Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die EU vor den Europawahlen 2024: Europa als Föderation
> Die schwerfällige Europäische Gemeinschaft braucht dringend Reformen. Das
> Einstimmigkeitsprinzip zuallererst hängt wie ein Klotz am Bein der EU.
Im Dezember 2023 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU,
Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, der Republik Moldau, Georgien und
allen Balkanländern aufzunehmen, die noch nicht Mitglied der EU sind. Was
die Türkei betrifft, so sind die 2024 eingeleiteten Verhandlungen zum
Erliegen gekommen, ohne dass diese formell abgebrochen wurden. Sollte der
Prozess zu Ende geführt werden, hätten wir eine EU der 36.
Es ist richtig, Ländern, die brutal angegriffen oder bedroht werden, eine
Zukunftsperspektive zu bieten. Es liegt auch in unserem Interesse, dass
unsere Werte und eine gewisse Stabilität unsere Nachbarschaft prägen, aber
großzügige Versprechungen greifen schlicht zu kurz. Wie verhindern wir,
dass die Union in einem großen, heterogenen und nicht handhabbaren Gebilde
aufzugehen droht? Niemand weiß das. Es wurden Versprechungen gemacht, ohne
dass ein Gesamtkonzept oder Stufenplan vorliegen.
[1][Frankreich und Deutschland] teilen nicht die gleiche Überzeugung,
gleichwohl beide Länder eine einzigartige Verantwortung tragen: im Namen
der Geschichte und aufgrund der zerstörerischen Kraft ihrer Zerwürfnisse.
Wenn diese jedoch ausgeräumt werden, wird die Komplementarität der
bestehenden Unterschiede sichtbar. So betont Frankreich mit Blick auf die
[2][russische Aggression] die Bedrohung, die eine Entsendung von
Bodentruppen erforderlich machen könnte.
Und die Bundesregierung erinnert daran, dass man einen Krieg nie auf die
leichte Schulter nehmen sollte. Abgesehen von wahltaktischen Überlegungen
zeigt diese Debatte, dass wir wahrhaftig beide Ansätze brauchen. Die
deutsch-französische Zusammenarbeit offenbart sich wieder einmal als
„Checks and Balances“ Europas.
## EU ist für ihre Mission nicht ausgestattet
Es ist unvernünftig zu meinen, man könne mit der (endlosen) Erweiterung der
1950 gegründeten Europäischen Gemeinschaft und den bestehenden europäischen
und oft missverstandenen Institutionen eine Wand gegen aggressive Mächte
errichten. Wenn sich alle einig sind, dass die Union nicht mit staatlichen
Hoheitsrechten ausgestattet werden soll, müssen wir aufhören, sie ständig
mit den mächtigsten Staaten der Welt zu vergleichen. Es sei denn, am Ende
setzt sich das Offensichtliche durch:
Die EU ist für das, was man von ihr verlangt, nicht angemessen
ausgestattet. Und daher drängt sich ein föderales Europa auf. Angesichts
der russischen Bedrohungen und der [3][Gefahr eines US-Isolationismus]
sollten wir uns reinen Wein einschenken: Es gibt keine politische Macht
ohne solide Finanzen (wie es in Frankreich gern geglaubt wird) noch
wirtschaftliche Macht, ohne Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen (wie
es die Deutschen lange Zeit gehofft haben).
Und ganz zu schweigen von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden
Demokratisierung der Entscheidungsprozesse: kein demokratisches Europa ohne
die Zustimmung der Bürger, kein Europa ohne ein Wir-Gefühl, das die Abgabe
und das Teilen von Souveränität rechtfertigt. In dem Maße, in dem die
großen Europäer der Vergangenheit nicht mehr unter uns weilen (Napolitano,
Delors, Schäuble, um nur einige zu nennen), verliert das europäische
Zugehörigkeitsgefühl weiter an Boden.
Auf der [4][politischen Rechten] und Linken sind die Extreme auf dem
Vormarsch, getragen von nationalistischen und protektionistischen
Versprechen. Ihre genialen Ideen würden uns zum Völkerbund zurückführen,
mit dem uns allen bekannten Erfolg. Auch die traditionellen Parteien sind
weit davon entfernt, etwas für die europäische Einigung zu riskieren und
ziehen sich lieber in ihr bequemes Schneckenhaus zurück. Und die Kommission
wird nebenbei zum Sekretariat der Hauptstädte degradiert.
