# taz.de -- Bilanz einer gescheiterten Utopie: Exit vom Brexit? | |
> Von den Folgen des Brexits sind vor allem jene Abgehängten betroffen, die | |
> für ihn gestimmt hatten. Ein Zurück wird es aber auch mit Labour nicht | |
> geben. | |
Bild: Wenn die Büchse erst einmal geöffnet ist… | |
Man kann in Großbritannien in diesen Tagen in vergleichsweise kurzer Zeit | |
etwas beobachten, das sich anderswo jahre- oder jahrzehntelang hinzieht: | |
das Scheitern einer Utopie. Gemeint ist, wie sollte es anders sein: der | |
Brexit. | |
Dabei ist der Brexit an sich, rein technisch betrachtet, eine unumstößliche | |
Tatsache. Was derzeit jedoch zerplatzt, sind die Ideengebilde, die | |
Brexit-Unterstützer um den EU-Austritt herum errichtet haben. Ein Stichwort | |
wäre der fast schon vergessene Slogan „Global Britain“. Unter britischen | |
Europaskeptikern herrschte lange die Vorstellung vor, dass ein | |
„entfesseltes“ Großbritannien wieder gleichberechtigt am Tisch mit den | |
Supermächten der Welt Platz nehmen würde, sobald es sich nur aus der für | |
seine Verhältnisse viel zu kleinen und unwichtigen EU befreien würde. | |
Hinter diesen Träumereien steckte oft nichts anderes als Empire-Nostalgie. | |
## Vom alten Glanz keine Spur | |
Eingetreten ist das Gegenteil. Der EU-Austritt hat Großbritanniens | |
internationales Ansehen geschmälert und den Ruf des Landes ramponiert. Seit | |
Jahren kann man auf internationalen Gipfeln beobachten, wie britische | |
Regierungschefs mehr oder weniger erfolglos versuchen, sich als wichtige | |
Ansprechpartner in Debatten einzubringen. Auf Fotos mit anderen Staats- und | |
Regierungschefs, die oft einen Hinweis auf den internationalen Status von | |
Staaten geben, muss man den Noch-Premier Rishi Sunak nicht nur deswegen | |
bisweilen länger suchen, weil er relativ klein ist ist. Hätte er den Brexit | |
nicht selbst seit vielen Jahren unterstützt, könnte er einem fast leidtun. | |
So viel zum Thema Supermacht. | |
Britische Premiers verweisen seit dem Leave-Votum besonders häufig darauf, | |
dass Großbritannien einer der wenigen europäischen Staaten ist, die in der | |
Lage sind, binnen kurzer Zeit international militärisch aktiv zu werden. | |
Doch das hat mit dem Brexit nichts zu tun. Auch als EU-Mitglied hat | |
Großbritannien an Militäreinsätzen im Ausland teilgenommen, etwa im Irak, | |
in Bosnien und in Afghanistan. Schaut man sich die Einsatzbereitschaft der | |
britischen Streitkräfte genauer an, blättert schnell reichlich Lack ab. | |
## Camerons Austerität sorgte für Verwüstungen | |
Von den wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind heute tragischerweise | |
viele der wirtschaftlich abgehängten Regionen besonders stark betroffen, in | |
denen es beim EU-Referendum 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gab. | |
Dass die Menschen dort für den Brexit gestimmt haben, hatte oft weniger mit | |
einer Sehnsucht nach einem Status als Weltmacht zu tun als mit dem Willen, | |
gehört zu werden. | |
Der damalige Premier David Cameron hatte nach seinem Amtsantritt 2010 die | |
Rezession nach der Finanzkrise dazu genutzt, ein drakonisches und zutiefst | |
ideologisches Austeritätsprogramm in Gang zu setzen. Das vordergründige | |
Ziel, eine Beseitigung des Defizits, wurde nie erreicht. Stattdessen | |
verlängerte der Sparkurs die Wirtschaftskrise um Jahre. Die öffentlichen | |
Dienste, allen voran das Gesundheitssystem NHS, wurden schwer beschädigt. | |
2019 stellte die damalige Premierministerin Theresa May das Projekt | |
klammheimlich ein. Doch die Folgen waren schon da verheerend: Eine 2022 im | |
Journal of Epidemiology and Community Health veröffentlichte Studie kam zu | |
dem Schluss, das die Austerität zwischen 2012 und 2019 landesweit für rund | |
335.000 zusätzliche Todesfälle gesorgt haben könnte. | |
Wie schwer die Verwerfungen waren, die er in vielen Landesteilen mit seinem | |
