# taz.de -- Chatten mit Kindern in Krisen: „Sie können lautlos um Hilfe rufe… | |
> Beim Krisenchat finden Kinder und Jugendliche erste Hilfe in einem | |
> zeitgemäßen Medium. Der Bedarf sei riesig, sagt Mitgründerin Melanie | |
> Eckert. | |
Bild: Die Kinder von heute telefonieren nicht, sie chatten | |
BERLIN taz | Die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Gesundheit von | |
Kindern und Jugendlichen waren gravierend, hat eine interministeriellen | |
Arbeitsgruppe im Bundestag kürzlich festgestellt. Zu den Folgen zählen vor | |
allem psychische Beschwerden wie Depressionen, Angst- und Essstörungen. | |
Aber auch vor Corona hat es schon einen Notstand gegeben – und einen Mangel | |
an Unterstützung. Um dem entgegenzuwirken, hat die Berliner Psychologin | |
Melanie Eckert mit fünf anderen Gründer:innen das Beratungsangebot | |
„Krisenchat“ ins Leben gerufen. Sieben Tage und rund um die Uhr bietet das | |
gemeinnützige Berliner Unternehmen Kindern, Jugendlichen und jungen | |
Erwachsenen unter 25 Jahren Krisenberatung per Chat. Seit der Gründung vor | |
zwei Jahren wurden über 90.000 Beratungen geführt. taz: Frau Eckert, was | |
tippt ein junger Mensch in Not, wenn er Sie anchattet – „Hey, ich brauche | |
Hilfe“? | |
Melanie Eckert: Manche schreiben so was, andere sind total verunsichert und | |
fragen erst, ob sie bei uns richtig sind. Für uns heißt es dann erst einmal | |
Hürden abbauen. Wir sagen den Kindern und den Jugendlichen, wie toll es | |
ist, dass sie sich melden, und dass sie mit jedem Problem willkommen sind. | |
Mit welchen Personenkreisen und Krisen haben Sie genau zu tun? | |
Die jüngsten Kinder sind um die zehn Jahre alt – sie melden sich meist | |
wegen Familienkonflikten. Aber auch häusliche Gewalt, Mobbing und Ängste | |
sind Thema. Bei Älteren geht es mehr um Stimmungen, depressive Symptome und | |
Ängste. Bei Mädchen in der Pubertät ist selbstverletzendes Verhalten ein | |
großes Thema, Ritzen etwa und Essstörungen. Suizidale Gedanken kommen auch | |
sehr häufig vor. In allen Fällen spielen Beziehungsprobleme mit, also dass | |
keiner da ist, dem sie sich anvertrauen können, oder sie Angst vor den | |
Reaktionen der Eltern haben. Vernachlässigung ist auch ein Problem. Wobei | |
es häufig keinen so großen Unterschied macht, ob die Eltern physisch da | |
sind oder nicht. Wenn sich das Kind nicht öffnen kann, ist es einsam. | |
Wie kann man über einen Chat helfen? Sie kommunizieren ja nur mit | |
Kurztexten und Emojis. | |
Erst einmal geht es darum, Anteilnahme zu zeigen. Das geht sehr gut über | |
einen Chat. Im nächsten Schritt versuchen wir Ressourcen zu stärken, indem | |
wir mit dem Kind beziehungsweise Jugendlichen überlegen, was und wer ihm | |
helfen könnte. Oft verweisen wir auch auf Schulsozialarbeiter:innen, | |
Schulpsycholog:innen und Beratungsstellen. Wir sind nur eine erste | |
Anlaufstelle, die langfristige Beratung oder Therapie müssen andere | |
übernehmen. | |
Sind die nicht alle eh schon total überlaufen? | |
Ja, das ist ein großes Problem. Das ändert aber nichts daran, dass wir | |
Kindern und Jugendlichen in Krisen Unterstützung bieten müssen. Die | |
klassischen Angebote sind für viele jedoch nur schwer zu erreichen. Es | |
kostet oft zu große Überwindung, um eine Beratungsstelle aufzusuchen. Hier | |
braucht es ein niedrigschwelliges Angebot. | |
Aber es gibt doch Krisenberatung für Kinder und Jugendliche per Telefon. | |
