# taz.de -- 10 Ideen von Intellektuellen: Wie retten wir die Demokratie? | |
> Rechtsruck, Klimakrise, Autokraten – die Liste der Bedrohnungen können | |
> viele Menschen nicht mehr hören. Zehn Vorschläge für ein | |
> Demokratie-Update. | |
Bild: Eine Demokratie setzt sich aus den Interessen vieler verschiedener Mensch… | |
Hier könnte eine Liste des Grauens stehen: Rechte Wahlerfolge, drohender | |
Klimakollaps, Autokraten mit Atombomben. Unsere Demokratie ist bedroht, ihr | |
Image als Exportschlager stark ramponiert. Doch die Schlagworte verstopfen | |
das Gehirn und damit auch das konstruktive Nachdenken über die Demokratie | |
der Zukunft. Die großen Krisen scheinen unsere Zukunft festzuschreiben, | |
verdammen uns dazu, nur noch zu reagieren und uns anzupassen. | |
Das wollen wir nicht hinnehmen. Die taz hat zehn Menschen gefragt, wie die | |
Demokratie im 21. Jahrhundert nicht nur überleben, sondern auch besser | |
werden kann. Hier sind ihre Ideen. | |
## 1. Lasst uns aufhören, Wählerinnen und Wähler wie Kinder zu behandeln! | |
Hedwig Richter ist Historikerin. In ihrem Buch „Demokratie und Revolution“ | |
plädiert sie gemeinsam mit Bernd Ulrich für eine mündige Demokratie, die | |
die Klimakrise angeht. | |
Nach sechzehn Jahren Merkel, nach drei Jahren Olaf Scholz, nach endlosen | |
Zeiten der Zugeständnisse, des „Wir kümmern uns, macht Euch mal keine | |
Sorgen“ – wäre es nicht angebracht, mal den Kurs zu wechseln? Es wäre eine | |
Revolution, ein komplettes Um- und Neudenken: eine Demokratie für | |
Erwachsene. | |
„Hier, nur ein ganz kleiner Bissen noch, es liegt auch ein Stück Zucker | |
drauf“: Wie trotzigen Kindern versuchen Regierungen ihren Bürgerinnen und | |
Bürgern die anstehenden Veränderungen schmackhaft zu machen. Sie bieten | |
ihnen Steuergeschenke an und verwerfen unbeliebte Maßnahmen wie die | |
[1][Stilllegungspflicht von Landflächen], die der Anfang einer Politik zum | |
Artenschutz gewesen wäre. [2][Waffenlieferungen an die Ukraine?] In | |
Ordnung, aber nur so viele, wie es das empfindsame Volk verkraften kann. | |
Für die Konsequenzen ihres Tuns, so die tägliche Botschaft, tragen die | |
Menschen keine Verantwortung. | |
Diese Beschwichtigungspolitik erweist sich als fruchtlos. Die Ziele des | |
[3][Pariser Abkommens] werden nicht eingehalten, der Umbau der Industrie | |
stockt – falls er überhaupt begonnen hat – und viele Menschen finden die | |
Grünen mit ihrem Öko einfach scheiße. | |
Politik für Erwachsene würde davon ausgehen, dass Menschen in einer | |
Demokratie als Bürgerinnen und Bürger angesprochen werden, dass sie | |
Verantwortung tragen. Und dass die Politik sagt, was Sache ist. Die Frage | |
wäre dann nicht mehr: Wie bequem macht man dem unmündigen Volk die | |
notwendigen Veränderungen, wie minimal müssen die Häppchen sein? Sondern: | |
Was ist notwendig, und wie schaffen wir das in unserer Republik? | |
Ausgangspunkt wären nicht länger der Kleinmut und die Konsumprognosen, | |
sondern das, was notwendig wäre, um ein Leben in Zerstörung zu beenden und | |
die demokratische Freiheit zu retten. | |
## 2. Lasst uns Politik mit Kennzahlen messbar machen! | |
Ralph Brinkhaus ist CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger | |
Fraktionsvorsitzender. | |
Was die Bundespolitik braucht, ist eine klare Systematik. Bürgerinnen und | |
Bürger können Zusammenhänge zwischen vielen Zielen und Maßnahmen nicht mehr | |
nachvollziehen, da messbare Kennzahlen fehlen. Wurden nun Fortschritte | |
erzielt? Was genau soll überhaupt erreicht werden? Antworten auf diese | |
Fragen sind schwer zu formulieren. Selbst dort, wo es Kennzahlen gibt, so | |