drakonischen Sparkurs angerichtet hat, war David Cameron offenbar gar nicht | |
bewusst, als er im Februar 2016 das EU-Referendum für den 23. Juni | |
desselben Jahres ausrief. Die zentrale Rolle beim wohl größten Akt | |
nationaler Selbstsabotage in jüngerer Zeit fällt jedoch einem anderen | |
Protagonisten zu: Boris Johnson. | |
## Am Ende war der Sieg Boris Johnson peinlich | |
Wie kalkulierend der begnadete Opportunist und [1][„Bullshitter“ Johnson] | |
seinerzeit vorging, belegt ein einfacher Umstand: Johnson beschrieb damals | |
in einer Kolumne im konservativen Daily Telegraph, warum er sich für einen | |
EU-Austritt einsetzt. Später wurde bekannt, dass er zugleich auch eine | |
alternative Kolumne geschrieben hatte. Und in der sprach er sich für einen | |
Verbleib in der EU aus. In den Jahren zuvor hatte Johnson immer wieder | |
erklärt, dass er kein „Outer“ sei. Offenbar traf er seine Entscheidung erst | |
in letzter Minute. Von einer tiefen Überzeugung kündet das nicht. | |
Die „Vote Leave“-Kampagne erhielt durch Johnson jedoch einen bedeutenden | |
Schub, er wurde schnell zum Aushängeschild der Brexit-Unterstützer. Mit | |
seinem liberalen Image, das ihm als Bürgermeister der Weltmetropole London | |
anhaftete, verlieh Johnson dem bis dahin verbitterten rechtspopulistischen | |
Projekt einen moderaten Anstrich. Heute zweifelt kaum jemand daran, dass | |
Johnson die Leave-Kampagne nur deswegen unterstützte, weil er sich davon | |
einen politischen Vorteil erhofft hatte. | |
Offenbar glaubte Johnson auch gar nicht daran, dass Leave gewinnen würde. | |
Als die Leave-Seite das Referendum dann überraschend doch gewann, war | |
Johnson das Entsetzen anzusehen. Am Morgen nach dem Referendum verlas er | |
mit versteinerter Miene eine Erklärung. Vom kumpelhaften Johnson-Elan | |
fehlte jede Spur. Er blickte immer nur kurz vom Blatt auf, um seinen Blick | |
sofort wieder zu senken, ganz so, als könne er es nicht ertragen, Leuten in | |
die Augen zu schauen. | |
Bis Johnson sein erklärtes Lebensziel erreichte und Premierminister wurde, | |
dauerte es noch einmal drei Jahre. Im Amt verstrickte sich Johnson aber, | |
wie zu erwarten, dermaßen schnell in Lügen und Skandale, dass ihn sein | |
eigenes Kabinett im September 2022 stürzte. Vielen Briten ging damals auf, | |
dass sie einem politischen Trickbetrüger aufgesessen waren. Ihnen dämmerte, | |
dass wohl auch Johnsons Brexit-Versprechen nicht viel mehr waren als heiße | |
Luft. | |
## Wirtschaftlich bestenfalls ein Nullsummenspiel | |
Nach Anzeichen für das Scheitern des Brexit-Projekts muss man heute nicht | |
lange suchen. Von den viel gepriesenen neuen weltweiten Handelsabkommen, | |
die der Brexit ermöglichen sollte, fehlt weiter jede Spur. Zwar hat London | |
seit dem EU-Austritt 71 Freihandelsabkommen oder Handelsvereinbarungen | |
unterzeichnet. 68 von ihnen sind aber sogenannte Roll-over-Abkommen, die | |
noch aus der Zeit stammen, als das Land Teil des Europäischen Binnenmarkts | |
war. Neue Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland, die London gerne | |
als Brexit-Erfolge feiert, fallen wirtschaftlich kaum ins Gewicht. | |
Im Gegenzug wird die britische Landwirtschaft darunter leiden, wenn gemäß | |
den aus Sicht von Experten stark einseitigen Abkommen in den kommenden | |
Jahren immer mehr australisches und neuseeländisches Fleisch zollfrei nach | |
Großbritannien exportiert werden kann. Zugleich fährt die Regierung die | |
Landwirtschaftssubventionen aus EU-Zeiten rapide zurück. Geplante | |
alternative Zahlungen, die Bauern stärker für Dinge wie Landschaftspflege | |
entlohnen sollen, kommen nur langsam in Gang. Kein Wunder, dass laut einer | |
Umfrage des Landwirtschaftsverbands National Farmers’ Union die Stimmung | |
unter britischen Landwirten so schlecht ist wie lange nicht. Dabei war die | |
Zahl der Brexit-Unterstützer unter den Landwirten besonders hoch. | |