## Jeder zuvorderst für sich selbst
Der Beweis? Ein Stabilitätspakt, der zu einem gegenseitigen
Nichtangriffspakt entwertet wurde, eine Wettbewerbspolitik, die mit der
Aussetzung der Verbote staatlicher Beihilfen auf ein Minimum reduziert
wurde. Bei den Subventionen gilt: Jeder für sich allein, zum Vorteil der
Stärksten. Bei der Kampagne für die Europawahlen geht es weniger um Europa
als um den Bauchnabel eines jeden Einzelnen. Wir sind auf dem besten Weg,
27 Einzelpartien zu spielen.
Um erfolgreich zu sein, muss die Europäische Union ihre Politik, ihren
Haushalt und ihre Rechtsnormen auf den Prüfstand stellen. Deshalb würden
wir am liebsten rufen: Die Wette gilt! Traut ihr euch endlich, ein
föderales Europa zu schaffen? 30 Jahre nach ihrer Einführung steckt die
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik immer noch in den Kinderschuhen,
um nicht zu sagen, sie ist inexistent.
Das Versprechen, die EU zu einem „geopolitischen“ Akteur zu machen, wird
keine leichte Aufgabe sein, vor allem wenn wir unsere Art der
Entscheidungsfindung nicht reformieren. Aufgrund des
Einstimmigkeitsprinzips bezieht die Union keine eindeutige Position zu dem
abscheulichen [5][Angriff der Hamas vom 7. Oktober und dem schrecklichen
Drama, das sich in Gaza] abspielt.
Die europäischen Steuerzahler haben Gesundheits-, Bildungs- und
Verwaltungseinrichtungen im Gazastreifen finanziert, aber die EU ist nicht
in der Lage, die Parteien von einem Waffenstillstand zu überzeugen, die
Freilassung der Geiseln zu erwirken oder substanziell zu einer dauerhaften
Lösung des Konflikts beizutragen. Wie kann man unsere offensichtliche
Verwundbarkeit übersehen, wenn die Entsendung von Truppen durch 27
nationale Entscheidungsprozesse legitimiert werden muss?
## Nur keinen Zickzackkurs
Als Teil des europäischen Schauspiels tauchen die nationalen
Regierungschefs sporadisch in Brüssel auf, um ihre von nationalen
Scheuklappen beschränkten Standpunkte kundzutun und diese danach auf
getrennten Pressekonferenzen der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit
zukommen zu lassen. Anders als beim Euro: Als wir ihn schufen, kam der Euro
dabei heraus, wir haben dem Bürger nicht einen Korb voller Währungen für
eine Währungsunion verkaufen wollen.
Was aber würden uns die geplanten Verteidigungsanstrengungen kosten? Mit
welchen Auswirkungen auf die nichtmilitärischen Haushaltsposten? Ein auf
transparente Weise vom Parlament verabschiedeter Haushalt, der dem
undurchsichtigen Feilschen zwischen Mitgliedstaaten ein Ende setzt, wäre
das Mindeste, das die Union angehen sollte, die solch geopolitische
Ambitionen an den Tag legt. Verhandlungen, die mit 27 Mitgliedstaaten
ineffizient sind, wären bei einer Anzahl von 35 oder 36 selbstmörderisch.
Es werden Abwägungen erforderlich sein, bei denen es zwingend notwendig
ist, den Green Deal – das Paket ehrgeiziger Klima- und Umweltpolitiken –
weiter umzusetzen und zu vertiefen. Die Wissenschaftler sind sich darüber
im Klaren, dass Eile geboten ist. Wiederherstellung der Natur,
Sorgfaltspflicht, Pestizide: Konsequenz erfordert Beständigkeit. Nichts ist
schädlicher als ein Zickzackkurs, der Unternehmen und Bürgern
widersprüchliche Signale sendet.
Wird die Agrarpolitik in ihrer momentanen Konzeption, die seit Jahrzehnten
den größten Ausgabenposten der EU ausmacht, fortgesetzt? [6][Der Beitritt
der Ukraine] würde zwar das Agrar- und Lebensmittelpotenzial Europas
stärken, aber wir verschweigen die damit verbundenen Kosten und diskutieren
nicht über ein wünschenswertes Agrarmodell:
## Kein Europa zum Schleuderpreis
Entweder nachhaltig, ohne die Gesundheit der europäischen Landwirte oder
die Märkte der südlichen Länder zu gefährden oder aber gewinnorientiert,
intensiv und letztlich unhaltbar für unsere Gesundheit und den Planeten?
Schließlich erfordert die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit mehr
Ernsthaftigkeit. Bisher verfügt die Kommission nicht über die Mittel, die
Umsetzung der EU-Grundrechtecharta zu überwachen.
Nicht nur im Osten sehen wir bereits jetzt Verstöße hinsichtlich
Medienkonzentration, Desinformation oder des Zustands der Gefängnisse. Um
die Erweiterung besser gestalten zu können, glaubt die Kommission eine
Zauberformel gefunden zu haben: die Integration in Etappen. Diese
Selbstdemontage ist das Gegenteil der Position, die die Union im
[7][Brexit] vertreten hat.