etwa in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, bleiben sie oft im | |
Verborgenen. | |
Dieses Problem ist das Ergebnis von Kompromissen zwischen Parteien mit | |
unterschiedlichen Politikansätzen. Die machen sich auch in den | |
Koalitionsvereinbarungen bemerkbar: 1961 hatten sie einen Umfang von 9 | |
Seiten, 2021 waren es 177. Eine nachhaltige Abarbeitung dieses | |
umfangreichen Katalogs scheitert dann oft an ungeplanten Ereignissen wie | |
der Eurokrise, der Coronapandemie oder dem [4][Krieg in der Ukraine], die | |
alle Pläne ganz schnell relativieren. | |
Daher mein Vorschlag: Der nächste Koalitionsvertrag enthält 3 Seiten und | |
benennt höchstens 10 Leitziele. Um sie für Bürgerinnen und Bürger greifbar | |
zu machen, müssen sie alle mit Kennzahlen unterlegt sein. Als Beispiele | |
fallen mir ein: „Längere Lebenserwartung“, „Wohlstandssteigerung“, | |
[5][„Mehr Wohnraum“] oder [6][„CO2-Reduktion“]. Alle beteiligten Partei… | |
definieren dann ihre roten Linien und setzen Prioritäten innerhalb der | |
Leitziele. | |
Auf diese Weise könnten ganze Ministerien neu gebildet werden: Statt sich | |
an die seit 75 Jahren bestehenden Ressorts zu halten, könnten Ministerinnen | |
und Minister ihre Arbeit an den Zielen orientieren und messen, welche im | |
Koalitionsvertrag festgelegt wurden. Dann verhandelt die Bundesregierung | |
mit dem Bundestag über die für die Zielerreichung benötigten Finanzmittel | |
und Gesetze. | |
Ob die Ziele erreicht worden sind oder nicht, kann der Bundestag jedes Jahr | |
anhand der im Koalitionsvertrag festgelegten Kennzahlen entscheiden. Dies | |
wäre ein für Bürgerinnen und Bürger transparenter und nachvollziehbarer | |
Prozess, der eine bessere Bewertung der Politik ermöglichen würde. | |
## 3. Lasst uns unsere familiären Vergangenheiten aufrollen! | |
Hadija Haruna-Oelker ist Autorin und Moderatorin. 2022 erschien ihr Buch | |
über „Die Schönheit der Differenz“. | |
Was tun im [7][76. Jahr des Grundgesetzes], in dem die Würde so vieler | |
Menschen antastbar, unsere Demokratie nicht sicher ist und [8][Deutschland | |
nach rechts rückt]? In einer Zeit, in der Menschenrechte abschätzig als | |
„woke“ weggeredet werden? Eine andere Richtung einschlagen. | |
Dafür müssen wir zunächst daran erinnern und verstehen, wie der | |
gesellschaftliche Dissens so groß werden konnte. Wir sind auf- und | |
herausgefordert, unsere familiären Vergangenheiten im Privaten aufzurollen, | |
um sie dann gemeinsam in Bildungsräumen zu überarbeiten. Nur so kann unsere | |
gängige Erinnerungskultur öffentlich und im Politischen neu verhandelt | |
werden. | |
Wer und was nimmt Einfluss auf unsere alltäglichen Vorstellungen, auf die | |
mediale Berichterstattung? Darauf müssen wir dringend Antworten finden. | |
Denn unsere „superdiverse“ Gesellschaft setzt sich aus Menschen zusammen, | |
deren Biografien und Beziehungen zu diesem Land so unterschiedlich sind wie | |
die Menschen selbst. So viele haben dafür einst mit ihrem Leben bezahlt. | |
Die Frage nach einer Demokratie der Zukunft beantwortet sich daher auch im | |
Wissen um die Identitäten, die unsere Gesellschaft ausmachen. Wir brauchen | |
eine Erzählung, die alle mit einschließt, denn die Zukunft der Demokratie | |
ist inklusiv. | |
Vor allem müssen wir Wege finden, marginalisierte Gruppen nicht mehr | |
auszugrenzen und abzuwerten. Das bedeutet auch, unser soziales | |
Selbstverständnis zu hinterfragen. [9][Inklusion] ist eine Vision und | |
politische Leitidee, ein pädagogisches Ziel und ein individueller | |
Lernprozess, der von klein auf, bereits in Kindergärten, vermittelt werden | |
