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# taz.de -- Anti-Regierungsproteste in Ungarn: Aufbruchstimmung in Budapest
> Erstmals kommen Vorwürfe gegen das System Orbán direkt aus dessen
> Machtzirkel. Hoffnungsträger Péter Magyar will mit der Korruption
> aufräumen.
Bild: Peter Magyar bei einer Protestveranstaltung gegen die Regierung am 26.03.…
Wien taz | Turbulente Zeiten in Ungarn: Aus dem Justizskandal rund um eine
umstrittene Amnestie in einem Pädophiliefall ist eine ausgewachsene
Regierungskrise geworden. Zuletzt wurden ständig neue Missstände bekannt,
seit Wochen gehen Tausende auf die Straßen. Zum ersten Mal seit langem ist
in Ungarn, wo Viktor Orbán seit 2010 durch regiert, wieder so etwas wie
Aufbruchstimmung zu spüren.
Der Grund ist vor allem ein Mann: Péter Magyar. Der frühere Anwalt hat
selbst jahrelang für Orbáns Fidesz-Partei gearbeitet und gilt als absoluter
Insider. Nun hat er mit seiner früheren Partei öffentlich gebrochen und
will seine eigene Liste gründen. Der Zeitpunkt ist brisant: In drei Monaten
findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt, in Ungarn werden auch
noch zeitgleich Kommunalwahlen abgehalten.
Experten schreiben Magyar großes Potenzial zu. „Ein Insider, der aus dem
Schatten springt und als neuer Oppositionsführer auftritt – das ist absolut
präzedenzlos in den letzten Jahren“, sagt Róbert László, Politikexperte
beim Thinktank „Political Capital“. Magyar sage nicht viel Neues, aber er
sei glaubwürdiger als die bestehende Opposition, die viele Menschen
enttäuscht habe.
Wer ist der Mann? Magyar, 1981 in Budapest geboren, studierte Jura und
arbeitete zunächst als Rechtsanwalt. Ab 2010 lebte er mit seiner Frau Judit
Varga, später Justizministerin unter Orbán, in Brüssel. Magyar arbeitete
als Mitarbeiter des ungarischen Außenministeriums, später als Diplomat bei
der Ständigen Vertretung Ungarns bei der EU. Ab 2015 war er direkt in
Orbáns Ministerbüro als eine Art Chefdiplomat tätig, bevor er ab 2018 die
Ungarische Entwicklungsbank leitete.
## Brisante Informationen
Zudem war er bis vor einem Jahr mit Varga, von 2019 bis 2023
Fidesz-Justizministerin, verheiratet. Auch von ihr erhielt Magyar brisante
politische Insiderinfos: Auf einem nun von ihm veröffentlichten Mitschnitt
spricht seine Ex-Frau davon, wie die Regierung bei Entscheidungen der
Justiz intervenierte. Varga erklärt, wie Orbáns Kabinettsminister bei der
Staatsanwaltschaft unliebsame Ergebnisse aus einer Ermittlungsakte
streichen ließ. Korruption ist in Orbáns Ungarn alles andere als neu, aber
selten war sie so greifbar.
Dazu kommt der Unmut über den im Februar bekannt gewordenen Amnestiefall:
Die ungarische Präsidentin Katalin Novák hatte 2023 den Mitwisser eines
schweren Kindesmissbrauchsfalls in einem Waisenhaus nahe Budapest
begnadigt. Laut Gerichtsurteil hatte der Vizedirektor des Hauses jahrelang
die pädophilen Straftaten seines Chefs gedeckt und Missbrauchsopfer zu
Falschaussagen genötigt. Die Amnestie erfolgte in unmittelbarer zeitlicher
Nähe zu einem Besuch des Papsts in eben jenem Waisenhaus.
Der Fall war besonders pikant, da sich die regierende Fidesz-Partei seit
Jahren den Kinderschutz auf die Fahnen schreibt. So hatte sie 2021
homosexuelle Inhalte für Medien, die Minderjährigen zugänglich sind, unter
Strafe gestellt. [1][Die weitgehend Orbán-loyale Novák entschuldigte sich
infolge mehrerer Großproteste für die Amnestie und trat vom Präsidentenamt
zurück] – genauso wie Varga, die als Justizministerium die Begnadigung
gegengezeichnet hatte.
Die Regierung sei „korrupt wie die Mafia“, sagt Magyar seitdem immer
wieder. Es sei unmöglich, das System von innen zu kritisieren, sagte er in
einem Interview mit 24.hu. „Entweder Sie bekommen keine Antwort, oder
werden ausgelacht, oder Ihr Umfeld betrachtet Sie als Verräter.“
## Eigene Partei
Längst sei Machterhalt das Hauptziel Orbáns, das er mit staatlichen
Finanzmitteln, Propaganda und „ständiger Panikmache und Feindbildern“
erreichen wolle, sagte Magyar. Bereits im Februar sah er den „Bedarf einer
neuen Kraft, die frei von aufgezwungenen Ideologien ist.“ Nun macht er
offenbar ernst, jüngste kündigte er an, eine eigene Partei zu gründen und
bei der EU-Wahl anzutreten. Er wolle sich „in der Mitte“ positionieren und
nannte Reformen des überlasteten Schul- sowie des Gesundheitssystems als
wichtige Ziele.
Sein Hauptthema dürfte aber die Bekämpfung von Korruption bleiben. Unter
Orbán stürzte Ungarn im Korruptions-Index von Transparency International
von 55 (2012) auf 42 (2023) Punkte ab. „Die Missstände in Ungarn sind
vielfach bekannt. Dass die Vorwürfe nun aber von innerhalb des Regimes
stammen, das ist neu“, sagt József Péter Martin, Direktor von Transparency
International Ungarn. Das ungarische Rechtssystem sei zwar fest in den
Händen der Regierung. Magyar könnte aber die politische Landschaft
verändern und die Augen mancher Fidesz-Wähler öffnen, sagt Martin. Auch
könnte sich die jahrelange Apathie der ungarischen Bevölkerung in eine
aktivere Haltung wandeln.
Magyar verstehe die sozialen Medien geschickt zu bespielen und dadurch im
Spiel zu bleiben, sagt Politikexperte László. Dadurch werde er kein Problem
haben, rechtzeitig die nötigen 20.000 Unterschriften für eine Kandidatur
bei der EU-Wahl zu sammeln. Größeres Mobilisierungspotential sieht auch
[2][Andrea Pető, Politologin an der CEU Wien.] „So lange Magyar allein auf
der Bühne steht, ist er anfällig für Angriffe auf seine Integrität.
Entscheidend wird sein, wer sich ihm von der Fidesz anschließt.“
Es bleibt spannend, zumal Magyar wohl noch die eine oder andere politische
Bombe im Köcher hat. Für 6. April hat er wieder zu einem Großprotest in
Budapest aufgerufen.
Anm.d.Red.: Das Zitat von József Péter Martin wurde aus Übersetzungsgründen
nachträglich geringfügig geändert. 29.03.2024
29 Mar 2024
## LINKS
[1] /Wegen-Amnestie-in-Paedophilie-Skandal/!5991479
[2] /Politologin-Pet-ueber-Ungarns-Regierung/!5991988
## AUTOREN
Florian Bayer
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