Es kommt einem Täuschungsmanöver nah, ja einem Europa zum Schleuderpreis,
während der Wert der Mitgliedschaft in der Teilhabe der Institutionen wie
dem Parlament (das die Regeln setzt) und dem Gerichtshof (der sie
durchsetzt) liegt. Hinter den Slogans von einem mächtigeren Europa steht
eigentlich der reduzierte Gedanke des Europas als Markt, nur dass dieser
nun besser verpackt wurde.
Die Vergabe von Rechten, ohne die Pflichten einzufordern, würde
letztendlich nur zu Verwirrung und zur Zerfaserung des gemeinsamen
Regelwerks führen. Man kann jetzt schon davon ausgehen, dass die bisherigen
Mitgliedstaaten auch Anpassungen einfordern werden. Und wie sollen die
Bürger dann noch wissen, wo die Union anfängt und wo sie endet? Warum
stehen wir für ein föderales Europa ein? Diese Forderung hat weder etwas
mit Träumerei noch mit Nostalgie zu tun.
Wir sollten den gesunden Menschenverstand walten lassen und das föderale
Modell annehmen, um ein handlungsfähiges, demokratisches Europa zu
schaffen, das den Bürgern zwingend Rechenschaft ablegt. Ein föderales
Europa würde den Vorrechten der Mitgliedstaaten in angemessenerer Weise
nachkommen als eine Union, in der wir dem Gutdünken der nationalen
Regierungen ausgesetzt sind.
Es ist unsere einzige Chance, um als erweiterte EU zu überleben und den
enormen Herausforderungen gerecht zu werden. Die Alternative wäre, uns
weiter in Sonntagsreden zu verlieren.
Aus dem Französischen von Tjark Egenhoff
28 Apr 2024
## LINKS
[1] /Frankreich-ueber-Bodentruppen/!5992162
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[3] /Vorwahlen-in-den-USA/!5995705
[4] /Schwerpunkt-AfD/!t5495296
[5] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[6] /Deutscher-Bauernverband-zu-EU-Beitritt/!5969798
[7] /Zwei-Jahre-Brexit/!5903746
## AUTOREN
Daniel Cohn-Bendit
Sylvie Goulard
## TAGS
Schwerpunkt Europawahl
Rechtspopulismus
Föderalismus
Europäische Union
Robert Habeck
Schwerpunkt Europawahl
Boris Johnson
Schwerpunkt Europawahl
Schwerpunkt Europawahl
Schwerpunkt Europawahl
Schwerpunkt Europawahl
Schwerpunkt Europawahl
## ARTIKEL ZUM THEMA
Macron, Biden und die gute Merkel-Zeit: Und wen wählt Daniel Cohn-Bendit?
Früher war alles besser? Mag schon sein. Robert Habeck weiß aber auch ein
paar Gründe dafür.
EU-Wahlen 2024: Energie für die Demokratie
Das, was Menschen jeden Tag für sich und andere tun, kann als Energie
bezeichnet werden. Aber wie kann man die in politische Prozesse übertragen?
Bilanz einer gescheiterten Utopie: Exit vom Brexit?
Von den Folgen des Brexits sind vor allem jene Abgehängten betroffen, die
für ihn gestimmt hatten. Ein Zurück wird es aber auch mit Labour nicht
geben.
Wahlkampfauftakt zur EU-Wahl: „Es lebe die Demokratie“
Mit Videos von Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs will das Europaparlament
die Wähler an die Urnen locken. Positive Botschaften fehlen.
Die EU vor der Europawahl 2024: Die Ohnmacht überwinden
Die Stärke rechter Parteien erzeugt bei progressiven Wählern ein Gefühl der
Machtlosigkeit. In Polen wurde das erfolgreich überwunden.
Die EU vor der Europawahl 2024: Moralisch-demokratisches Korrektiv
Die EU steht unter anderem wegen ihrer Flüchtlingspolitik in der Kritik. Zu
Recht. Und doch ginge es ohne die EU vielfach brutaler und ungehemmter zu.
Eurobarometer-Umfrage vor Europawahl: Die EU ist von gestern? Von wegen!
Das Interesse an der Europawahl ist groß, ergibt eine Umfrage. Von
Vorfreude kann aber keine Rede sein, denn die Gründe dafür sind nicht
erheiternd.
Europa-Programm der Union: Mit klar konservativer Handschrift
CDU und CSU beschließen ihr Programm für die Europawahl. Sie fordern
Aufrüstung, Asylrechtsverschärfungen und wirtschaftsfreundliche
Klimapolitik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.