wahl viel mehr Menschen ein Kreuz machen?
Und zwar [11][nicht bei demokratiefeindlichen, menschenverachtenden
Rassisten], sondern bei Parteien, die für ihr Leben Veränderungen erreicht
haben. Das ist gar nicht so radikal, wie manche behaupten, sondern einfach
nur wunderbar demokratisch.
## 5. Lasst uns Tiktok als Teil der Lösung betrachten!
Theresia Crone ist Aktivistin und Kolumnistin. Sie prägte den Hashtag
#ReclaimTikTok mit: Progressive Inhalte sollten unter diesem Hashtag
rechten Content verdrängen.
Letzte Woche bin ich aus meiner Studienstadt Paris in meine ostdeutsche
Heimatstadt Schwerin zurückgekehrt. Auf einmal kostet das „pinte de bière“
nicht mehr acht Euro, sondern nur noch die Hälfte. So weit, so gut.
Meine Kneipennacht brachte mir aber noch eine weitere Erkenntnis: Eines der
größten Probleme unserer Demokratie ist die Fragmentierung unseres
Diskurses. Die Debatten, die ich in einer Pariser Studentenbar führe,
könnten nicht weiter entfernt sein von den Argumenten, die ich mir in
meiner Schweriner Stammkneipe anhören darf oder muss.
Unterschiedliche Milieus oder „Bubbles“ gab es schon immer. Nur kommt jetzt
hinzu, dass unser Medienkonsum zu einem großen Teil von Algorithmen
gesteuert wird. Mein Feed auf Tiktok und Instagram sieht völlig anders aus
als der meiner alten Bekannten in Schwerin. Ich weiß nicht, wie man diesem
Problem langfristig begegnen kann, aber ich glaube, eine Lösung bietet
Tiktok selbst schon an.
Vor der Europawahl habe ich [12][im Rahmen der #ReclaimTiktok-Kampagne]
angefangen, selbst Fragmente in den Algorithmus zu füttern. Wenn ich die
AfD kritisiere oder für Klimaschutz werbe, bekomme ich viel Hass – klar.
Doch wer es schafft, auf Tiktok authentisch Geschichten zu erzählen,
erreicht auch Menschen, die sich eigentlich nicht für Politik
interessieren.
Zu sehen, wie ein Video von mir insgesamt eine Million Menschen auf
Instagram und Tiktok erreicht hat, freut mich. Noch schöner ist es aber,
eine kleine Community aufzubauen. Die Menschen ergänzen meine Gedanken oft
mit ihren eigenen Erfahrungen oder diskutieren mit mir in meinen
Livestreams. Plötzlich bekomme ich täglich Nachrichten von Menschen, die
sagen, dass sie sich wegen meiner Videos jetzt ehrenamtlich engagieren
wollen.
Vielleicht kann [13][das „Problem“ Tiktok also auch Lösungen für
demokratische Akteure] bieten, wenn sie sich von langweiligen Zitatkacheln
verabschieden und [14][die Plattform nicht den Extremisten überlassen].
## 6. Lasst uns allen jungen Menschen 20.000 Euro auszahlen!
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung. Er unterrichtet Makroökonomie an der
Humboldt-Universität Berlin.
Die Zukunft sah schon mal besser aus. 84 Prozent der Menschen in
Deutschland sind laut Umfragen überzeugt, dass es künftigen Generationen
schlechter gehen wird als ihnen. Gerade junge Menschen machen sich – völlig
zu Recht – [15][Sorgen um die Konsequenzen von Klimawandel], sozialer
Polarisierung, geopolitischen Konflikten, um die Kosten des Wohnens und was
technologische Veränderungen für ihre Arbeit bedeuten. Diese Zukunftsängste
lähmen die junge Generation. Sie erschweren es ihr, Weichen für ihre
Zukunft zu stellen, und sie führen zu weniger sozialer und politischer
Teilhabe. Dies höhlt die Demokratie zunehmend aus.
Um diesem Trend entgegenzuwirken, brauchen junge Menschen wieder mehr
Perspektiven und finanzielle Spielräume für eigenverantwortliche
Lebensentscheidungen. [16][Ein Grunderbe] – oder Lebenschancenerbe – für
jeden jungen Menschen in Höhe von 20.000 Euro wäre dafür ein ganz wichtiger
Baustein.
