# taz.de -- Suizidprävention in Sachsen: Hilfe in der Krise | |
> Sachsen hat die höchste Suizidrate unter den Bundesländern. Die | |
> Notfallseelsorge ist oft überlastet, doch Besserung ist in Sicht. | |
Bild: In einer Krisensituation muss doch die Hilfe ins Spiel kommen | |
„Tipp tipp tot“ steht auf einem weißen Plakat neben einem Handy mit | |
zerbrochenem Display. „Runter vom Gas“ heißt die Kampagne, die | |
Verkehrsunfällen vorbeugen soll. Es gibt viele ähnliche | |
Präventionskampagnen, etwa „Gib Aids keine Chance“ oder „Keine Macht den | |
Drogen“. Doch [1][für Suizide gibt es so etwas kaum]. Und das, obwohl das | |
[2][Statistische Bundesamt] für 2022, das letzte Jahr, für das Zahlen | |
vorliegen, über 10.000 Suizide und 100.000 Suizidversuche registrierte. | |
Das bedeutet, dass 2022 in Deutschland mehr Menschen durch Suizid gestorben | |
sind als durch Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Aids zusammen. Die | |
höchste Suizidrate unter den Bundesländern hat dabei Sachsen. | |
Daniela Jander-Vanselow arbeitet ehrenamtlich als Notfallseelsorgerin in | |
Großenhain, einem kleinen Städtchen nahe Dresden. „Großenhain ist ein | |
bisschen eingeschlafener. Man denkt vielleicht, Suizide kommen hier nicht | |
so oft vor. Aber das stimmt nicht, das zeigen unsere Zahlen“, sagt | |
Jander-Vanselow. Im vergangenen Jahr seien 30 Suizide unter den insgesamt | |
160 Einsätzen der Notfallseelsorge gewesen. | |
Im Hauptberuf leitet Jander-Vanselow in Großenhain die sozialpsychiatrische | |
Wohnstätte. Hier empfängt die Sozialpädagogin die wochentaz. Während wir | |
warten, bildet sich eine Schlange vor ihrem Büro. Jander-Vanselow, dunkle | |
lila Haare, Nasenpiercing, ist eine viel gefragte Frau. | |
Die Ehrenamtlichen der Notfallseelsorge in Großenhain sind immer dann | |
dabei, wenn die Polizei Todesnachrichten übermittelt, im Krankenhaus eine | |
Reanimation nicht glückt – und wenn ein Mensch durch Suizid stirbt. Sie | |
werden von den Einsatzkräften angerufen und kümmern sich um die | |
Hinterbliebenen. | |
Drei dicke Ordner liegen auf Jander-Vanselows Schreibtisch. Darin sind | |
Klarsichtfolien mit Flyern zu den verschiedenen Hilfsangeboten. „Wir müssen | |
das auch alles selbst zusammentragen“, sagt sie. Bei vielen wisse sie gar | |
nicht, ob die Angebote noch aktuell seien. Bei einem Projekt der Leipziger | |
Uniklinik sei sie sich eigentlich sicher, dass es das nicht mehr gebe. | |
Es gibt keine zentrale Stelle im Land, die einen Überblick behält. „Wir | |
haben das nicht gleich um die Ecke“, sagt Jander-Vanselow. Sie empfehle | |
daher bei der Notfallseelsorge Angebote aus umliegenden Städten wie | |
Dresden. Dreißig Minuten mit dem Auto zum nächsten Hilfsangebot zu fahren, | |
sei für Ratsuchende aber eine Hürde. Wenn sie eine Chance sähen, in ihrer | |
Nähe Hilfe zu bekommen, dann würden sie die vielleicht auch annehmen, | |
glaubt Jander-Vanselow. „Aber sie wissen nicht, wohin.“ | |
„Gerade in ländlichen Gebieten finden wir Regionen, in denen es keine | |
flächendeckende Versorgung gibt“, sagt Hannah Müller-Pein vom | |
[3][Nationalen Suizidpräventionsprogramm] mit Sitz in Kassel. Auf dem Land | |
entstünden so „blinde Flecken“. Zudem seien viele Angebote zur | |
Suizidprävention nur projektfinanziert. Das bedeutet, dass sie nur für ein | |
paar Jahre unterstützt werden. Ohne neue Finanzierung gehen die in dieser | |
Zeit aufgebauten Strukturen wieder verloren. | |
„Aus präventiver Sicht ist es natürlich problematisch, wenn für drei oder | |
vier Jahre irgendwo ein Krisendienst eingerichtet wird und Menschen sich | |
dort nur für diese kurze Zeit Hilfe holen können“, sagt Müller-Pein. | |
Deshalb sei es so wichtig, dass die Suizidprävention in Deutschland | |
dauerhaft politisch verankert und gefördert werde. | |
Inzwischen ist der Handlungsbedarf erkannt worden: Im Juli 2023 | |
verabschiedete der Bundestag einen Entschließungsantrag zu dem Thema, | |
vergangene Woche [4][stellte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die | |
neue Strategie zur Suizidprävention vor], wonach eine zentrale | |
Krisendienst-Notrufnummer eingerichtet werden soll, [5][Lauterbach schlägt | |
die 113 vor]. Des Weiteren soll eine bundesweite Koordinationsstelle | |
geschaffen und die Angebote sollen allgemein gestärkt werden. | |
