# taz.de -- Rückblick auf den ersten Lockdown: Als die Welt erlahmte | |
> Vor drei Jahren trat der erste Lockdown in Deutschland in Kraft. Es gab | |
> Angst vor dem Virus, Gier auf Klopapier – und Hoffnung auf eine bessere | |
> Welt. | |
Bild: Immerhin allein im Park liegen: Nicht alles war im ersten Lockdown im Nor… | |
Vor genau drei Jahren, an einem Sonntag, trat der von der Bundesregierung | |
verhängte [1][erste Corona-Lockdown] in Kraft – und ich erinnere so gut wie | |
nichts. Nur, dass ich wenige Tage zuvor meinen ersten Hamsterkauf erledigt | |
hatte und damit schneller war als meine Freund:innen, aber weiß Gott nicht | |
die Erste. Ich erstand die letzten zehn Kartons H-Milch im Rewe, weil sich | |
die Kinder zu der Zeit ausschließlich von Müsli ernährten. Später kippte | |
ich sie unbenutzt in den Ausguss. | |
Im Rossmann gab es kein Desinfektionsmittel mehr, aber die Verkäuferin zog | |
eine Dose Sagrotan unter ihrem Kassiertisch hervor. Sie hatte sie einer | |
Kundin abgenommen, die mehr kaufen wollte, als ihr nach Ansicht der | |
Kassiererin zustand. Das Zeug ist ebenfalls unbenutzt abgelaufen, weil sich | |
herausgestellt hatte, dass sich das Virus nicht über das neu gelernte Wort | |
„Kontaktflächen“ überträgt. | |
Aber war die Erkenntnis, das es sich über die Luft („Aerosole“) | |
verbreitete, schon durchgesickert? Hatte Drosten sich dazu geäußert? War | |
dessen Podcast bereits auf Sendung? Wann gab es die ersten FFP2-Masken zu | |
kaufen? War das die Zeit, in der wir die Kinder mit einer befreundeten | |
Familie nach eigenem Stundenplan unterrichteten, mit Vogelhäuschen zimmern | |
und Bogenschießen? Oder kam das später? In meiner Erinnerung verschwimmen | |
die Lockdowns, und ich befrage Freund:innen und Kolleg:innen, lese mein | |
Tagebuch, einen alten Kalender, durchforste Emails und das Internet. | |
## Die Lage war ernst | |
„Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren | |
nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen | |
Hausstands gestattet“, die Kontakte seien „auf ein absolut nötiges Minimum | |
zu reduzieren“. So steht es in einer Mitteilung der Bundesregierung vom 22. | |
März 2020. | |
Da steht auch, dass bereits eine Woche zuvor, „einschneidende Maßnahmen“ | |
verhängt worden waren. Mir dämmert, dass ich H-Milch und Desinfektionsspray | |
schon eine Woche früher gekauft haben muss, als Gerüchte aufkamen, Schulen | |
und Kindergärten würden zum 16. März geschlossen. „Wenn sie das machen, ist | |
es ernst“, hatte ein befreundeter Erzieher gesagt. Er sollte recht | |
behalten. | |
Dabei zeigte sich, dass die Bereitschaft, das eigene Verhalten an den Ernst | |
der Lage anzupassen, unterschiedlich ausgeprägt ist. In Italien war das | |
öffentliche Leben bereits seit dem 9. März völlig runter gefahren. Zwei | |
Tage später berichteten deutsche Medien über den Hilferuf eines Arztes aus | |
Bergamo. „Der Krieg ist losgebrochen und die Schlachten sind | |
erbarmungslos“, beschreibt er den Klinikalltag – Patient:innen bekämen | |
keine Luft, Ärzt:innen und Pfleger:innen wüssten nicht mehr, wohin mit | |
all den Kranken und würden seit zwei Wochen Tag und Nacht arbeiten. Er | |
wolle keine Panik schüren, bitte aber darum, die Gefahr nicht zu | |
verdrängen. [2][Meine Eltern gingen frühstücken.] | |
## Kontrollierende Ordnungskräfte | |
Eine ähnliche Haltung herrschte auch in dem Haus, in dem meine Kinder | |
normalerweise die Hälfte der Woche leben und im Lockdown fast die ganze | |
Zeit, weil ihr Vater nicht arbeiten musste. Wenige Stunden vor Verhängung | |
des Lockdowns feierten die Hausbewohner:innen ein Abschiedsfest. | |
Immerhin im Garten. H. schnäuzte sich über das Buffet gebeugt kräftig die | |
Nase, meine Kinder standen daneben, zwischen 30 Kindern und Erwachsenen. | |
Aus heutiger Sicht eine harmlose Szene, aber zu dem Zeitpunkt ging es | |
darum, Zustände wie in den Kliniken in Bergamo zu verhindern. „Flatten the | |
curve.“ | |
Ich war nicht die einzige, die fassungslos auf das Geschehen guckte. Ein | |