Ein solches Grunderbe würde die Chancengleichheit verbessern. Es würde
manch jungen Menschen, der keine große finanzielle Unterstützung von den
Eltern erhält, dazu ermutigen, dennoch zu studieren oder einen
Ausbildungsweg einzuschlagen, der nicht unmittelbar ein vielversprechendes
Einkommen abwirft. Ein Grunderbe kann die Freiheit schaffen, Risiken
einzugehen, beispielsweise sich selbstständig zu machen.
Eine Gesellschaft kann nur florieren, wenn sie möglichst vielen solche
Freiheiten ermöglicht. Innovation und Kreativität können nicht staatlich
verordnet werden; sie erfordern den Mut, unkonventionelle Wege zu gehen.
Mit einem Grunderbe ließen sich sicherlich nicht alle Wünsche realisieren,
aber es könnte viele neue Optionen bei der Gestaltung von Lebenswegen
eröffnen.
Ein Staat, der die Zukunft des Landes langfristig sichern will, sollte in
die Fähigkeiten und Potenziale seiner jungen Bürger*innen investieren.
Die Idee des Grunderbes ist, dass nicht der Staat entscheidet, wer wann
welche Leistung erhält. Stattdessen wird jeder einzelne Mensch in die Lage
versetzt, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Wer kann
das in einer liberalen Demokratie ablehnen?
## 7. Lasst uns um die ländlichen Räume kämpfen!
Romy Arnold ist Projektleiterin der Mobilen Beratung in Thüringen. Diese
berät vor Ort zum Umgang mit Rechtsextremismus und
Verschwörungserzählungen.
Unsere Arbeit verhindert nicht, dass es Rechtsextreme gibt. Wir haben die
Menschen im Blick, denen die Demokratie am Herzen liegt. Schon eine kleine
Gruppe Engagierter, ein stabiler Verein oder auch eine Einzelperson, die
Haltung zeigt und vor Ort das Zusammenleben aktiv mitgestaltet, kann das
ganze Klima ändern. Diese Menschen brauchen Unterstützung, Wertschätzung
und Schutz.
Mit der Mobilen Beratung beraten und unterstützen wir Engagierte, die für
Menschenrechte eintreten, wo sie sind: in ihrem Dorf, in ihrer Stadt. Das
geht allerdings nur, wenn die Menschen vor Ort auch den Mut haben, sich für
Grundwerte wie Zivilgesellschaft und Demokratie und gegen Rechtsextremismus
einzusetzen.
Doch dazu braucht es nicht zuletzt den Mut von Akteur*innen in Politik
und Verwaltung. Wir erleben noch immer, wie Hinweise aus der
Zivilgesellschaft mit Blick auf rechte Strukturen vor Ort von der lokalen
Politik ignoriert oder kleingeredet werden.
Der Aufstand der Anständigen läuft ohne die Verantwortung der Zuständigen
ins Leere. Viel zu oft erleben wir, wie Politik und Verwaltung
demokratisches Engagement gegen die extreme Rechte diskreditieren und
erschweren.
Gleichzeitig hinterlässt die Politik gerade im ländlichen Raum Lücken. Wenn
alle Behörden, Verwaltungen, staatliche Einrichtungen und die
Daseinsfürsorge aus dem Ort verschwunden sind, ist auch Politik und
Demokratie nicht mehr ansprech- und erlebbar. Menschen [17][ziehen sich
dann von ihr zurück]. Im schlimmsten Fall füllen extrem rechte
Akteur*innen genau diese Lücken mit eigenen niedrigschwelligen
Angeboten.
Dort, wo es eine akzeptierende wertschätzende Zusammenarbeit zwischen der
demokratischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und lokaler Politik gibt,
gelingt es, solche Räume zurückzuholen. Ein Beispiel dafür [18][ist der Ort
Themar], in dem es nach jahrelangen Kämpfen gelungen ist, die großen
RechtsRock-Festivals durch eine gute Zusammenarbeit mit Verwaltung, Polizei
und Politik zurückzudrängen.
Kurzfristige Projekte und Sonntagsreden angesichts erschreckender
Wahlergebnisse bringen nichts. Demokratie braucht einen sehr langen Atem.