## Kein bisschen demokratischer | |
Hoch ist auch der Preis, den das Land für die Brexit-Utopie zahlt: Die | |
Ausgabenwächter vom Office for Budget Responsibility gehen davon aus, dass | |
das britische Handelsvolumen seit dem EU-Referendum um 15 Prozent niedriger | |
ausgefallen ist, als es bei einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft der Fall | |
gewesen wäre. Die britische Wirtschaftsleistung wird dadurch vermutlich | |
über einen Zeitraum von 15 Jahren um 4 Prozent niedriger ausfallen als ohne | |
EU-Austritt. | |
Aber hat der EU-Austritt das Land nicht demokratischer gemacht? Auch hier | |
ist das Gegenteil eingetreten. Wegen der anhaltenden wirtschaftlichen | |
Probleme, die der Brexit zweifellos verstärkt hat, wird die Regierung in | |
London schon seit Johnsons Zeit als Premier zunehmend autoritärer. Das | |
selbst aus Sicht der britischen Justiz illegale Vorhaben, [2][Asylbewerber | |
noch vor Abschluss ihrer Verfahren nach Ruanda zu deportieren], rückt | |
Großbritannien international in Richtung eines Pariastaats. Mit den | |
geplanten Abschiebungen, die noch aus Johnsons Zeit als Premierminister | |
stammen, stemmt sich Sunak gegen einen weiteren Beleg dafür, dass der | |
Brexit als ideologisches Konzept gescheitert ist. Denn die | |
Nettoeinwanderung stieg im vergangenen Jahr trotz einer restriktiven | |
Einwanderungspolitik auf einen neuen Rekordwert von 745.000 Personen. Dabei | |
haben die Vertreterinnen und Vertreter der Leave-Seite im Vorfeld des | |
Referendums immer wieder angedeutet, dass ein EU-Austritt zu einem Rückgang | |
der Einwanderung führen würde. | |
Unter den Menschen, die alltäglich mit den Folgen des gescheiterten | |
Brexit-Projekts leben müssen, hält sich die Begeisterung über den | |
EU-Austritt mittlerweile in Grenzen. Einer kürzlich Umfrage zufolge glaubt | |
nur noch einer von zehn Briten, dass der Brexit ihre finanzielle Situation | |
verbessert hat. Fast zwei Drittel glauben, dass der Brexit zur Inflation | |
und zu den hohen Lebenshaltungskosten beigetragen hat. Nur noch 22 Prozent | |
gaben an, dass der Brexit für das Land positiv gewesen ist. Für das | |
Phänomen gibt es mittlerweile einen Namen: Bregret. | |
## Britain's coming home? | |
Zeit also, über einen „Brejoin“ nachzudenken, einen erneuten Beitritt zur | |
EU? Die [3][Labour Party, die allen Umfragen zufolge nach den kommenden | |
Parlamentswahlen die Regierung des glücklosen Brexit-Unterstützers Sunak | |
ablösen wird], wiegelt ab. Unter Labour werde Großbritannien weder dem | |
Europäischen Binnenmarkt beitreten noch der Zollunion, erklärte die | |
Parteiführung schon vor einiger Zeit. Labour-Chef Keir Starmer möchte das | |
Verhältnis zum größten und wichtigsten Handelspartner des Landes aber in | |
jedem Fall „verbessern“. | |
Offensichtlich scheut sich die Labour-Führung davor, die gerade erst | |
oberflächlich verheilten Wunden wieder aufzureißen, die der jahrelangen | |
Brexit-Streit in die britische Gesellschaft gerissen hat. Auf eine | |
Neuauflage der Brexit-Hickhacks hat sowohl in Großbritannien als auch in | |
der EU derzeit wohl kaum jemand Lust. | |
Labour-Insider munkeln allerdings, dass sich diese aktuell recht starre | |
Haltung in einigen Jahren ändern könnte. Wenn im Lauf der Zeit klar werde, | |
dass sich ein eindeutiger Großteil der Menschen im Land ein Ende des | |
Brexit-Experiments wünscht, so die Hoffnung, könnte eine zukünftige | |
Labour-Regierung eine Debatte in Gang setzen, an deren Ende Großbritannien | |
wieder deutlich näher an seine europäischen Nachbarn rückte. Gescheitert | |
ist die rechtspopulistische Brexit-Utopie in jedem Fall schon heute. | |
12 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.blaetter.de/en/2021/07/the-politics-of-lies-boris-johnson-and-t… | |
[2] /Asylstreit-zwischen-Dublin-und-London/!6008062 | |
[3] /Kommunalwahlen-in-England/!6005906 | |
## AUTOREN | |
Sascha Zastiral | |
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