# taz.de -- EU-Abgeordneter Nico Semsrott: Er meint das ernst | |
> Nico Semsrott sitzt für Die Partei im Europaparlament. Er will Politik | |
> machen, ohne sich dem Betrieb anzupassen. Wer ist der Mann hinter der | |
> Kunstfigur? | |
Bild: Poetry Slam, Soloprogramm, „heute show“, Europaparlament: der Werdega… | |
BRÜSSEL taz | Nico Semsrott sitzt gebeugt auf einem Drehstuhl, mit seinen | |
Beinen schiebt er sich nach links und nach rechts. Er kaut an seinen | |
Fingernägeln, nimmt seine Brille ab, reibt sich die Augen. Er wirkt wie ein | |
Zehntklässler, der nicht abwarten kann, dass die sechste Unterrichtsstunde | |
am Freitag endlich zu Ende geht. | |
Semsrott, der Satiriker, der Poetry-Slam-Künstler, der selbsternannte | |
Demotivationstrainer, sitzt im Fraktionssaal der Europäischen Grünen in | |
Brüssel. Gerade trifft sich hier die Arbeitsgruppe „Transparency and | |
Democracy“, um sich auf die neue Legislaturperiode einzustimmen. Eine | |
britische Campaignerin stellt erfolgreich abgeschlossene Projekte vor, | |
darunter eine neue Whistleblower-Richtlinie. Nico Semsrott schweigt. Seine | |
Büroleiterin sagt vor der Sitzung, Semsrott wolle seine Reichweite im | |
Internet nutzen, um Projekte der Gruppe zu unterstützen. | |
Fünf Jahre wird der 33-Jährige für die [1][Satirepartei Die Partei] im | |
Petitionsausschuss und im Budgetkontrollausschuss sitzen. Aber er sagt, er | |
sei nicht nach Brüssel gekommen, um sich in Arbeitsgruppen und Ausschüssen | |
abzuarbeiten. Wofür dann? „Ich will der John Oliver von Europa werden“, | |
antwortet Semsrott. „Wenn meine vier Mitarbeiterinnen 2.500 Prozent geben, | |
schaffen wir das auch.“ | |
Semsrott möchte Menschen für die Brüsseler Politik interessieren. 60 Videos | |
in 60 Monaten als Abgeordneter hat er angekündigt, über Skurriles, | |
Problematisches, Konfliktives. „So viel impact mit so wenig Aufwand wie | |
möglich“, sagt er. Entlarven, wie absurd Europapolitik sein kann – das | |
macht sein Parteikollege Martin Sonneborn schon lange. Aber Semsrott ist | |
nicht Sonneborn. | |
## Die neue Ernsthaftigkeit | |
Bei der Europawahl schaffte es Die Partei hinter den Grünen und der Union | |
auf Platz drei bei den Erstwählern, in Berlin überholte sie mit 4,8 Prozent | |
die FDP. Diesen Erfolg verdankt Die Partei auch ihrer neuen | |
Ernsthaftigkeit, verkörpert durch Nico Semsrott. In Interviews sprach der | |
über Depressionen und gesellschaftlichen Leistungsdruck. | |
Statt Wahlwerbung strahlte Die Partei ein Video von Sea Watch aus, in dem | |
man einen Flüchtlingsjungen ertrinken sah. Mitarbeiter des Satiremagazins | |
Titanic gründeten Die Partei 2004 als Partei für Arbeit, Rechtsstaat, | |
Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative. Sie machte | |
mit Quatschforderungen und satirischen Aktionen auf sich aufmerksam. | |
[2][Martin Sonneborn], ehemaliger Chefredakteur der Titanic und | |
Bundesvorsitzender der Partei, schaffte es bei der Europawahl 2014 ins | |
Europaparlament, wo er in den letzten fünf Jahren Wortbeiträge performte. | |
Nico Semsrott dagegen gab sich im Wahlkampf ernst und politisch. Von | |
„Inhalte überwinden“, dem Gründungsmythos der Partei, war kaum noch etwas | |