Nachbar-Paar stand am Zaun, unschlüssig, ob es die Polizei rufen soll. Aber | |
noch waren private Feiern nicht verboten, nur fast alles andere wie | |
Kultureinrichtungen, Discos und Sportstätten. Auch Spielplätze waren tabu. | |
Am jenem Abend verkündete die Bundesregierung, dass nun auch Gaststätten | |
und Frisöre schließen mussten und eigentlich nichts mehr erlaubt war außer | |
Spazierengehen. In Bayern nicht einmal das. Das Bundesland hatte am 20. | |
März eine Ausgangssperre verhängt, nach der auch der ziellose Aufenthalt im | |
Freien von Ordnungskräften beendet werden konnte. | |
Ich habe in dieser Zeit viel gearbeitet („Systemrelevanz“), von zu Hause | |
aus. Am 22. März steht in meinem Kalender, dass ich meinen Bürostuhl aus | |
der Redaktion holen will. Weil dem Betriebsrat der taz nord das neuartige | |
Videokonferenz-Tool „Zoom“ nicht geheuer war, trafen wir uns bis Februar | |
2021 jeden Morgen in einer Telefonkonferenz, was ich völlig vergessen | |
hatte. „Es war furchtbar“, schreibt mir ein Kollege, „man wusste nie, wer | |
gerade dran ist mit Sprechen“. | |
Wenn ich nicht gearbeitet habe, habe ich Yoga gemacht, mein Yoga-Lehrer bot | |
es online an. Ansonsten war ich wohl viel mit den Kindern draußen, es war | |
sehr sonnig und warm für die Jahreszeit. Nie zuvor waren am Werdersee | |
solche Massen unterwegs wie in diesem Frühling. | |
Beide Kinder durften nur mit je einem Kind spielen. Andere waren noch | |
vorsichtiger, so wie die Eltern des besten Kindergartenfreundes, die eine | |
krebskranke Oma zu schützen hatten. Einmal standen wir unter seinem Balkon, | |
damit die beiden wussten, dass es den anderen noch gab. Nachdem der Freund | |
gesagt hatte, er habe „sogar Sehnsucht nach Fremden“, durften sie sich | |
treffen. | |
## Aus der Krise lernen | |
Meine größte Angst in dieser Zeit war, dass die Kinder, deren Vater oder | |
ich an Corona erkranken, und wir uns nicht in den Arm nehmen können, es gab | |
ja noch keine FFP2-Masken, nur selbstgenähte. Meine war hellblau mit weißen | |
Tupfen und man konnte ein Stück Kaffeefilter-Papier in eine Tasche | |
schieben. Für bessere Schutzwirkung. | |
Und dann war da noch die Stille. An die erinnere ich mich gut. Ein blauer | |
Himmel ohne Kondensstreifen von Flugzeugen, selten fuhren Autos durch die | |
Seitenstraßen. Kein Rummel in der Innenstadt, kein Kaufenkaufenkaufen, | |
schnellerhöherweiter. „Einfach mal liegen bleiben“, fasst eine Freundin aus | |
Hamburg die Zeit zusammen. Wie ich war sie eine der Privilegierten, weil | |
wir in der Pandemie Urlaub nehmen konnten und, wenn wir arbeiteten, nicht | |
an der Infektionsfront standen wie andere. | |
Sie erzählt, wie ruhig die Alster lag. Keine Boote, keine Ruderer. Nur die | |
Stand-Up-Paddler seien noch auf dem Wasser gewesen. Aber nicht zackig wie | |
sonst, um in der Büropause möglichst viele Kalorien zu verbrennen. „Die | |
lagen auf ihren Brettern und haben sich treiben lassen. Das war so ein | |
leises Dahinschippern.“ | |
Und dann fällt mir ein, wie ich ein paar Wochen gedacht habe, [3][diese | |
Zeit würde uns verändern,] demütig werden lassen angesichts unserer | |
Verletzlichkeit, die uns bisher immer nur individuell bei Krankheit und | |
Tod, nicht aber als ganzer Gesellschaft vor Augen geführt wurde. Und ich | |
dachte, wir würden verstehen, worauf es ankommt: Auf andere Menschen, nicht | |
Konsumgüter. Dass wir nicht ohne Kultur, aber ohne Fernreisen leben können. | |
Dass wir eine Weltgemeinschaft sind und gemeinsam das Ruder herumreißen | |
würden. | |
Ich dachte wirklich, wir würden die Blaupause für einen ernsthaften Kampf | |
gegen den Klimawandel erleben. | |
22 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Erinnerungen-an-Corona/!5910767 | |
[2] https://www.newyorker.com/culture/culture-desk/convincing-boomer-parents-to… | |
[3] /Uebersterblichkeit-in-den-Corona-Jahren/!5920764 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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