# taz.de -- Vor Landtagswahl in Thüringen: Speeddating im Lehrerzimmer | |
> An einer Berufsschule in Jena stellen sich sechs DirektkandidatInnen den | |
> Fragen der SchülerInnen – auch die AfD ist mit dabei. | |
Bild: Ganze Bandbreite: Am „Speeddating“ in der Stoy-Schule in Jena nahmen … | |
JENA taz | Für Thüringens Umweltministerin Anja Siegesmund ist es | |
ungewöhnlicher Wahlkampftermin. Am vergangenen Mittwoch sitzt die | |
Politikerin der Grünen an zwei zusammengeschobenen Tischchen im | |
Lehrerzimmer der Karl-Volkmar-Stoy-Schule in Jena. | |
Um sie herum fünf Schülerinnen und Schüler, die sie mit Fragen | |
bombardieren: wie sie die Elektromobilität auf dem Land umsetzen will. Ob | |
sie den Unterrichtsausfall bei den Fridays-for-Future-Demos nicht für | |
bedenklich halte. Ob eine 16-Jährige wirklich schon bei der komplexen | |
Klimadebatte mitreden könne. | |
Es klingt höflich, wie die FachoberschülerInnen mit der Ministerin reden. | |
Aber auch selbstbewusst. Vier von ihnen sind schon über 18, dürfen in gut | |
einem Monat also mit über den Thüringer Landtag bestimmen – und über die | |
Frage, ob Siegesmund weiter Ministerin bleibt. | |
Während die Grünen-Politikerin antwortet, notiert eine von ihnen | |
Siegesmunds Schlagwörter: landesweite Mobilitätsgarantie, 350 Ladestationen | |
für E-Autos unter Rot-Rot-Grün, Klimaziele von Paris. Es wäre sicher noch | |
das ein oder andere Stichwort dazugekommen, hätte nicht eine helle Glocke | |
die Ministerin jäh im Satz unterbrochen. Das Signal, dass die acht Minuten | |
rum sind – und die fünf BerufsschülerInnen einen Tisch weiter rotieren | |
sollen. Dort, wo bereits eine weitere Politikerin auf sie wartet: Rosa | |
Maria Haschke von der CDU. | |
## Acht Minuten pro PolitikerIn | |
Im vornehmen Lehrerzimmer der Stoy-Schule – Fischgrat-Parkett, breite | |
Fenster, hohe Decke – findet an diesem Vormittag ein politisches | |
Speeddating statt. Insgesamt 90 Jugendliche und junge Erwachsene kommen | |
reihum mit sechs DirektkandidatInnen aus Jena ins Gespräch. Wer wo sitzt, | |
zeigen schon die Wahlkampfplakate für die Landtagswahl Ende Oktober, die | |
hinter den KandidatInnen an Stellwände gepinnt worden sind. Neben | |
Siegesmund, die wie vor fünf Jahren als Direktkandidatin für den Wahlkreis | |
Jena I antritt (den dann der Kandidat der Linkspartei gewann), und der | |
CDUlerin Haschke (Wahlkreis Jena II) sind auch die DirektkandidatInnen von | |
FDP, Linkspartei, SPD, $(LB3685715:und der AfD|_blank)$ gekommen. | |
Eingeladen hat sie Sozialkundelehrerin Uta Seibold-Pfeiffer. Es ist nicht | |
das erste Mal, dass die 54-Jährige zwischen ihren SchülerInnen und | |
PolitikerInnen einen „direkten Kontakt auf Augenhöhe“ herstellt, wie sie es | |
formuliert. Seibold-Pfeiffer organisiert Treffen mit Abgeordneten im | |
Erfurter Landtag und im Bundestag in Berlin. Statt Lehrbücher bringt sie | |
Zeitungsartikel zu aktuellen Debatten mit in den Unterricht. Und immer vor | |
Landtags- und Bundestagswahlen organisiert sie an der Stoy-Schule das | |
Kandidaten-Speeddating. | |
Damit es wirklich eine Begegnung auf Augenhöhe wird, opfert | |
Seibold-Pfeiffer mehrere Unterrichtsstunden für die Vorbereitung. In denen | |
heißt es für ihre SchülerInnen: Wahlprogramme studieren, | |