sollte. Inklusion kann unser Miteinander zum Positiven verändern, wenn sie | |
endlich, wirklich umgesetzt wird. | |
Stellen wir uns also eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit vor. Eine | |
Gesellschaft, in der Menschen Verantwortung übernehmen und andere | |
auffordern, das ebenfalls zu tun. Dafür muss sich jede*r einzelne an | |
grundsätzlichen Perspektivwechseln versuchen. Denn schlussendlich sind wir | |
alle daran beteiligt, an unserer Demokratie der Zukunft. | |
## 4. Lasst uns arme Menschen als Zielgruppe von Politik entdecken! | |
Helena Steinhaus ist Gründerin von Sanktionsfrei. Der Verein setzt sich für | |
die Belange von Menschen ein, die Grundsicherung beziehen. | |
Der Zustand einer Demokratie wird an den Wahlen gemessen. 76,6 Prozent | |
Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl – das klingt ganz okay. Aber | |
wenn man genauer hinschaut, ist es nicht okay: Die Beteiligung von Menschen | |
mit geringem Einkommen ist dramatisch gering. 2018 ging nur noch jeder | |
zweite Erwerbslose wählen, während es bei Menschen mit hohem Einkommen bis | |
zu 90 Prozent waren! | |
Das ist kein Zufall. Wer über Geld, Einkommen, Vermögen verfügt, kann die | |
Demokratie auch jenseits der Wahlen mitgestalten und füllt deswegen auch | |
brav seinen Stimmzettel aus. Die Belange armer Menschen werden zugleich mit | |
großer Beharrlichkeit ignoriert. Im Lobgesang auf angebliche | |
Leistungsträger unserer Gesellschaft überbieten sich die | |
bürgerlich-liberalen Parteien. Armut dient ihnen nur als Kulisse für diese | |
Darbietung. | |
Deswegen mein Vorschlag: Lasst uns doch mal die 20 Millionen Menschen an | |
und unter der Armutsgrenze so behandeln, wie sonst Reiche behandelt werden. | |
Lasst uns ihnen zuhören, Gesetze für sie gestalten, ihnen Privilegien | |
zuschustern und auch mal Fünfe gerade sein lassen. | |
Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir das Steuersystem anders staffeln würden? | |
Derzeit zahlen den höchsten Steuersatz von 45 Prozent Menschen mit einem | |
Jahreseinkommen von über 260.000 Euro. Danach kommt nix mehr. Was würde | |
passieren, wenn wir ab einer halben Million Euro Einkommen einfach 5 Cent | |
mehr von jedem Euro für die Gemeinschaft in Anspruch nehmen? Und ab einer | |
ganzen Million noch ein paar Cent mehr? | |
Was würde passieren, wenn wir die Regelsatz-Leistungen des Bürgergelds von | |
563 auf 813 Euro anheben und damit wirksam vor Armut schützen würden? Es | |
wäre ein Leichtes, Nebentätigkeiten von Abgeordneten genauso zu behandeln | |
wie Zuverdienste im Bürgergeld – nämlich: Rund 80 Prozent werden mit den | |
Diäten verrechnet. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, [10][bis sich | |
auch das Bürgergeld-System grundlegend ändert.] | |
Und wetten, dass bei der nächsten Wahl viel mehr Menschen ein Kreuz machen? | |
Und zwar [11][nicht bei demokratiefeindlichen, menschenverachtenden | |
Rassisten], sondern bei Parteien, die für ihr Leben Veränderungen erreicht | |
haben. Das ist gar nicht so radikal, wie manche behaupten, sondern einfach | |
nur wunderbar demokratisch. | |
## 5. Lasst uns Tiktok als Teil der Lösung betrachten! | |
Theresia Crone ist Aktivistin und Kolumnistin. Sie prägte den Hashtag | |
#ReclaimTikTok mit: Progressive Inhalte sollten unter diesem Hashtag | |
rechten Content verdrängen. | |
Letzte Woche bin ich aus meiner Studienstadt Paris in meine ostdeutsche | |
Heimatstadt Schwerin zurückgekehrt. Auf einmal kostet das „pinte de bière“ | |
nicht mehr acht Euro, sondern nur noch die Hälfte. So weit, so gut. | |
