| # taz.de -- EU-Wahlen 2024: Energie für die Demokratie | |
| > Das, was Menschen jeden Tag für sich und andere tun, kann als Energie | |
| > bezeichnet werden. Aber wie kann man die in politische Prozesse | |
| > übertragen? | |
| Was wäre, wenn wir Energie und Schnelligkeit einen größeren Raum geben | |
| würden in der Art und Weise, wie wir Demokratie praktizieren? Und damit | |
| verbunden die Frage: Was meinen wir, wenn wir Demokratie sagen? Ist | |
| Demokratie der Prozess, mit dem wir die Machtverteilung klären in diesem | |
| Land oder auf diesem Kontinent? Oder ist Demokratie mehr? Ist es eine Form | |
| des Lebens, des Agierens, des Miteinanders? Und wenn Demokratie eine | |
| Lebensform ist, wieso werden Energie und Schnelligkeit systematisch | |
| ausgebremst? | |
| Es geht dabei um mehr als nur die oberflächliche Betrachtung dessen, was | |
| Energie und Schnelligkeit sind: ein Mensch, der einen Raum betritt, mit | |
| Witz, mit Verve, mit einer Vision, die anderen zu begeistern, die Dinge zu | |
| hinterfragen, Verbindungen zu sehen oder zu schaffen, die andere nicht | |
| sehen, die Lust auch, andere mitzunehmen, zu motivieren, eine Richtung zu | |
| zeigen, etwas zu wagen, an das sie bislang nicht gedacht haben. Das ist die | |
| Energie von Menschen – kann und soll man sie in politische Prozesse | |
| übertragen? | |
| Energie, wenn man sie nicht oberflächlich betrachtet, ist mehr als das | |
| Charisma, das nicht nur in Deutschland mehr und mehr im politischen Prozess | |
| verloren gegangen ist. Dafür gibt es einerseits historische Gründe, die | |
| Angst vor dem charismatischen Herrscher, und es ist richtig, diese Lektion | |
| gerade deutscher Geschichte nicht zu vergessen. Dafür gibt es aber auch | |
| andere Gründe, die mehr mit der Natur dessen zu tun haben, wie Demokratie | |
| heute oft gesehen oder praktiziert wird, als Abfolge von Entscheidungen, | |
| für die am Ende keiner mehr die Verantwortung zu übernehmen scheint. | |
| ## Energie im Austausch | |
| Energie also hat auch etwas mit dieser Verantwortung zu tun. Energie | |
| bedeutet, Ich zu sagen in einer Zeit, in der es riskant scheint, sich auf | |
| etwas festzulegen. [1][Energie heißt aber auch die Neugier, sich für die | |
| Veränderung zu öffnen,] die sich automatisch ergibt, wenn man sich | |
| festlegt. Energie ist also der Austausch, ist im systemischen Denken die | |
| Kraft, die es allen gemeinsam ermöglicht, die Dinge neu und anders zu sehen | |
| und gemeinsam zu gestalten. Nur im Austausch bleibt Energie demokratisch. | |
| Umgekehrt verliert die Demokratie an Wirkung und Überzeugung, wenn sie | |
| nicht von Energie getragen wird. Wenn es nicht Menschen gibt, die mit | |
| Leidenschaft und Hingabe ihre Vorstellungen eines besseren Zusammenlebens | |
| für alle verfolgen würden. Das ist keine Trivialität. Das ist das, was die | |
| Demokratie ausmacht, jenseits von Wahlen und Verwaltung und dem | |
| Funktionieren des Staates. Die Herausforderung wäre es, das System der | |
| Demokratie so zu verändern, dass Energie spürbar wäre, als individuelle | |
| Möglichkeit, als gesellschaftliches Versprechen. | |
| Das würde alle Ebenen der demokratischen Praxis betreffen: Wie etwa kann | |
| die Verwaltung so verändert werden, dass Eigeninitiative, Experimentieren, | |
| der Wettbewerb der Ideen gefördert werden können? Wie kann eine | |
| Durchlässigkeit geschaffen werden jenseits von etablierten Karrieremustern? | |
| Wie kann sich Energie mit der Schnelligkeit von Entscheidungen verbinden, | |
| die erst einmal auch das Risiko bergen, dass sie scheitern? Wo ist der Raum | |
| also in einem Prozess, der zum Teil aus guten Gründen das Scheitern | |
| vermeiden will, für Fehler, für Sprints, die auch mal ins Nichts führen? | |
| Das Modell des Staates ist oft das einer Maschine, die funktioniert, die | |
| berechenbar ist, wo ein Rad ins andere greift, Schule, Straßenreinigung, | |
| Polizei. Aber das Scheitern ist ja nicht das Gegenteil des Funktionierens. | |
| Eine Gesellschaft lebt nicht im Entweder-oder. Eine Gesellschaft lebt von | |
| Widersprüchen, Konflikten, Zwischentönen, [2][von Diversität in den | |
| Ansichten] und Ansätzen, und die Grundlage von vielem ist hier der Antrieb, | |
| die Energie der Einzelnen, die dem System erst die Gestalt gibt. | |
| ## Routine einer Demokratie | |
| Wenn die Maschine aber vor allem auf das Funktionieren ausgerichtet ist, | |
| wenn es darum geht, erst einmal das Scheitern zu vermeiden, dann | |
| unterbricht man den Energiefluss, der sie eigentlich antreibt. Dann trennt | |
| man die Maschine der Demokratie vom Leben der Menschen. Dann stellt sich | |
| die Frage, ob die Demokratie als Maschine gedacht die richtige Idee ist. | |
| Oder ob die Demokratie nicht mehr ein Körper ist oder ein Organismus, der | |
| lebt und für den Prinzipien und Prämissen gelten, die auch für das Leben | |
| gelten. | |
| Gerade, im schleppenden Wahlkampf für die Europawahl, sehen wir das wieder, | |
| die Routine einer Demokratie, die sich eher durch Routine, Distanz, Kalkül | |
| und Taktik definiert als durch Offenheit, Sichtbarkeit, Zuneigung, Energie | |
| im Empfinden und Erleben. Der Wahlkampf, so gut wie jeder Wahlkampf, folgt | |
| dieser Logik, verwendet diese Sprache. Vielleicht muss es so sein, darauf | |
| scheinen wir uns geeinigt zu haben. Aber muss das so sein? | |
| Europa etwa ist ja eine grandiose Idee – wann hat sich diese Idee in eine | |
| Abfolge von Entscheidungen verwandelt, die immer weniger Menschen | |
| begeistert? | |
| Oder umgekehrt, warum findet sich die Begeisterung der Menschen für das, | |
| was Europa ist, nicht in der Art und Weise gespiegelt, wie Europa regiert | |
| wird? Die Frage geht über das hinaus, was als [3][demokratisches Defizit | |
| der Europäischen Union] seit Langem diskutiert wird – und was schlimm genug | |
| ist. Dieses Demokratiedefizit aber wird immer noch an der Art von | |
| Demokratie definiert, die wir kennen. Der eigentliche Schritt wäre es nun, | |
| diese Idee noch einmal zu verwandeln, mit Leben zu erfüllen, in der Praxis, | |
| im Ausprobieren, mit eigener Energie. | |
| Es sieht gerade nicht danach aus, [4][die Rechten scheinen zu gewinnen;] | |
| aber umso wichtiger, dass wir daran arbeiten, wie wir uns die Demokratie | |
| zurückholen können. Wir brauchen Ideen für die Zeit danach, und wir können | |
| sie heute schon leben. | |
| 15 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Georg Diez | |
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