# taz.de -- EU-Abgeordneter Nico Semsrott: „Ich hab's versucht“ | |
> Satiriker Nico Semsrott hat nach fünf Jahren genug vom EU-Parlament. Ein | |
> Gespräch über institutionelles Chaos, nötige Deals und animalische | |
> Leistung. | |
Bild: Hasst es als Teilnehmer, akzeptiert es als Beobachter: Semsrott im Europ�… | |
taz: Nico, vor knapp fünf Jahren habe ich dich [1][zu Beginn deines Mandats | |
in Brüssel besucht]. Ich habe zur Vorbereitung meinen Text von damals noch | |
mal gelesen. Es ist witzig, alte Sachen zu lesen, weil die zeigen, in | |
welchem Film man mal gesteckt hat. Du warst damals relativ motiviert und | |
hast gesagt, du willst der John Oliver von Europa werden. Jetzt hast du ein | |
Buch veröffentlicht mit dem Untertitel „Wie ich im Europaparlament meinen | |
Glauben an (fast) alles verloren habe“. | |
Nico Semsrott: Ich war auch in einem größenwahnsinnigen Film unterwegs. | |
Du wolltest Menschen für die EU-Politik interessieren. Hast du das | |
erreicht? | |
Ich habe immerhin ein paar Videos aus dem EU-Parlament veröffentlicht. Aber | |
diesen Versuch habe ich dann abgebrochen. Weil ich depressiv war und | |
einfach nicht mehr konnte. Auch weil ich das als sinnlos und aussichtslos | |
empfunden habe. Das war ein großer Kontrast zu meinem Leben als Satiriker, | |
als ich immer etwas bewirken konnte und immer eine Reaktion bekommen habe. | |
In so einem riesigen Apparat wie dem EU-Parlament, das ja nur ein Teil | |
einer noch größeren Kompromissmaschine ist, kann ich irgendwas reinsenden | |
und bekomme entweder keine Reaktion oder eine negative. Ich habe mich | |
verloren gefühlt und nicht den Eindruck gehabt, dass ich eine | |
Übersetzungsleistung hinbekomme. | |
Woran bist du gescheitert? | |
Das große Problem ist, dass Leute, die drin sind, und Leute, die draußen | |
sind, einander nicht verstehen. Dann fühlen sich Menschen nicht vertreten, | |
und zwar in allen politischen Spektren. Die Gesellschaft ist viel, viel | |
weiter als dieses politische System. Es wollen Leute mitmachen, aber es | |
gibt extrem wenig Möglichkeiten, sich außerhalb von Parteien und Wahlen | |
einzubringen. Das macht Leute zu Recht wütend. Auf Ebene der Bundespolitik | |
mag Robert Habeck als Vizekanzler auf die Nachvollziehbarkeit von Themen | |
setzen und mit seinen Videos Dinge minutenlang schön erklären. Im | |
EU-Parlament sind Prozesse aber so kompliziert und die Wege von Gesetzen so | |
unvorhersehbar, dass nichts kampagnenfähig ist. Das ist eine Frustration, | |
die ich niemandem antun will. Und ich konnte die Rolle des Abgeordneten | |
schlecht ausführen mit meiner Psyche. | |
Es liegt also auch an dir, dass du aufhörst? | |
Ja, ich habe persönliche Probleme und die wurden durch diesen Apparat | |
verstärkt, weil er darauf aus ist, neue Ideen und Engagement abzuwehren. | |
Aber gibst du nicht zu früh auf? | |
Ich sehe andere Abgeordnete, die härter im Nehmen sind, wieder antreten und | |
für die gleichen Themen kämpfen wollen. Da sehe ich, dass es möglich ist, | |
dass man kämpft, verliert, aber nicht so enttäuscht ist. Aber ich kann | |
meine kleine Antikorruptionskampagne gerade nur machen, weil ich weiß, ich | |
muss hier nicht noch mal fünf Jahre rein. Wenn ich anders gestrickt wäre, | |
könnte ich vielleicht weitermachen, aber es ist total okay zu sagen: Hey, | |
ich hab’s versucht, fünf Jahre sind eine lange Zeit und ich habe viel | |
gelitten. Dieser Job ist einerseits so privilegiert und andererseits | |