## 8. Lasst uns dem Populismus mit Memes begegnen!
Nils Haentjes ist der Kopf hinter dem Instagram-Account
„Antiverschwurbelte Aktion“. Dort teilt er Recherchen, Posts zum
Zeitgeschehen und Memes gegen Populismus.
Als ich im Herbst 2023 mit meinen Eltern über die aktuelle politische Lage
sprach, wurde mir klar, wie sehr mich die Entwicklungen belasten. Rechter
Populismus, Hass und Hetze haben besonders auf Social Media eine
alarmierende Normalität erreicht. Durch die Anonymität des Internets sinkt
die Hemmschwelle für hasserfüllte Kommentare und Parolen.
Solche Entwicklungen sind ernst, aber sie sollten auch kein Grund für uns
sein, die Hände in den Schoß zu legen. Menschen, die sich für den Erhalt
der Demokratie zusammenschließen, können viel erreichen. Zuletzt zeigte
sich das in den beeindruckenden Demonstrationswellen gegen
Rechtsextremismus, die als Antwort auf die Correctiv-Recherche über die AfD
Anfang 2024 über unser Land rollten.
Auch ich ging damals mit zehntausenden Menschen auf die Straße. Es war ein
Zeichen: Wir sind mehr. Wir, die für eine offene und freie Gesellschaft
stehen. Wir, die der Wissenschaft und den Fakten vertrauen und Menschen mit
Respekt begegnen.
Auf Social Media sieht das Bild oft anders aus. Dort scheinen die
rechtsextremen Hetzer in der Überzahl zu sein. Populismus und
Menschenfeindlichkeit finden dort leichter Gehör – und Klicks. Positive
Meinungen und differenzierte Positionen haben es im Netz schwerer, sich
durchzusetzen. Dieser verzerrte Eindruck führt dazu, dass sich viele
Menschen entmutigt fühlen.
Hier will ich gegenwirken. Deshalb investiere ich seit Anfang des Jahres
täglich Zeit und Mühe in die Erstellung von Inhalten für meine
Instagram-Seite „Antiverschwurbelte Aktion“. Durch Recherchen, Posts zum
aktuellen Zeitgeschehen und Memes versuche ich, ein sowohl differenziertes
als auch verständliches Bild der gesellschaftlichen Lage zu zeichnen. So
will ich nicht nur Menschen erreichen, die sich ohnehin für Politik
interessieren, sondern auch solche, die sonst eher unbeteiligt bleiben.
Meinen mittlerweile rund 20.000 Follower:innen möchte ich eine
Plattform bieten, auf der Fakten und Respekt zählen. Und auf der sie sich
mit anderen aktiven Menschen vernetzen können.
Mein Engagement auf Social Media sehe ich als meinen Beitrag zum größeren
Kampf für unsere Demokratie. Es braucht viele Stimmen, um gegen die laute
Minderheit der Hetzer:innen anzukommen. Jeder Beitrag, jedes Gespräch,
jede Demonstration zählt.
## 9. Lasst uns Leute vor Gericht bringen, die falsche Fakten verbreiten!
Ingrid Brodnig schreibt als Autorin über Desinformation. Ihr Buch „Wider
die Verrohung“ behandelt Methoden der Diskussionszerstörung und mögliche
Reaktionen darauf.
Meine Idee möchte ich als Doppelstrategie formulieren. Wer die Demokratie
retten will, muss gegen Desinformation kämpfen. Und gegen Desinformation
helfen zwei Dinge: Klagen und Aufklärung.
Falschmeldungen zielen darauf ab, konkrete Personen verächtlich zu machen.
Annalena Baerbock hat natürlich nicht behauptet, das Hakenkreuz wäre ein
Freiheitssymbol für die Ukraine – mit solchen erfundenen Zitaten werden
Leute oder ganze Staaten diskreditiert. Gerade wenn Desinformation konkrete
Menschen attackiert, ist diese oft justiziabel, weil Persönlichkeitsrechte
verletzt werden.
Klagen können wirkungsvoll sein. In Österreich verklagte etwa der
ORF-Moderator Armin Wolf den damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache,
weil dieser ihm die Verbreitung von Lügen vorwarf. Strache [19][zahlte
10.000 Euro Entschädigung und entschuldigte sich öffentlich]. Eine neue
qualitative Schweizer Untersuchung deutet darauf hin, dass rechtliche
Schritte durchaus Folgen haben. Wenn Menschen online mit Hasskommentaren
auffallen und dafür polizeilich angezeigt werden, kann das eine bremsende
Wirkung auf ihr künftiges Onlineverhalten haben.