Meine Kneipennacht brachte mir aber noch eine weitere Erkenntnis: Eines der | |
größten Probleme unserer Demokratie ist die Fragmentierung unseres | |
Diskurses. Die Debatten, die ich in einer Pariser Studentenbar führe, | |
könnten nicht weiter entfernt sein von den Argumenten, die ich mir in | |
meiner Schweriner Stammkneipe anhören darf oder muss. | |
Unterschiedliche Milieus oder „Bubbles“ gab es schon immer. Nur kommt jetzt | |
hinzu, dass unser Medienkonsum zu einem großen Teil von Algorithmen | |
gesteuert wird. Mein Feed auf Tiktok und Instagram sieht völlig anders aus | |
als der meiner alten Bekannten in Schwerin. Ich weiß nicht, wie man diesem | |
Problem langfristig begegnen kann, aber ich glaube, eine Lösung bietet | |
Tiktok selbst schon an. | |
Vor der Europawahl habe ich [12][im Rahmen der #ReclaimTiktok-Kampagne] | |
angefangen, selbst Fragmente in den Algorithmus zu füttern. Wenn ich die | |
AfD kritisiere oder für Klimaschutz werbe, bekomme ich viel Hass – klar. | |
Doch wer es schafft, auf Tiktok authentisch Geschichten zu erzählen, | |
erreicht auch Menschen, die sich eigentlich nicht für Politik | |
interessieren. | |
Zu sehen, wie ein Video von mir insgesamt eine Million Menschen auf | |
Instagram und Tiktok erreicht hat, freut mich. Noch schöner ist es aber, | |
eine kleine Community aufzubauen. Die Menschen ergänzen meine Gedanken oft | |
mit ihren eigenen Erfahrungen oder diskutieren mit mir in meinen | |
Livestreams. Plötzlich bekomme ich täglich Nachrichten von Menschen, die | |
sagen, dass sie sich wegen meiner Videos jetzt ehrenamtlich engagieren | |
wollen. | |
Vielleicht kann [13][das „Problem“ Tiktok also auch Lösungen für | |
demokratische Akteure] bieten, wenn sie sich von langweiligen Zitatkacheln | |
verabschieden und [14][die Plattform nicht den Extremisten überlassen]. | |
## 6. Lasst uns allen jungen Menschen 20.000 Euro auszahlen! | |
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für | |
Wirtschaftsforschung. Er unterrichtet Makroökonomie an der | |
Humboldt-Universität Berlin. | |
Die Zukunft sah schon mal besser aus. 84 Prozent der Menschen in | |
Deutschland sind laut Umfragen überzeugt, dass es künftigen Generationen | |
schlechter gehen wird als ihnen. Gerade junge Menschen machen sich – völlig | |
zu Recht – [15][Sorgen um die Konsequenzen von Klimawandel], sozialer | |
Polarisierung, geopolitischen Konflikten, um die Kosten des Wohnens und was | |
technologische Veränderungen für ihre Arbeit bedeuten. Diese Zukunftsängste | |
lähmen die junge Generation. Sie erschweren es ihr, Weichen für ihre | |
Zukunft zu stellen, und sie führen zu weniger sozialer und politischer | |
Teilhabe. Dies höhlt die Demokratie zunehmend aus. | |
Um diesem Trend entgegenzuwirken, brauchen junge Menschen wieder mehr | |
Perspektiven und finanzielle Spielräume für eigenverantwortliche | |
Lebensentscheidungen. [16][Ein Grunderbe] – oder Lebenschancenerbe – für | |
jeden jungen Menschen in Höhe von 20.000 Euro wäre dafür ein ganz wichtiger | |
Baustein. | |
Ein solches Grunderbe würde die Chancengleichheit verbessern. Es würde | |
manch jungen Menschen, der keine große finanzielle Unterstützung von den | |
Eltern erhält, dazu ermutigen, dennoch zu studieren oder einen | |
Ausbildungsweg einzuschlagen, der nicht unmittelbar ein vielversprechendes | |
Einkommen abwirft. Ein Grunderbe kann die Freiheit schaffen, Risiken | |
einzugehen, beispielsweise sich selbstständig zu machen. | |
Eine Gesellschaft kann nur florieren, wenn sie möglichst vielen solche | |
Freiheiten ermöglicht. Innovation und Kreativität können nicht staatlich | |
verordnet werden; sie erfordern den Mut, unkonventionelle Wege zu gehen. | |