wirklich scheiße. Weil man total viel Geld, ein bisschen Macht, Kontakte | |
und Mitarbeitende hat. Aber man ist nie frei und man hat auch nie frei. Man | |
ist ständig unterwegs und sehr viel alleine. Das ist total belastend. Und | |
mit meiner politischen Position verliert man auch noch extrem viel. Wie oft | |
ich in der vorletzten Reihe gesessen habe und überlegt habe, doch mit den | |
Konservativen zu stimmen, damit ich auch mal gewinne. | |
Du schreibst, dass du am Anfang total naiv gewesen bist, dass diese | |
Naivität aber trotzdem richtig war. | |
Naivität ist die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt irgendetwas | |
versucht. Menschen versuchen Dinge, weil sie sich des Umfangs einer Aufgabe | |
nicht bewusst sind. Genauso funktioniert auch Politik. Selbst | |
Profipolitiker, die vorher im Bundestag oder im Landtag saßen, sind | |
überrascht, wie kompliziert EU-Politik funktioniert. Ein Beispiel: Wenn | |
[2][über ein Verbot des Verbrennermotors abgestimmt] wird, dann entscheiden | |
nicht die EU-Institutionen alleine, sondern es gibt eine Querverbindung von | |
deutschen Automobilherstellern zur FDP. Dann blockiert die FDP das in der | |
Bundesregierung und somit im Europäischen Rat gemeinsam mit anderen | |
Staaten. Die Anzahl der Spieler ist einfach extrem hoch, es gibt | |
Chaoselemente, und ich behaupte, niemand versteht das Ganze vollständig. | |
Ist von deiner Naivität etwas übrig geblieben? | |
Ich schwanke immer zwischen den Polen Resignation und Wut. Wenn ich in | |
einer wütenden Phase bin, kann ich wieder was machen. Wenn ich in der | |
resignativen Phase bin, dann nicht. Ein Weg, mir meinen Idealismus zu | |
bewahren, war ganz viel Abstand: keine Lobbyveranstaltungen, keine | |
Legislativverfahren und so weiter. Das ist für den Idealisten richtig, für | |
den Parlamentarier aber falsch. Die Funktion eines Parlamentariers ist es, | |
an Kompromissen mitzuarbeiten und möglichst viel von seiner eigenen Idee in | |
diese Kompromisse reinzubringen. Das ist ein Spiel, für das ich überhaupt | |
nicht gemacht bin. | |
Sind manche Menschen also nicht für Politik gemacht? | |
Ich glaube, als Linker ist es grundsätzlich viel anstrengender, Politik zu | |
machen, weil man völlig zu Recht an der Analyse der Welt verzweifeln kann. | |
Aber sind manche Menschen psychisch nicht geeignet oder zu sensibel dafür? | |
Wir Menschen sind als Wesen zu komplex, als dass ich eine einfache Antwort | |
darauf geben könnte. Ich kenne Menschen in mächtigeren Positionen, die ich | |
als total sensibel wahrnehme. Es gibt auch high-functioning depressives. | |
Die Umgebung in Brüssel ist hart. Da ist sehr viel Druck von vielen Seiten. | |
Man muss irgendwie weitermachen, auch wenn man verletzt ist. Ich glaube, | |
das gelingt auch Leuten, die sensibel sind. Das ist die Voraussetzung | |
dafür, dass man überhaupt reinkommt. Man muss auf so einer ursprünglichen, | |
animalischen Ebene mehr leisten und stärker sein als die anderen. Man muss | |
länger reisen können, öfter erreichbar sein, länger verhandeln können und | |
so weiter, dann kriegt man den aussichtsreichen Listenplatz. Wer ist um | |
fünf Uhr morgens noch wach und wer hat die Schnauze voll und will einfach | |
nur noch ins Bett? Es gewinnt der, der als Letzter zurückzieht. Ich | |
bewundere alle, die das können. Gerade die, mit denen ich Werte teile. Ich | |
will auch nicht etwas bekommen, weil ich loyal zu jemandem bin. Ich will | |
