# taz.de -- Politologin Pető über Ungarns Regierung: „Orbáns System ist ka… | |
> Die Proteste gegen Ungarns Regierung seien durchaus ernstzunehmen, sagt | |
> Andrea Pető. Viele verstünden, dass dessen Mechanismen nur Fassade seien. | |
Bild: Proteste am vergangenen Mittwoch in Budapest nach dem Amnestieskandal | |
taz: Frau Petö, der Amnestieskandal um die Begnadigung eines | |
Pädophilie-Mittäters 2021 hatte den Rücktritt der ungarischen | |
[1][Präsidentin Katalin Novák] sowie der Justizministerin Judit Varga zur | |
Folge. Dennoch gehen immer wieder Zehntausende Menschen in Budapest auf die | |
Straße – das letzte Mal am vergangenen Sonntag. Können diese Proteste | |
Regierungschef Viktor Orbán gefährlich werden? | |
Andrea Pető: In seiner Rede zur Lage der Nation vor einer Woche hat Orbán | |
von einem bedauerlichen Fehler gesprochen. Die betroffenen Frauen hätten | |
Verantwortung übernommen. Orbán will damit einen Schlussstrich ziehen. | |
Wird ihm das auch gelingen? | |
Orbán ist nur an seiner eigenen Wählerbasis interessiert. Momentan ist | |
diese groß genug, um alle künftigen Wahlen locker zu gewinnen. Die | |
Regierung musste aber erkennen, dass der Skandal auch in ihrer Wählerschaft | |
zum Thema wurde. Das liegt vor allem daran, dass Orbán jahrelang so viel | |
über den sogenannten Kinderschutz gesprochen hat. | |
Etwa in Form eines Verkaufsverbots an Minderjährige von all jenen Werken, | |
in denen gleichgeschlechtliche Liebe thematisiert wird. Solche | |
Darstellungen seien „pädophil“, lautete die Regierungspropaganda. | |
Auch Sexualerziehung in Schulen wurde verboten und tabuisiert. Diese Art | |
des „Kinderschutzes“ kam tatsächlich bei seiner Wählerschaft gut an. Es | |
sieht aus wie eine Familienpolitik, aber es ist keine. Werte sind der | |
Regierung egal, ihr geht es nur um ihren Machterhalt. Aber der Zuspruch für | |
vermeintlich konservative Politik reicht länger zurück. | |
Nach der Öffnung und Liberalisierung ab 1989 waren viele enttäuscht. Frauen | |
wurden ausgenutzt, das Sozialsystem brach zusammen und das Lohngefälle | |
wurde größer. Dann kam das konservative Angebot von Fidesz: Frauen sollten | |
sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und sich zu Hause um die Kinder | |
kümmern. Angeboten wurden ihnen dafür soziales Prestige und finanzielle | |
Beihilfen. Im Vergleich zu einem ausbeuterischen Teilzeitjob war das oft | |
die bessere Alternative. Jetzt merken viele: Der Staat schützt seine Bürger | |
nicht. Die Vereinbarung ist gebrochen. | |
Vor einer Woche haben wohl über 100.000 Menschen in Budapest protestiert. | |
Es waren die größten Proteste gegen die Regierung seit Langem. | |
Dass [2][der Amnestie-Fall solche Wellen schlägt], zeigt, wie wichtig die | |
verbliebenen unabhängigen Medien weiterhin sind. Für die bisher größte | |
Demonstration, die Sie ansprechen, hatten jedoch Youtuber und Influencer | |
mobilisiert. Die klassische Zivilgesellschaft hingegen ist leer und fragil, | |
es gibt kaum unabhängige, kritische Organisationen. Und ihre Arbeit wird | |
ihnen zunehmend schwergemacht, etwa von dem neuen Gesetz gegen | |
„ausländische Agenten“ nach russischem Vorbild. Damit können jene überwa… | |
werden, die die Regierung nicht unterstützen. Vor allem aber geht es um | |
Einschüchterung. | |
Ist nun dennoch etwas ins Rutschen gekommen? | |
Bemerkenswert ist, dass der [3][Ex-Mann der zurückgetretenen | |
Justizministerin, Péter Magyar], nun so offen bestätigt hat, dass es | |
strukturelle Korruption gibt. Und dass die verschiedenen institutionellen | |
Mechanismen nur eine Fassade sind, weil tatsächlich Orbán alles dirigiert. | |
Der Fidesz-Deal lautete ja jahrelang: „Kümmert euch nicht um Politik, wir | |
machen das für euch. Wir werden ein funktionierendes, reiches Land | |
aufbauen.“ Nun stellt sich immer mehr heraus, dass die Regierung nicht | |
geliefert hat. Das Land verarmt und funktioniert nicht mehr, von den | |
Schulen bis hin zum Gesundheitssystem. | |
Manche Beobachter sprechen jetzt von einem frischen Wind für die | |
Opposition. Im kommenden Juni finden nicht nur die Wahlen zum Europäischen | |
Parlament, sondern auch ungarische Kommunalwahlen statt. | |
Fraglich ist, ob die lokalen Akteure durch die Verschwendung europäischer | |
Mittel und Korruption noch widerstandsfähig sind. Leider sind die Menschen | |
auf der Ebene der Gemeinden sehr, sehr müde. Und sie sehen, was mit denen | |
passiert ist, die sich diesem Regime widersetzten – wie sie finanziell und | |
moralisch hingerichtet wurden. Ich hoffe, dass aus Teilen der Fidesz, die | |
gegen ein solches korruptes Regime ist, eine alternative Liste für das | |
Europäische Parlament hervorgeht. Aber ich bin nicht sicher, ob die | |
Politiker, die sich in diesem System jahrelang sehr wohl gefühlt haben, | |
diese Initiative ergreifen würden. | |
Wird [4][Orbán] Kompromisse machen müssen? | |
Ja, aber kleine Kompromisse werden nicht mehr reichen. Das System ist | |
kaputt und immer mehr Menschen merken es. | |
27 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Florian Bayer | |
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