übrig. Vor der Bundestagswahl 2017 diskutierten manche Linke in Deutschland | |
noch, ob man angesichts der parlamentarischen Normalisierung von extrem | |
Rechten eine Spaßpartei wählen dürfe. Semsrott entschärfte die Debatte | |
durch sein Auftreten. Die größte Herausforderung in Brüssel, sagt Semsrott, | |
werde das Storytelling sein, oder: „die Figur bewahren“. | |
Semsrott lacht viel, wenn er gerade nicht in seiner Rolle ist. Über sich, | |
über andere, über die verrückte Situation, in der er jetzt steckt. Im | |
Parlamentsgebäude will ein Bulgare vom Ausschuss der Regionen ein Foto mit | |
ihm machen, fragt ihn, ob er es twittern dürfe. Semsrott sagt, er dürfe, | |
wenn er nicht korrupt sei. Beide lachen. | |
## „Mir ist vieles wichtig. Aber die Fans nicht“ | |
Semsrott erzählt enthusiastisch von vergangenen und bevorstehenden | |
Projekten. Er zeigt sein neues EU-Video und freut sich wie ein Kind | |
darüber. An diesem Juni-Tag, kurz vor der konstituierenden Sitzung des | |
Europäischen Parlaments, scheint die Sonne. Semsrott, blonde, zerzauste | |
Haare, trägt eine Sonnenbrille mit Havanna-Muster. Im Karsmakers Coffee | |
Shop am Place du Luxembourg gehen Abgeordnete ein und aus. Sie tragen | |
Hemden und Kleider, viele sehen darin älter aus, als sie sind. Semsrott | |
trägt ein graues Shirt mit Pottwalmotiv und eine Hose mit Riss am linken | |
Knie. | |
Das ist Nico Semsrott. Die Figur Semsrott ist anders. Eine junge Frau hat | |
ihm eine Mail geschrieben und um ein Autogramm gebeten. Seine Büroleiterin | |
hat der Frau geantwortet, dass Semsrott seine Fans wichtig seien. Darüber | |
hat er sich geärgert. Er sagt: „Mir ist vieles wichtig. Aber die Fans | |
nicht.“ Das sei aber Storytelling, in echt stimme das nicht. Den schwarzen | |
Kapuzenpulli trägt Semsrott an diesem Tag offen, die Kapuze liegt auf | |
seinen Schultern. | |
Draußen zieht er den Pulli aus und trägt ihn in der Hand. Im | |
Parlamentsfoyer will ihn eine polnische TV-Reporterin interviewen. Semsrott | |
zieht den Pulli wieder an und schiebt sich die Kapuze über den Kopf. Er | |
stellt den depressiven Blick, den lethargischen Ton an. Die Frau fragt ihn | |
nach deutscher Dominanz in der EU. Semsrott antwortet, er möchte | |
Deutschland schwächen und Europa stärken. Er lacht nicht. | |
Nico Semsrott ist als Kind eines Lehrerpaares in Hamburg-Niendorf | |
aufgewachsen und ging auf ein katholisches Privatgymnasium. Nach dem Abitur | |
machte er journalistische Praktika, ab 2007 trat er bei Poetry Slams auf, | |
beim ersten Mal im Molotow, einem Kellerclub auf der Reeperbahn. Die Figur | |
des Depressiven wurde geboren. Es folgten Soloprogramme, Kleinkunstpreise, | |
2013 erste Auftritte im Fernsehen, im März 2017 auch bei der „Heute Show“ | |
im ZDF, wo er als „junger, begeisterter Europäer“ vorgestellt wurde. Mit | |
einem trockenen Powerpoint-Vortrag erklärte er den Unterschied zwischen | |
Aufklärern und Fanatikern und die Logik der Rechten. Im Netz wurde der | |
Einstand viel geklickt. | |
## Die Bühne als Ort der Emanzipation | |
Wenn man ihn zu der Diskrepanz zwischen Person und Figur befragt, antwortet | |
