# taz.de -- Zivilgesellschaft in Deutschland: Was nun, Demokratie? | |
> Alle gehen auf die Straße und wollen die Demokratie retten. Gut! Aber | |
> eines muss klar sein: Die Zivilgesellschaft ist antifaschistisch – oder | |
> nichts. | |
Bild: Antifa-Hund in Wolfsburg bei einer Demo, 18. Februar 2024 | |
Dass Tausende auf die Straßen gehen, um gegen die extreme Rechte, die AfD | |
und ihre medialen Echokammern zu protestieren, wird von vielen als gutes | |
Zeichen angesehen. Die demokratische Zivilgesellschaft, so scheint es, ist | |
aus ihrem Schlaf erwacht, und sie macht sichtbar, dass sie, trotz allem, in | |
der Lage ist, den öffentlichen Raum, das Ur-Medium der Demokratie (und | |
zugleich den Ort ihrer höchsten Gefährdung) zu besetzen und zu verteidigen. | |
[1][Die Skeptiker hingegen reden von] „Strohfeuer“, „Unverbindlichkeit“, | |
davon, dass die Demonstrationen den Rechten eher nutzen als schaden. Aber | |
worum es geht, ist weder eine naive Euphorie noch eine fatalistische | |
Nörgelei. [2][Es geht um die Frage: Was nun]? | |
Wir beobachten seit geraumer Zeit, wie die Rechte einen „Kulturkampf“ | |
führt: Infiltration kultureller Einrichtungen, beständige Propaganda gegen | |
die „grünlinks versiffte“ Kultur, stete Überschwemmung mit Hass und Hetze, | |
Entwicklung rechter Netzwerke, Medien und Allianzen. Das alles trifft auf | |
eine erschöpfte, in sich gespaltene, ratlose und unfreie Kulturszene. Es | |
geht nicht mehr allein um die „Verteidigung“ der Kultur, sondern um eine | |
wirkliche Belebung, um neue Anfänge. Das ist keinesfalls nur eine Frage des | |
Geldes. Es ist immer auch eine Frage der Haltung. Sagen wir’s höflich: | |
Daran fehlt es in unserer derzeitigen Regierung. | |
Unsere Universitäten sind untote Orte von identitätshuberischen Blasen, von | |
hybrid-korrupten „Drittmittel“-Verwertungen und karrieristischen Intrigen | |
geworden, deren geistige Entleerung den alten und neuen Rechten einen | |
geradezu unbegrenzten Spielraum eröffnet hat. Sie müssen wieder zu offenen | |
Orten der Debatten werden. Und gegen die rechten und marktradikalen | |
Thinktanks müssen neue Foren gegründet werden, wo die alten (wie das | |
Institut für Sozialforschung) ihre Geschichte beenden. | |
Die Krise der demokratisch-liberalen Mainstream-Medien darf nicht länger | |
mit einem Achselzucken hingenommen werden; der kulturelle Selbstmord, den | |
die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vor aller Augen und Ohren | |
begehen, ist keineswegs mit einem technisch-sozialen Nutzungswechsel zu | |
rechtfertigen, und Zeitschriften und Zeitungen, die vom Print- ins | |
Internetformat wechseln, sind nicht wirklich gezwungen, dies mit einem | |
dramatischen Niveauverlust zu begleiten. Die demokratische | |
Zivilgesellschaft muss neue Finanzierungsformen für ihre Medien finden. | |
## Bauern kommen meist vom Land | |
Die demokratische Zivilgesellschaft darf sich nicht in die Großstädte | |
zurückziehen. Man ist empört darüber, wie einfach es für die Rechte ist, | |
die Bauernproteste in Europa zu kapern. Aber überall zeigt sich: Die Linke | |
und die ökologische Bewegung haben keine Gegenvorschläge, keine Visionen, | |
keine Solidarität zu bieten. Die Zukunft der Demokratie wird auch auf dem | |
Land entschieden, und darum gilt es, Demokratie und Kultur verstärkt auch | |
in die ländlichen Regionen zu bringen. In manchen dieser Regionen ist die | |
Rechte bereits die absolut hegemoniale Kraft, einfach weil es für die | |
Menschen im Allgemeinen, die Jugendlichen im Besonderen gar keine | |
Alternative gibt. | |
Es gibt eine „bürgerliche“ Rechte, in der es noch für viele unentschieden | |
ist, ob man sich innerhalb der demokratischen Spielregeln orientiert oder | |
schon mit der antidemokratischen Bewegung paktieren will. Dieser | |
bürgerlichen Rechten darf das „Rumgeeire“ zwischen der Anbiederung nach | |
rechts und der rhetorischen „Brandmauer“ nicht mehr durchgehen. Es mag ein | |
schmerzhafter Prozess sein, aber er ist nicht abzuwenden: Die bürgerliche | |
Rechte muss sich von ihrem antidemokratischen Rand und von ihrer | |
populistischen Rhetorik verabschieden, wenn sie nicht zum Steigbügelhalter | |
eines rechten antidemokratischen Regimes werden will. | |
Die [3][Debatte um ein Verbot der AfD] erscheint derzeit als | |
Spiegelfechterei. Es geht vielmehr um konkrete Schritte, um im politischen | |
und kulturellen Alltag klarzumachen, dass die AfD keine Partei wie die | |
anderen ist. Niemand ist gezwungen, AfD-Mitglieder zu Talkshows oder | |
Filmfestivals einzuladen. Demokratie ist nicht nur ein Regel- und | |
Formelwerk, sondern auch ein lebendiges System mit geistigem Inhalt. Jede | |
demokratische Institution, jede kulturelle Einrichtung soll das Recht | |
haben, antidemokratischen Personen und Organisationen den Zutritt zu | |
verweigern. Gerade darin muss sich die Unabhängigkeit und Integrität dieser | |
Einrichtungen beweisen. | |
## Arrangement is over | |
Es gibt „diplomatische“ Rücksichten, gewiss. Man muss internationale | |
Politik auch mit jenen treiben, die das demokratische Bündnis verlassen | |
haben. Es gibt aber auch einen Punkt, wo Rücksicht und Interesse in | |
Rückgratlosigkeit und Opportunismus umkippt. Ein Europa, das sich mit immer | |
mehr antidemokratischen und rechten Regierungen arrangieren will, ist der | |
Verteidigung kaum noch wert. Die europäische Idee muss als | |
Demokratieprojekt neu gedacht werden. | |
Der Kulturkampf, die Propaganda und die Kampagnen der antidemokratischen | |
Organisationen wären in diesem Ausmaß nicht möglich, wenn es nicht eine | |
Finanzierung gäbe. Wer von der antidemokratischen Rechten spricht, darf von | |
der militanten Neoliberalismusfraktion nicht schweigen. Es hilft nichts: | |
Wer an der Erhaltung oder Erneuerung der Demokratie interessiert ist, kommt | |
um ein Nachdenken über den Zustand von Wirtschaft und sozialer | |
Gerechtigkeit nicht herum. | |
Wenn es etwas Zerstörerisches in dieser Situation gibt, dann ist es ein | |
„Weiter so“. Die Sozialdemokratie, der politische Liberalismus, die Linke, | |
die ökologische Bewegung und das bürgerlich-konservative Lager müssen sich | |
von Grund auf erneuern. Die kritische, offene und demokratische | |
Zivilgesellschaft muss sich aus der selbstverschuldeten Lähmung befreien. | |
Nur dann wird es einen neuen „historischen Kompromiss“ der Demokraten gegen | |
rechts geben. So weit die Hoffnung, die sich bekanntlich nicht | |
niederbrüllen lässt. | |
28 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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