Wenn falsche Zitate über Politiker:innen auffliegen, heißt es schnell
mal: „Aber der Person XYZ wäre das doch zuzutrauen!“ Vielen Menschen fällt
es schwer, einen Faktencheck anzuerkennen, wenn er das schöne Gefühl der
Bestätigung zerstört. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob eine
Aussage die eigene Meinung widerspiegelt oder eine Tatsachenbehauptung ist,
die man überprüfen und widerlegen kann. Das zu lernen, dazu müssen Schul-
und Mediensysteme anregen.
Nur 45 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler können in
Onlinetexten Fakten und Meinungen voneinander unterscheiden. Das ergab eine
Sonderauswertung zur Pisa-Studie 2018. In unserer Zeit wird oft suggeriert,
alles sei Ansichtssache. Aber Fakten sind keine Ansichtssache. Daran müssen
wir kollektiv festhalten.
## 10. Lasst uns die Demokratie KI-fest machen!
Matthias Spielkamp ist Mitgründer von AlgorithmWatch. Die Organisation
setzt sich dafür ein, dass algorithmische Systeme wie KI den Menschen
zugutekommen.
Künstliche Intelligenz wird die Welt retten! Sie wird den Klimawandel
stoppen, den Hunger in der Welt beenden und uns von Routinearbeit befreien.
So posaunen es jedenfalls Unternehmen und Regierungen überall herum.
[20][Stattdessen frisst KI Strom und Wasser] in gigantischem Ausmaß;
Menschen im Globalen Süden „reinigen“ sie zu Billiglöhnen von
traumatisierenden Bildern sexueller Gewalt. Statt mehr Freizeit zu haben,
[21][werden wir Menschen zu Hilfsarbeiter*innen von KI-Systemen.]
Wir brauchen keine weiteren KI-Strategien. Wir können keine „demokratische
KI“ gestalten, denn KIs sind nicht demokratisch. Gesellschaften sind es –
wenn sie es denn sind. Was wir brauchen, ist eine Demokratiestrategie, um
unsere Gesellschaften KI-fest zu machen. Durch mehr Bildung und Diversität,
durch mehr Mitbestimmung und Transparenz, durch mehr Klimaschutz und
Solidarität. Wir müssen weg von der Prämisse, dass KI die Lösung ist, zu
der nur noch das passende Problem fehlt. Und stattdessen die Diskussion vom
Kopf auf die Füße stellen.
Wir werden künstliche Intelligenz erst dann zu unser aller Vorteil nutzen
können, wenn Menschen die Urteilskraft haben, zu verstehen, was sie kann
und nicht kann, wozu sie genutzt werden sollte und wozu nicht. Dazu
brauchen wir Investitionen in Kitas und Schulen, in denen Kinder keine
iPads bekommen, sondern einen guten Personalschlüssel. Wir brauchen
digitale Lieferketten- und Steuergesetze. Wir müssen dafür sorgen, dass
OpenAI, Google, Amazon und Microsoft nicht die Kosten der Naturzerstörung
sowie die Folgen traumatisierender Arbeitsbedingungen der Gemeinschaft
aufhalsen können und gleichzeitig die Gewinne einstreichen.
Mitbestimmung in Betrieben muss so funktionieren, dass immer auch
Arbeitnehmer*innen vom Einsatz von KI profitieren, nicht allein die
Unternehmen. Wir brauchen wirksame Haftungsregeln, die dafür sorgen, dass
Verantwortung nicht an Maschinen abgetreten werden kann, weder von
Unternehmen noch von Regierungen. Digitale Infrastruktur – Software,
Cloud-Angebote und mehr – muss so verstanden werden wie Autobahnen: Die
Gemeinschaft muss investieren, macht aber auch die Regeln.
Das ist eine Mammutherausforderung. Wir müssen sie bewältigen. Es ist an
uns, dafür zu sorgen, dass nicht globale Megakonzerne darüber entscheiden,
wie und zu wessen Vorteil KI eingesetzt wird – sondern selbstständig
denkende Menschen in demokratischen Prozessen.
10 Aug 2024
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