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# taz.de -- Die EU vor der Europawahl 2024: Moralisch-demokratisches Korrektiv
> Die EU steht unter anderem wegen ihrer Flüchtlingspolitik in der Kritik.
> Zu Recht. Und doch ginge es ohne die EU vielfach brutaler und ungehemmter
> zu.
Bild: Deutsche und griechische Polizisten bei einem Frontexeinsatz an der bulga…
In der vergangenen Woche war ich mit einer Delegation in Griechenland. Auf
dem Programm standen Gespräche mit Ärzt:innen, Helfer:innen und
Geflüchteten. Sie berichteten Erschreckendes, wenn auch nichts Neues:
Folter durch die Grenzpolizei, Tote bei [1][Pushbacks], abgelehnte
Asylsuchende ohne jeden Anspruch auf Lebensmittel. Am Ende sagte eine
Delegationsteilnehmerin, was alle dachten: Das kann doch nicht wahr sein,
dass da keiner was macht. Es lag auf der Hand, wer das sein müsste: die
Europäische Union.
Die EU hat zwei Dinge, die heute nicht selbstverständlich, nicht ersetzbar,
nicht verzichtbar sind: Moralisch-zivilisatorische Ansprüche, an denen sie
festhält, obwohl sie dauernd selbst gegen diese verstößt – deren Einhaltung
sich aber einfordern lässt. Und Einflussmöglichkeiten auf Regierungen in
einem Maß, das es sonst nicht gibt.
Die Zivilgesellschaft kann protestieren, praktische Solidarität leisten.
Aber viele ihrer Interventionen zielen darauf ab, dass Institutionen mit
Macht eingreifen und Dinge verändern. Viele, denen Menschenrechte wichtig
sind, sehen in der EU heute vor allem ein Projekt der Gewalt, eine Festung
Europa: [2][Frontex], Pushbacks, [3][Tote im Meer] und [4][in der Wüste],
Lager, Internierung, Gewalt, Zäune, [5][kriminalisierte
Seenotretter:innen], [6][Asylrechtsabbau], Kollaboration mit
Verbrechermilizen. Und es sind nicht nur die Grenzen: Zu schwacher
Klimaschutz, Ermöglichen von Massenüberwachung, neoliberale Sozialpolitik,
das fällt vielen zur EU ein. Und dafür gibt es gute Gründe.
Doch wer die EU darauf reduziert, verkennt eins: Könnten die
Nationalstaaten heute so agieren, wie sie wollten, wäre vieles schlimmer.
Es ginge brutaler zu, ungehemmter. Die EU ist, trotz allem, auch ein
moralisch-demokratisches Korrektiv. Ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten
verschafft ihr einen besonderen Einfluss, weit stärker als jener des
Europarats, der Vereinten Nationen oder anderer nationaler Regierungen. Das
ist nicht nur wegen des Geldes so, das aus Brüssel fließt. Es ist das
institutionelle Geflecht, eine liberal geprägte politische Kultur, geteilte
Normen, gewachsene Kooperation.
## Länder können leicht in die Hände von Autokraten fallen
Nun könnte man sagen: Was nützt das? Offensichtlich hindert die EU ja
beispielsweise Griechenland keineswegs daran, all die Rechtsverstöße zu
begehen. Vielmehr zahlt sie viel Geld dafür, fordert unter anderem den
Außengrenzenschutz, der all die schlimmen Dinge hervorbringt, aktiv ein.
Aber dieser Blick greift zu kurz. [7][Ungarn] oder bis vor Kurzem
[8][Polen] zeigen, wie leicht nationale Regierungen in die Hände von
Autokraten fallen können, die ganz offensiv Mindeststandards aufkündigen,
Gesetze ignorieren. Kritische Medien, Zivilgesellschaft, demokratische
Institutionen werden plattgemacht, Frauen- und Minderheitenrechte ebenso,
die einzige Asylpolitik heißt: Knüppel frei.
Hoffnungen richten sich dann meist auf die EU. Auf wen sonst? Sie hat
Möglichkeiten der Intervention. Und man kann versuchen, sie auf ihre
Verfasstheit mit Mindeststandards und garantierten Rechten festzunageln.