DirektkandidatInnen googeln, Fragen formulieren. „Eine intensive | |
Vorbereitung“, sagt Seibold-Pfeiffer. | |
Tatsächlich stellen die SchülerInnen passgenaue Fragen: CDU-Frau Haschke | |
muss sich zum Pflegenotstand äußern, die FDP-Kandidatin zum enthemmten | |
Mietenmarkt, der SPD-Kandidat zur gerade beschlossenen CO2-Bepreisung, und | |
der AfD-Mann soll das ungleiche Rentenniveau zwischen Ost und West | |
erklären. Die Fragen an die Linkenpolitikerin entfallen – sie hat sich | |
verspätet und fehlt bei der ersten Runde. | |
„Beeindruckend gut vorbereitet“ | |
Dass die Schülerinnen Schüler sich gründlich mit den Wahlprogrammen | |
beschäftigt haben, ist auch Umweltministerin Siegesmund aufgefallen. „Die | |
waren sehr, sehr gut vorbereitet“, sagt die Grüne nach dem Speeddating fast | |
schwärmerisch. „Da vergehen die drei Stunden wie im Flug.“ Und auch der | |
34-jährige SPD-Direktkandidat Lutz Liebscher, der erstmals in den Erfurter | |
Landtag einziehen will, lobt: „Ich bin mit Zitaten aus dem | |
SPD-Regierungsprogramm konfrontiert worden. Das war schon beeindruckend.“ | |
Spricht man Seibold-Pfeiffer auf die Mitarbeit ihrer SchülerInnen an, wird | |
sie hingegen ernst. „Es ist natürlich schön, wenn unsere Schüler die | |
Wahlprogramme verschiedener Parteien miteinander vergleichen“, sagt die | |
Sozialkundelehrerin, die seit 1992 an der Schule unterrichtet. „Wir hoffen | |
aber auch darauf, dadurch die demokratischen Parteien und somit die | |
Demokratie zu stärken.“ | |
Wie wenig das bislang klappt, zeigt sich bislang unmittelbar nach jedem | |
Speeddating, und zwar wenn die Stoy-Schule die sogenannten | |
$(LB3453788:Juniorwahlen|_blank)$ durchführt. Das sind Spielwahlen, | |
die die Schule wenige Tage vor den Landtags-, Bundestags- und Europawahlen | |
abhält. Und bei denen regelmäßig die AfD weit vorn liegt. Seibold-Pfeiffer | |
nennt die Ergebnisse der letzten Jahre „enttäuschend oder erschreckend“. | |
Bei den letzten Juniorwahlen kurz vor der Europawahl Ende Mai landete die | |
AfD mit 16,5 Prozent der Stimmen sogar auf dem ersten Platz – im | |
bundesweiten Schnitt erreichte die Partei bei den beteiligten SchülerInnen | |
gerade mal 6,5 Prozent. Die Grünen hingegen, die bei den Juniorwahlen im | |
bundesweiten Schnitt mit weitem Abstand auf Platz eins kamen, schafften es | |
$(LB3437114:an der Stoy-Schule nur auf den dritten Platz|_blank)$. | |
Lehrerin Seibold-Pfeiffer erklärt dies mit der sozialen Herkunft der | |
SchülerInnen: „Viele kommen zu uns ohne Schulabschluss und kämpfen, ihn | |
hier zu schaffen. Wer sich als junger Mensch abgehängt fühlt, wählt | |
vielleicht häufiger AfD.“ | |
## „Keine Illusionen“ | |
Ein anderes Kriterium sei sicher der Wohnort. Viele SchülerInnen der | |
Stoy-Schule kämen aus dem ländlichen Raum, dort, wo die AfD stärker gewählt | |
werde als in dem traditionell eher linken Milieu der Universitätsstadt | |
Jena, so Seibold-Pfeiffer. Man dürfe sich aber keinen Illusionen hingeben. | |
Auf die Stoy-Schule mit ihrem Wirtschaftsschwerpunkt gingen insgesamt knapp | |
900 Schülerinnen und Schüler. | |
„Mit dem Speeddating habe ich heute zehn Prozent erreicht.“ Und selbst bei | |
den zehn Prozent dürfe man nicht davon ausgehen, dass die sofort ihr | |
Wahlverhalten änderten. „Wir sind Realisten genug, dass wir mit dem | |