Semsrott ganz offen. „Die Figur und ich waren mal eins“, sagt er. „Aber w… | |
haben uns auseinanderentwickelt.“ Die Figur ist echt, weil Semsrott nach | |
dem Abitur depressiv im Bett lag. Sein Studium der Soziologie und | |
Geschichte warf er nach sechs Wochen hin. Ein Praktikum bei einem | |
Meinungsforschungsinstitut war die Hölle. Aber dann kam Poetry Slam. Die | |
Bühne war die Emanzipation von seinen Ängsten, nichts zu taugen, zu | |
scheitern. Die Emanzipation vom Dasein als Depressiver begann mit der | |
aktiven Zurschaustellung des Depressiven. | |
Als Europaabgeordnete werden Semsrott und Sonneborn nun Büronachbarn sein. | |
Während Sonneborn fraktionslos bleibt, hat sich Semsrott den europäischen | |
Grünen angeschlossen. Gleich am Tag nach der Wahl setzte er sich in die | |
Bahn nach Brüssel. Am ersten Tag traf er sich mit der grünen | |
Fraktionsvorsitzenden Ska Keller. Am zweiten Tag telefonierte er mit dem | |
grünen Europaabgeordneten Sven Giegold. | |
Den Schritt in die Fraktion begründet Semsrott mit zusätzlichen Mitteln und | |
größerer Einflussmöglichkeit. „So bin ich in der Umlaufbahn, im | |
Sonnensystem“, sagt er. Im Karsmakers Coffee Shop isst Semsrott einen | |
Cream-Cheese-Bagel und zeigt sein erstes Video aus dem Parlament. Das | |
YouTube-Video der Grünen-Fraktion mit den meisten Klicks ist seit sechs | |
Jahren online und hat knapp 260.000 Views. Semsrott hat vor drei Wochen ein | |
„Kurzes Hallo aus Brüssel“ hochgeladen. 416.000 Aufrufe. Vor Kurzem, | |
erzählt Semsrott, habe er Christian Lindner auf Instagram überholt. Jetzt | |
ist er dort der deutsche Politiker mit den zweitmeisten Followern, nach der | |
Bundeskanzlerin. | |
Wieso tritt Semsrott einer Fraktion bei, während Sonneborn fraktionslos | |
bleibt? Gibt es da eine grundlegende Meinungsverschiedenheit? „Nein“, | |
antwortet Sonneborn auf Nachfrage der taz. Differenzen gebe es „nur in | |
Modefragen“, konkret: „Ich trage keine Kapuze.“ Semsrott zählt sich zum | |
„Realoflügel“ der Partei. Er sagt, Sonneborn und er agierten relativ | |
autonom, würden aber zusammenarbeiten, wo es Sinn macht. Sonneborn | |
schwärmte in einem Interview, dass Semsrott „zu klugen Analysen dieses | |
irrsinnigen kapitalistischen Systems fähig ist und das mit einem Witz | |
versehen kann“. | |
## Die EU liegt ihm am Herzen | |
Was Semsrott von Sonneborn aber vorrangig unterscheidet: Semsrott möchte | |
oder kann sich nicht auf Ironie beschränken. Während Sonneborn mit seiner | |
Art relativ immun bleibt gegen die Krankheiten des politischen Betriebs, | |
will Semsrott Politik machen, ohne Politik zu machen. | |
Semsrott sagt, die EU sei wie die Vereinten Nationen, nur mit Macht. Er | |
findet, dass es viel zu kritisieren gebe an der EU, man sie aber verändern | |
könne. Könnte Semsrott beim Versuch, sich über die Politik zu erheben, von | |
der Politik absorbiert werden? Parteigenosse Sonneborn zumindest sagt: | |
„Nein, ich kenne Nico. Eher absorbiert er den Brüsseler Politbetrieb.“ | |
Semsrotts Fraktionszugehörigkeit werde den beiden „einige Späße | |
ermöglichen, die wir sonst nicht machen könnten“. | |
Was in Brüssel aus Semsrott wird, hängt auch davon ab, ob er als er selbst | |