Mit einem Grunderbe ließen sich sicherlich nicht alle Wünsche realisieren, | |
aber es könnte viele neue Optionen bei der Gestaltung von Lebenswegen | |
eröffnen. | |
Ein Staat, der die Zukunft des Landes langfristig sichern will, sollte in | |
die Fähigkeiten und Potenziale seiner jungen Bürger*innen investieren. | |
Die Idee des Grunderbes ist, dass nicht der Staat entscheidet, wer wann | |
welche Leistung erhält. Stattdessen wird jeder einzelne Mensch in die Lage | |
versetzt, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Wer kann | |
das in einer liberalen Demokratie ablehnen? | |
## 7. Lasst uns um die ländlichen Räume kämpfen! | |
Romy Arnold ist Projektleiterin der Mobilen Beratung in Thüringen. Diese | |
berät vor Ort zum Umgang mit Rechtsextremismus und | |
Verschwörungserzählungen. | |
Unsere Arbeit verhindert nicht, dass es Rechtsextreme gibt. Wir haben die | |
Menschen im Blick, denen die Demokratie am Herzen liegt. Schon eine kleine | |
Gruppe Engagierter, ein stabiler Verein oder auch eine Einzelperson, die | |
Haltung zeigt und vor Ort das Zusammenleben aktiv mitgestaltet, kann das | |
ganze Klima ändern. Diese Menschen brauchen Unterstützung, Wertschätzung | |
und Schutz. | |
Mit der Mobilen Beratung beraten und unterstützen wir Engagierte, die für | |
Menschenrechte eintreten, wo sie sind: in ihrem Dorf, in ihrer Stadt. Das | |
geht allerdings nur, wenn die Menschen vor Ort auch den Mut haben, sich für | |
Grundwerte wie Zivilgesellschaft und Demokratie und gegen Rechtsextremismus | |
einzusetzen. | |
Doch dazu braucht es nicht zuletzt den Mut von Akteur*innen in Politik | |
und Verwaltung. Wir erleben noch immer, wie Hinweise aus der | |
Zivilgesellschaft mit Blick auf rechte Strukturen vor Ort von der lokalen | |
Politik ignoriert oder kleingeredet werden. | |
Der Aufstand der Anständigen läuft ohne die Verantwortung der Zuständigen | |
ins Leere. Viel zu oft erleben wir, wie Politik und Verwaltung | |
demokratisches Engagement gegen die extreme Rechte diskreditieren und | |
erschweren. | |
Gleichzeitig hinterlässt die Politik gerade im ländlichen Raum Lücken. Wenn | |
alle Behörden, Verwaltungen, staatliche Einrichtungen und die | |
Daseinsfürsorge aus dem Ort verschwunden sind, ist auch Politik und | |
Demokratie nicht mehr ansprech- und erlebbar. Menschen [17][ziehen sich | |
dann von ihr zurück]. Im schlimmsten Fall füllen extrem rechte | |
Akteur*innen genau diese Lücken mit eigenen niedrigschwelligen | |
Angeboten. | |
Dort, wo es eine akzeptierende wertschätzende Zusammenarbeit zwischen der | |
demokratischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und lokaler Politik gibt, | |
gelingt es, solche Räume zurückzuholen. Ein Beispiel dafür [18][ist der Ort | |
Themar], in dem es nach jahrelangen Kämpfen gelungen ist, die großen | |
RechtsRock-Festivals durch eine gute Zusammenarbeit mit Verwaltung, Polizei | |
und Politik zurückzudrängen. | |
Kurzfristige Projekte und Sonntagsreden angesichts erschreckender | |
Wahlergebnisse bringen nichts. Demokratie braucht einen sehr langen Atem. | |
## 8. Lasst uns dem Populismus mit Memes begegnen! | |
Nils Haentjes ist der Kopf hinter dem Instagram-Account | |
„Antiverschwurbelte Aktion“. Dort teilt er Recherchen, Posts zum | |
Zeitgeschehen und Memes gegen Populismus. | |
Als ich im Herbst 2023 mit meinen Eltern über die aktuelle politische Lage | |
sprach, wurde mir klar, wie sehr mich die Entwicklungen belasten. Rechter | |
Populismus, Hass und Hetze haben besonders auf Social Media eine | |
alarmierende Normalität erreicht. Durch die Anonymität des Internets sinkt | |