Kinder und Jugendliche telefonieren heute aber sehr selten, sie chatten. | |
Der Vorteil am Chatten ist auch, dass es keine Geräusche macht – sie können | |
lautlos um Hilfe rufen. Auch sind wir mit unserem Angebot da, wo sich junge | |
Menschen heute am meisten aufhalten: im Internet. Der Kontakt erfolgt über | |
einen Button auf unserer Webseite. Man erfährt von uns in sozialen Medien | |
wie Tiktok und Instagram. Jungen machen wir über Gaming-Plattformen auf uns | |
aufmerksam. | |
Sie sprechen Jungen gesondert an? | |
Ja, die Jungenarbeit ist ein großer Fokus. Der Weg in die Hilfe ist für | |
Jungen viel schwieriger, für die ist mentale Gesundheit oft ein Tabuthema. | |
Dabei ist die Suizidrate bei jungen Männern um ein Vielfaches höher als bei | |
jungen Frauen. | |
Kommt es vor, dass Sie bei einem Selbstmordversuch dabei sind? | |
Dadurch, dass man uns per Handy überallhin mitnehmen kann, passiert es gar | |
nicht so selten, dass uns ein Kind schreibt, dass es kurz davor ist, sich | |
etwas anzutun. Für diese Situationen haben wir mit Experten einen konkreten | |
Leitfaden zur Krisenintervention entwickelt. Wenn die Kommunikation | |
abbricht, schätzen wir die Situation im Zweier- oder Dreierteam kurz ein | |
und rufen wenn nötig die Polizei. Mit der arbeiten wir sehr eng zusammen. | |
Oft macht sich akute Gefahr nur indirekt bemerkbar. Ist es nicht unheimlich | |
schwer, einen solchen Subtext aus einem Chat herauszulesen? Gibt es den | |
überhaupt? | |
Doch, natürlich schwingt der in den Texten und Emojis mit. Vor allem die | |
ersten Nachrichten verraten unheimlich viel über die Person und Situation. | |
Wir registrieren auch, wann die Person wie lange pausiert und wie oft sie | |
sich meldet. Aus diesen Analysen können wir sehr viel schließen. | |
Sieht man von akuter Gefahr ab, fehlt den Berater:innen jedoch die | |
Handhabe. Nach dem Chat haben sie keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. | |
Ja, wir sind darauf angewiesen, dass die Person sich von selbst wieder | |
meldet oder sich woanders Hilfe sucht. Natürlich arbeiten wir in der | |
Beratung darauf hin. Ob sie das tatsächlich tut, wissen wir jedoch nicht. | |
Wie hält man das aus? | |
Das ist für unsere Berater:innen tatsächlich eine große | |
Herausforderung, obwohl es sich hier ausschließlich um Fachpersonal | |
handelt, das von uns geschult wird und Supervision bekommt. Wir wissen aber | |
auch: gäbe es diese Form der anonymen Kontaktaufnahme nicht, würden sich | |
ganz viele nicht an uns wenden. | |
Obwohl Sie stetig gewachsen sind, können 30 bis 40 Prozent der Anfragen – | |
zurzeit sind es etwa 220 pro Tag – nicht sofort beantwortet werden. Wie | |
groß muss Krisenchat noch werden? | |
Wahrscheinlich zehnmal so groß. Ob das gelingt, ist vor allem eine | |
finanzielle Frage, wir finanzieren uns ja allein über Spenden. | |
Die Politik könnte hier auch etwas tun. Schließlich kümmern Sie sich hier | |
um eine Angelegenheit, die eigentlich in öffentlicher Verantwortung liegt. | |
Das stimmt. Die politische Unterstützung hält sich noch stark in Grenzen. | |
Für öffentliche Finanzierungen gibt es viel zu große bürokratische Hürden, | |
die dringend abgebaut werden müssen. Vor allem aber müssen die Kinderrechte | |
ins Grundgesetz. Denn dann ist die Versorgung von Kindern und Jugendlichen | |
keine Option mehr, sondern gesetzliche Pflicht. | |
23 Mar 2023 | |
## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
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