Speeddating oder der Juniorwahl nicht Hunderte Schüler politisch | |
umorientieren“. | |
Wie recht Seibold-Pfeiffer mit ihrer Einschätzung hat, zeigt sich im | |
Gespräch mit jenen SchülerInnen, die ihre Wahlentscheidung schon vor dem | |
Speeddating getroffen haben. Wie Max Bornschein. Der 19-Jährige trägt Hemd | |
und Seitenscheitel und ist, wie er sagt, „der FDP zugeneigt“. Seinen | |
Realschulabschluss hat Bornschein an einer Sportschule gemacht, danach hat | |
er zwei Jahre lang als Praktikant das Privatkunden- und Wertpapiergeschäft | |
bei der Sparkasse kennengelernt. Dort will er auch seine Ausbildung machen. | |
An der Stoy-Schule macht er dafür sein Fachabitur. | |
Die FDP wählt Bornschein, weil er glaubt, dass sie für die Wirtschaft in | |
Jena die besten Entscheidungen treffen würde. Was er sich von seiner | |
Wählerstimme wünscht: dass die Unternehmen in der Region gefördert werden. | |
„Dann ist auch mehr Geld für anderes da.“ Die E-Mobilität zum Beispiel. | |
Seine Wahlentscheidung konnte selbst die etwas oberlehrerhafte | |
FDP-Direktkandidatin nicht umstoßen. | |
## Ost-West kein Thema | |
Ähnlich ist es auch bei Lisa Herbrig. Die 24-Jährige hat schon eine | |
Ausbildung bei der Telekom und drei Jahre Berufserfahrung hinter sich. Nun | |
sattelt sie um, um später als Sport- und Geografielehrerin zu arbeiten. | |
Auch sie hat ihre Wahlentscheidung schon gefällt. Für welche Partei, das | |
will Herbrig nicht verraten. Zweierlei lässt sie aber durchscheinen: dass | |
sie für die AfD wenig Sympathie hegt – und dass ihr das Klima sehr am | |
Herzen liegt. | |
Worin sich Bornschein und Herbrig einig sind: dass sie das | |
Kandidaten-Speeddating gern schon früher an einer Schule erlebt hätten, in | |
der achten oder neunten Klasse. Und: dass sie nicht in den Kategorien Ost | |
und West denken, auch wenn die AfD bei den vorangegangen Landtagswahlen in | |
Sachsen und Brandenburg mit dem Thema viel Aufmerksamkeit erhalten hat. | |
„Ich denke nicht in diesen Kategorien“, sagt Lisa Herbrig. „Ich bin nicht | |
in der DDR geboren. Für mich gibt es nur ein Land.“ Weder in ihrem noch in | |
Bornscheins Freundeskreis sei das „Ost-Thema“ bestimmend. | |
So erlebt das auch Uta Seibold-Pfeiffer im Unterricht. Immer zu | |
Stundenbeginn fordert sie ihre SchülerInnen auf, zu berichten, was sie | |
bewegt, was sie aufregt. Das sind mal die Klima-Demos, mal das kostenlose | |
Azubi-Ticket, mal die Debatte über die Benzin-Steuer. Aber schon auch mal | |
„klassische Migrationsthemen“. So ähnlich gehe es auch anderen Lehrkräften | |
an der Stoy-Schule. Das Kollegium blickt deshalb mit Sorge auf die | |
anstehenden Wahlen. | |
Eine Hoffnung hat die Sozialkundelehrerin aber: dass sich die SchülerInnen | |
nach dem Speeddating weiter über die Parteien und deren Inhalte | |
unterhalten: im Freundeskreis, in der Familie. Immerhin sei es ja nicht | |
ausgeschlossen, dass jemand die Positionen aus seinem Umfeld noch | |
überdenke. Bald wird Uta Seibold-Pfeiffer es wissen: Am 22. Oktober finden | |
die schulinternen Juniorwahlen statt – und fünf Tage später dann die | |
Landtagswahl, bei der viele SchülerInnen der Stoy-Schule dann erstmals | |
richtig wählen dürfen. | |
1 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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