die Hemmschwelle für hasserfüllte Kommentare und Parolen. | |
Solche Entwicklungen sind ernst, aber sie sollten auch kein Grund für uns | |
sein, die Hände in den Schoß zu legen. Menschen, die sich für den Erhalt | |
der Demokratie zusammenschließen, können viel erreichen. Zuletzt zeigte | |
sich das in den beeindruckenden Demonstrationswellen gegen | |
Rechtsextremismus, die als Antwort auf die Correctiv-Recherche über die AfD | |
Anfang 2024 über unser Land rollten. | |
Auch ich ging damals mit zehntausenden Menschen auf die Straße. Es war ein | |
Zeichen: Wir sind mehr. Wir, die für eine offene und freie Gesellschaft | |
stehen. Wir, die der Wissenschaft und den Fakten vertrauen und Menschen mit | |
Respekt begegnen. | |
Auf Social Media sieht das Bild oft anders aus. Dort scheinen die | |
rechtsextremen Hetzer in der Überzahl zu sein. Populismus und | |
Menschenfeindlichkeit finden dort leichter Gehör – und Klicks. Positive | |
Meinungen und differenzierte Positionen haben es im Netz schwerer, sich | |
durchzusetzen. Dieser verzerrte Eindruck führt dazu, dass sich viele | |
Menschen entmutigt fühlen. | |
Hier will ich gegenwirken. Deshalb investiere ich seit Anfang des Jahres | |
täglich Zeit und Mühe in die Erstellung von Inhalten für meine | |
Instagram-Seite „Antiverschwurbelte Aktion“. Durch Recherchen, Posts zum | |
aktuellen Zeitgeschehen und Memes versuche ich, ein sowohl differenziertes | |
als auch verständliches Bild der gesellschaftlichen Lage zu zeichnen. So | |
will ich nicht nur Menschen erreichen, die sich ohnehin für Politik | |
interessieren, sondern auch solche, die sonst eher unbeteiligt bleiben. | |
Meinen mittlerweile rund 20.000 Follower:innen möchte ich eine | |
Plattform bieten, auf der Fakten und Respekt zählen. Und auf der sie sich | |
mit anderen aktiven Menschen vernetzen können. | |
Mein Engagement auf Social Media sehe ich als meinen Beitrag zum größeren | |
Kampf für unsere Demokratie. Es braucht viele Stimmen, um gegen die laute | |
Minderheit der Hetzer:innen anzukommen. Jeder Beitrag, jedes Gespräch, | |
jede Demonstration zählt. | |
## 9. Lasst uns Leute vor Gericht bringen, die falsche Fakten verbreiten! | |
Ingrid Brodnig schreibt als Autorin über Desinformation. Ihr Buch „Wider | |
die Verrohung“ behandelt Methoden der Diskussionszerstörung und mögliche | |
Reaktionen darauf. | |
Meine Idee möchte ich als Doppelstrategie formulieren. Wer die Demokratie | |
retten will, muss gegen Desinformation kämpfen. Und gegen Desinformation | |
helfen zwei Dinge: Klagen und Aufklärung. | |
Falschmeldungen zielen darauf ab, konkrete Personen verächtlich zu machen. | |
Annalena Baerbock hat natürlich nicht behauptet, das Hakenkreuz wäre ein | |
Freiheitssymbol für die Ukraine – mit solchen erfundenen Zitaten werden | |
Leute oder ganze Staaten diskreditiert. Gerade wenn Desinformation konkrete | |
Menschen attackiert, ist diese oft justiziabel, weil Persönlichkeitsrechte | |
verletzt werden. | |
Klagen können wirkungsvoll sein. In Österreich verklagte etwa der | |
ORF-Moderator Armin Wolf den damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, | |
weil dieser ihm die Verbreitung von Lügen vorwarf. Strache [19][zahlte | |
10.000 Euro Entschädigung und entschuldigte sich öffentlich]. Eine neue | |
qualitative Schweizer Untersuchung deutet darauf hin, dass rechtliche | |
Schritte durchaus Folgen haben. Wenn Menschen online mit Hasskommentaren | |
auffallen und dafür polizeilich angezeigt werden, kann das eine bremsende | |
Wirkung auf ihr künftiges Onlineverhalten haben. | |
Wenn falsche Zitate über Politiker:innen auffliegen, heißt es schnell | |