etwas bekommen, weil ich recht habe oder das bessere Argument. Es geht aber | |
immer um Netzwerke und Absprachen: Ich gebe dir was, dafür bekomme ich | |
etwas. Das ist der Kern von allem. Als Teilnehmer hasse ich diese Deals und | |
gleichzeitig akzeptiere ich als Beobachter, dass es nicht anders geht. Ich | |
will da nur selbst nicht mehr mitspielen müssen. | |
Warum akzeptierst du es? | |
Wie soll es sonst gehen? Es gibt keinen anderen Weg. Das ist die | |
friedlichste Art, Konflikte zu lösen. Ich habe riesigen Respekt vor dieser | |
großen Kompromissmaschine. Das ist nun mal Demokratie: Wenn am Ende niemand | |
zufrieden ist, weil keiner das bekommt, was er wollte. Das ist lustig, aber | |
auch traurig. Aber so muss es sein. Alles andere bedeutet explizite Gewalt. | |
Und da bin ich total dagegen. | |
Hast du Leidensgenossen im EU-Parlament gefunden, mit denen du dich darüber | |
unterhalten konntest? | |
Einer, der ziemlich viel Macht hat, hat mal gesagt: Ich kann dem Beamten, | |
mit dem ich zusammenarbeite, das Leben zur Hölle machen, und er kann das | |
umgekehrt auch. Deshalb haben wir unausgesprochen einen Nichtangriffspakt. | |
Das finde ich schon krass, dass da eine Drohung im Raum steht und nur | |
deswegen funktioniert alles. | |
Du sagst, das politische System schließe viele Menschen aus, die sich | |
unbedingt beteiligen wollen, aber eben nicht in Parteien. Eine Umfrage in | |
Österreich hat vor Kurzem gezeigt, dass viele Menschen finden, [3][Politik | |
könne auch ohne Parteien funktionieren]. Ist das eine Perspektive? | |
Macht muss organisiert werden, dafür sind Parteien der richtige Rahmen. | |
Gleichzeitig bin ich dafür, ganz viel auszuprobieren. Ich bin für | |
Mischformen. Ich möchte gar nicht dieses repräsentative parlamentarische | |
System abschaffen, aber es auf jeden Fall ergänzen. Es soll | |
direktdemokratische Elemente geben. Und europäische Bürgerinitiativen, die | |
zwischen den Wahlen etwas ändern oder korrigieren können. Ich finde die | |
Idee gut, sich mehr auf Einzelpersonen zu fokussieren, aber nicht, um | |
Parteien ganz abzuschaffen. | |
Sind solche Experimente in absehbarer Zeit realistisch? | |
Das ist in der aktuellen Situation, in der alle unter Druck stehen, schwer. | |
Weil alle Angst haben. Aber die einzige Möglichkeit, auf diese Angst zu | |
reagieren, ist Mut. Es gibt schon ganz viele Bürgerparlamente und so | |
weiter. Experimente finden überall statt. Ich meine, die gesamte EU ist ein | |
seit 70 Jahren währendes Experiment, das weltweit seinesgleichen sucht. | |
Was war das Schlimmste, was du als EU-Parlamentarier erlebt hast? | |
Entscheidungen im Parlament mitzutragen, zum Beispiel klimapolitische, bei | |
denen mir klar war, sie reichen überhaupt nicht aus. | |
Und das Schönste? | |
Der Kontakt zu Besuchsgruppen, weil wir gemeinsam verwirrt waren. Da hatte | |
ich das Gefühl, das ich auch als Künstler kenne: Damit habe ich irgendetwas | |
in Gang gesetzt. | |
Und was machst du jetzt? Eine eigene Sendung wie John Oliver? | |
Ich konzentriere mich erst mal auf die Lesereise und meine | |
Mini-Europawahlkampagne gegen Korruption und für viel Transparenz. Was | |
danach kommt, sehe ich dann. Anders funktioniert es für mich nicht. Ich | |
habe gerade keinen Plan. Aber wahrscheinlich probiere ich bald einfach | |
wieder was anderes aus. | |
14 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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