oder als die Figur Nico Semsrott Politik macht. | |
Was auch dafür spricht, dass er gefährdet ist, von der Realität des | |
politischen Betriebs eingeholt zu werden: Die EU liegt ihm am Herzen. Nach | |
der konstituierenden Sitzung am 2. Juli zeigt er sich enttäuscht, dass sie | |
„erstaunlich unspektakulär“ war. Er sagt: „Eigentlich müsste man das | |
amerikanisch inszenieren und deutlich machen, wie einmalig dieses | |
politische Projekt ist.“ | |
Auch dass das Spitzenkandidatenprinzip über Bord geworfen wird und die | |
Postenvergabe vom mächtigen Rat und den Nationalstaaten dominiert wird, | |
ärgert ihn: „Die Uhr wird zurückgedreht, das Parlament – und damit die | |
Wähler – wird entmachtet. Es findet gerade eine Entdemokratisierung statt.“ | |
Zur Nominierung Ursula von der Leyens als Kommissionspräsidentin sagt er: | |
„Mir wäre jeder Spitzenkandidat lieber gewesen, allein schon, weil das | |
Signal so katastrophal ist und die Regierungschefs den 200 Millionen | |
Wählern den Fuck-Finger zeigen.“ | |
Wochen vor der Wahl kamen die Ängste wieder. Der Wahlkampf lief gut. Aber | |
Semsrott fühlte sich nicht gut. Was, wenn er die Erwartungen der | |
Partei-Wähler nicht erfüllen kann? Ein paar Sitzungen Gesprächstherapie, | |
dann ging es wieder. Angst davor, sich in den Wirren der europäischen | |
Politik zu verlieren, habe er nicht, erzählt er. Was ihn erleichtert: „Es | |
gibt hier niemanden, der alles checkt.“ Und wenn es trotzdem schiefgeht? | |
Dann hat er es wenigstens probiert. | |
Wenn er erzählt, wie ihn Poetry Slam aus der Hoffnungslosigkeit gerettet | |
hat, dann spricht er von Leistung, auf die Anerkennung folgt, und von | |
Liebe, die darauf folgt. Ein bedingungsvoller Weg zur Liebe. Semsrott sagt: | |
„Ich habe einigermaßen meinen Frieden damit gefunden.“ | |
Im protokollarischen Eingang des Parlaments, wo sonst hohe Funktionäre und | |
Staats- und Regierungschefs auf blauem Teppich den Brüsseler Komplex | |
betreten, lässt sich Semsrott für diesen Text fotografieren. Die Fotografin | |
muss nicht lange nach Motiven suchen. Semsrott bietet viel an. Er legt die | |
Beine auf einen Stuhl, umarmt eine EU-Fahne. | |
Warum tut sich ein sensibler Mensch wie Semsrott ein Politikerleben an? | |
Weiter von Kleinbühne zu Kleinbühne zu tingeln wäre langweilig geworden, | |
sagt er. Abgeordneter im Europaparlament – das sei die natürliche | |
Fortsetzung seiner persönlichen Entwicklung. Semsrott sagt aber auch: „Ich | |
mache das aus therapeutischen Gründen.“ Außerdem gehe es Europa ja gerade | |
auch nicht so gut – ein Spruch, der seinen Antworten die Schwere nicht | |
nehmen kann. In diesem Moment ist Semsrott ein Mensch, der die Welt so | |
umgestalten will, dass junge Leute nicht mehr depressiv im Bett liegen, | |
weil sie denken, sie würden nichts taugen. | |
Als Semsrott sich für ein Foto auf den blauen Teppich legt und tot stellt, | |
bittet ihn ein Sicherheitsmitarbeiter, aufzustehen. Semsrott zeigt seinen | |
Abgeordnetenausweis. Der Mann entschuldigt sich. Semsrott sagt: „Ich kann | |
hier offenbar machen, was ich will.“ | |
9 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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