mal: „Aber der Person XYZ wäre das doch zuzutrauen!“ Vielen Menschen fällt | |
es schwer, einen Faktencheck anzuerkennen, wenn er das schöne Gefühl der | |
Bestätigung zerstört. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob eine | |
Aussage die eigene Meinung widerspiegelt oder eine Tatsachenbehauptung ist, | |
die man überprüfen und widerlegen kann. Das zu lernen, dazu müssen Schul- | |
und Mediensysteme anregen. | |
Nur 45 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler können in | |
Onlinetexten Fakten und Meinungen voneinander unterscheiden. Das ergab eine | |
Sonderauswertung zur Pisa-Studie 2018. In unserer Zeit wird oft suggeriert, | |
alles sei Ansichtssache. Aber Fakten sind keine Ansichtssache. Daran müssen | |
wir kollektiv festhalten. | |
## 10. Lasst uns die Demokratie KI-fest machen! | |
Matthias Spielkamp ist Mitgründer von AlgorithmWatch. Die Organisation | |
setzt sich dafür ein, dass algorithmische Systeme wie KI den Menschen | |
zugutekommen. | |
Künstliche Intelligenz wird die Welt retten! Sie wird den Klimawandel | |
stoppen, den Hunger in der Welt beenden und uns von Routinearbeit befreien. | |
So posaunen es jedenfalls Unternehmen und Regierungen überall herum. | |
[20][Stattdessen frisst KI Strom und Wasser] in gigantischem Ausmaß; | |
Menschen im Globalen Süden „reinigen“ sie zu Billiglöhnen von | |
traumatisierenden Bildern sexueller Gewalt. Statt mehr Freizeit zu haben, | |
[21][werden wir Menschen zu Hilfsarbeiter*innen von KI-Systemen.] | |
Wir brauchen keine weiteren KI-Strategien. Wir können keine „demokratische | |
KI“ gestalten, denn KIs sind nicht demokratisch. Gesellschaften sind es – | |
wenn sie es denn sind. Was wir brauchen, ist eine Demokratiestrategie, um | |
unsere Gesellschaften KI-fest zu machen. Durch mehr Bildung und Diversität, | |
durch mehr Mitbestimmung und Transparenz, durch mehr Klimaschutz und | |
Solidarität. Wir müssen weg von der Prämisse, dass KI die Lösung ist, zu | |
der nur noch das passende Problem fehlt. Und stattdessen die Diskussion vom | |
Kopf auf die Füße stellen. | |
Wir werden künstliche Intelligenz erst dann zu unser aller Vorteil nutzen | |
können, wenn Menschen die Urteilskraft haben, zu verstehen, was sie kann | |
und nicht kann, wozu sie genutzt werden sollte und wozu nicht. Dazu | |
brauchen wir Investitionen in Kitas und Schulen, in denen Kinder keine | |
iPads bekommen, sondern einen guten Personalschlüssel. Wir brauchen | |
digitale Lieferketten- und Steuergesetze. Wir müssen dafür sorgen, dass | |
OpenAI, Google, Amazon und Microsoft nicht die Kosten der Naturzerstörung | |
sowie die Folgen traumatisierender Arbeitsbedingungen der Gemeinschaft | |
aufhalsen können und gleichzeitig die Gewinne einstreichen. | |
Mitbestimmung in Betrieben muss so funktionieren, dass immer auch | |
Arbeitnehmer*innen vom Einsatz von KI profitieren, nicht allein die | |
Unternehmen. Wir brauchen wirksame Haftungsregeln, die dafür sorgen, dass | |
Verantwortung nicht an Maschinen abgetreten werden kann, weder von | |
Unternehmen noch von Regierungen. Digitale Infrastruktur – Software, | |
Cloud-Angebote und mehr – muss so verstanden werden wie Autobahnen: Die | |
Gemeinschaft muss investieren, macht aber auch die Regeln. | |
Das ist eine Mammutherausforderung. Wir müssen sie bewältigen. Es ist an | |
uns, dafür zu sorgen, dass nicht globale Megakonzerne darüber entscheiden, | |
wie und zu wessen Vorteil KI eingesetzt wird – sondern selbstständig | |
denkende Menschen in demokratischen Prozessen. | |
10 Aug 2024 | |
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