Die entscheidende Frage bleibt allerdings, wie diese Vorschläge umgesetzt | |
werden. „Scheiß drauf, die Kinder und Jugendlichen bringen sich um, aber | |
hey, wir können bald kiffen!“, bricht es aus Aylin Müller (Name geändert) | |
aus. Die 23-Jährige fängt an zu lachen und fasst sich ungläubig an die | |
Stirn. Wir treffen sie an dem Tag, an dem die Cannabis-Legalisierung im | |
Bundestag beschlossen wird. | |
Aylin Müller arbeitet ehrenamtlich bei dem [6][Projekt U25], sie steht mit | |
unter 25-Jährigen in Kontakt, die mit ihren Problemen nicht weiterwissen. | |
Will eine Person eine Beratung beginnen, erstellt sie auf der Webseite | |
einen Account und schildert ihr Anliegen. Eine gleichaltrige Person, ein | |
Peer, meldet sich dann per Mail zurück. Die Peers sind ehrenamtlich tätig | |
und speziell geschult. So können Betroffene erreicht werden, die sonst | |
keine Beratungsstelle vor der Tür haben. | |
Bei der Beratung kommen belastende Themen wie häusliche Gewalt, Mobbing und | |
Suizidgedanken zur Sprache. Aylin Müller spricht zurückhaltend über das, | |
was sie als Ehrenamtliche erlebt. Auch sie wurde schon mit einer | |
Suizidankündigung konfrontiert: Zuerst sei sie panisch gewesen, habe aber | |
dann den Zettel aus ihrer Ausbildung herausgeholt und nachgesehen, was in | |
so einer Situation zu beachten ist. | |
## Mit der Ungewissheit leben | |
Sie schrieb zurück, doch von der Ratsuchenden kam keine Antwort mehr: „Ob | |
sie das Passwort vergessen hat, nie wieder ins System geschaut hat oder ob | |
sie es wirklich durchgezogen hat, weiß ich nicht. Mit dieser Ungewissheit | |
muss ich leben.“ Wie viel Zeit die Peers für die Beratung aufwenden, können | |
sie selbst entscheiden. | |
„Man muss schauen, dass man sich feste Zeiträume setzt. Ansonsten nimmt es | |
zu viel vom Leben ein“, sagt Müller. Denn die Nachfrage ist hoch: 1.330 | |
Ratsuchende wurden 2021 beraten. Für mehr reichen die personellen und | |
finanziellen Ressourcen nicht. Die Finanzierung des Dresdner U25-Standorts | |
sei nur bis Ende des Jahres gesichert, heißt es aus dem Projekt. Wie es | |
danach weitergeht, sei noch offen. | |
Doch Online-Angebote allein reichten nicht aus, sagt Heide Glaesmer, | |
Psychologieprofessorin am Leipziger Uniklinikum. Glaesmer [7][forscht unter | |
anderem zu Suizid und Suizidprävention]: „Wenn Sie an die Tabakprävention | |
denken, da gibt es Steuern, Rauchverbote und Werbeverbote. Da werden | |
einfach viele Dinge kombiniert.“ Online-Tools seien bei der | |
Suizidprävention „mit Sicherheit nur ein Baustein“. | |
In der Forschung betrachte man Suizidalität als eine Entwicklung, erklärt | |
Glaesmer. Präventionsmaßnahmen müssten daher an jeder Stufe dieser | |
Entwicklung andocken. „Es ist auf jeden Fall wichtig, dass man sehr leicht | |
und niedrigschwellig Informationen zu Hilfsangeboten bekommt.“ | |
So sieht das auch Daniela Jander-Vanselow. Die Notfallseelsorgerin hat auch | |
eine Idee, wie ein solches niedrigschwelliges Angebot aussehen könnte. | |
Jander-Vanselow stellt sich eine Plakataktion vor: „Du befindest dich in | |
einer Krise? Dann melde dich bei uns“, könnte darauf stehen. „Wenn man ein | |
Plakat mit einer Nummer immer wieder in der Öffentlichkeit sieht, dann weiß | |
man, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist und dass da jemand | |
ist, der zuhört. Das kann wirklich hilfreich sein.“ | |
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche | |
und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste | |
psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter | |
112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter | |
[8][taz.de/suizidgedanken]. | |
17 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Zu-wenig-Hilfsangebote/!5968789 | |
[2] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursac… | |
[3] https://www.suizidpraevention.de/ | |
[4] /Telefonseelsorge-ueberlastet/!6004539 | |
[5] https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1786034916133597350 | |
[6] https://www.u25-deutschland.de/ | |
[7] https://www.uniklinikum-leipzig.de/einrichtungen/medizinische-psychologie/S… | |
[8] /Hilfsangebote-bei-suizidalen-Gedanken/!6009869 | |
## AUTOREN | |
Clara Dünkler | |
Mona Rouhandeh | |
Melissa Nüßle | |
Lea Schön | |
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