Das schafft einen gewissen Schutz, Haltelinien, Spielräume, wenn
Regierungen ins Autoritäre kippen. Wie weit dieser Einfluss dann auch in
einem prodemokratischen, fortschrittlichen, menschenrechtlichen Sinne
genutzt wird, ist eine andere Frage.
Die Kommission versagt moralisch, wenn ihre Präsidentin Ursula von der
Leyen (CDU) wie im Februar 2020 Griechenland als „unseren Schild“ lobt,
während [9][am Evros mit aller Gewalt gegen Migrant:innen vorgegangen
wird]. Die EU versagt, wenn Ratspräsident Charles Michel Spanien und
Marokko versichert, man unterstütze die Länder „voll und ganz“, nachdem am
Grenzzaun von Melilla an einem einzigen Tag mindestens 27 Menschen getötet
werden, [10][wie im Juni 2022].
Die EU versagt, wenn sie die Sprachregelung der „hybriden Bedrohung“
übernimmt, mit der Polen 2021 seine gewaltsamen Massenpushbacks nach
Belarus rechtfertigte. Und die Kommission versagt politisch, wenn sie allzu
zögerlich ihre Handhabe gegen Regierungen wie jene in Ungarn oder bis vor
Kurzem in Polen einsetzt. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
## Der Einfluss Rechtsextremer wächst
Denn die EU-Institutionen sind umkämpft, der wachsende Einfluss
Rechtsextremer zeigt Wirkung, ebenso die Rechtsdrift der etablierten
Parteien. Nicht zu Unrecht nannte die Linke Cornelia Ernst [11][das neue
Asylsystem GEAS] einen „historischen Kniefall vor den Rechtspopulisten
Europas“. Aber die EU hat eben nicht nur diese Seite.
Als die Türkei 1999 EU-Beitrittskandidatin wurde, ließ die Regierung dort
massenhaft foltern. Die EU verlangte als Vorbedingung für
Beitrittsgespräche, dass alle Verhafteten zu Beginn und dann wieder vor der
Entlassung einem Arzt vorgeführt werden, damit mögliche Folterspuren
entdeckt werden und die Hemmschwelle für Folter steigt. Man kann das bigott
finden, doch eine mit solchen moralischen Ansprüchen nach außen bis heute
oft auftretende EU ist unbestreitbar ein Fortschritt gegenüber
Verhältnissen, in denen Folter offen befürwortet wird.
„Nach der zweiten oder dritten Warnung – bumm. Dann schießt die Kanone,
ohne noch viel zu reden. Die Kanone tötet. Sonst kommen wir nie zu einem
Ende“, so wollte einst der italienische Rechtspopulist Umberto Bossi den
Flüchtlingsbooten entgegentreten. Als die Postfaschistin [12][Giorgia
Meloni] 2022 ins Amt kam, hatte sie angekündigt, tatsächlich die Marine
einzusetzen. Doch bisher zumindest unterscheidet sich ihre
Regierungsführung nicht allzu sehr von jener der Vorgänger. Und das hat
zweifellos mit der Einhegung durch die EU zu tun.
Die EU ist nicht gut, so wie sie ist. Sie ist ein unperfektes System, ohne
Garantien. Doch gäbe es oberhalb der Staaten nichts mehr, dann wäre der Weg
zur Gewalt oft noch viel kürzer. Deshalb ist es so wichtig, ihre
Verfasstheit gegen die drohende weitere Aushöhlung durch Rechtsextreme zu
verteidigen.
22 Apr 2024
## LINKS
[1] /Gewalt-an-EU-Aussengrenzen/!5986744
[2] /Die-Rolle-von-Frontex-im-Grenzregime/!5900343
[3] /Ein-Jahr-nach-Schiffsunglueck-in-Italien/!5991702
[4] /Ein-Jahr-Krieg-in-Sudan/!6001611
[5] /Kriminalisierung-von-Flucht/!6002122
[6] /Europaeische-Asylrechtsreform-Geas/!6003865
[7] /Politologin-Pet-ueber-Ungarns-Regierung/!5991988
[8] /Justiz-in-Polen/!5986663
[9] /Griechenland-und-die-Fluechtlinge/!5665945
[10] /Fluechtlinge-an-der-Grenze-von-Melilla-getoetet/!5860878
[11] /Reform-des-EU-Asylsystems/!6000276
[12] /Kein-Antifaschismus-in-der-RAI/!6003213
## AUTOREN
Christian Jakob
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