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# taz.de -- Polarisierung in der Pandemie: Das Verbindende erkennen
> Wie ist Verständigung und Annäherung möglich? Ein Essay über
> Selbstgewissheit, Ambiguitätstoleranz und die Säbelzahnkatze hinterm
> Höhleneingang.
Bild: Mit oder ohne Maske? Auf der Nase oder darunter? Nicht die einzigen Frage…
Es war im November, als ich jeden Tag an zwei Frauen vorbeilief, die in der
Bremer Fußgängerzone auf ihren Koffern schliefen. Eines Nachmittags hockte
ein etwa 30-jähriger Mann vor den beiden. Was ich in dem Moment noch nicht
wusste: Er würde gleich [1][mein Weltbild durcheinanderbringen].
Die Jüngere, es waren Mutter und Tochter aus Polen, wie ich zuvor erfahren
hatte, begann ihn nach kurzer Zeit anzuschreien. Er eilte davon und blieb
in 50 Metern Entfernung stehen. Ich sprach ihn an.
Mit seiner hellen Daunenjacke, dem akkurat geschnittenem Bart und Haar sah
er zwar nicht so aus, aber womöglich, so dachte ich, käme er von der
Hilfsorganisation, die ich auf die Frauen aufmerksam gemacht hatte. Er
verneinte, er habe nur helfen wollen. Doch weil er Russisch sprach, habe
die Frau ihn wohl verjagt. Er sei Deutschrusse, fügte er hinzu, „so nennt
man uns“.
Und dann redeten wir. Über Putin, Trump, den Klimawandel, ob der deutsche
Staat Menschen wie den beiden Polinnen helfen sollte, ob man Berichten in
herkömmlichen Medien mehr Glauben schenken könne als denen in sozialen. Zu
allem hatten wir eine andere Meinung.
Wir stritten nicht, sondern hörten einander zu, nach dem Motto „Ach guck,
so kann man es auch betrachten“. Es fing an zu regnen, wir redeten weiter.
Die Weltpolitik ließen wir schnell hinter uns. Ich erzählte ihm von meiner
Verzweiflung angesichts der Nachrichtenlage (es waren die Tage nach der
US-Wahl und dem Ampel-Aus), er von seinen Ängsten, nicht gemocht zu werden.
Wir waren zwei Fremde, er gut 20 Jahre jünger als ich, ein Ingenieur, der
irgendetwas über das Internet vertrieb. Es ist unwahrscheinlich, dass sich
unsere Wege an anderer Stelle gekreuzt hätten. Am Ende umarmten wir uns und
tauschten Telefonnummern.
## In zwei Lager gespalten?
„Mensch, das ist doch das Thema, das uns seit Corona umtreibt!“, sagte eine
befreundete Kollegin, der ich von dieser Begegnung erzählte, von meinem
Staunen darüber, dass ich jemanden mag, der über Russlands Krieg sagt, man
müsse beide Seiten sehen, und findet, Donald Trump sage ganz vernünftige
Sachen. Was die Kollegin meinte: In der Pandemie sei offenbar geworden, wie
wenig Verständigung möglich ist, wenn jemand anders denkt.
Während die einen fassungslos zusahen, dass Menschen auf „Hygiene-Demos“
gingen, konnten die anderen kaum glauben, dass man sich freiwillig gegen
das Virus impfen ließ. Als gesellschaftliche „Polarisierung“ wird dieser
Prozess bezeichnet. Es ist wissenschaftlich umstritten, ob die deutsche
Gesellschaft wirklich in zwei Lager gespalten ist wie etwa die USA. Und ob
die Coronazeit ein Auseinanderdriften beschleunigt oder nur sichtbar
gemacht hat – zu dieser Frage wollen [2][Wissenschaftler:innen der
Universität Mainz] in den nächsten Wochen erste Ergebnisse vorlegen.
Jetzt, ein paar Jahre später, entzünden sich aggressiv geführte Debatten an
Waffenlieferungen für die Ukraine, am Krieg in Gaza, an Gendersternchen.
Die Liste ist lang. Selbst wenn es um die beste Behandlung von
Wechseljahresbeschwerden geht, scheint es stets nur eine Position zu geben,
der man sich anschließen kann.
Hormone, ja oder nein? Hopp oder topp? Fahrrad oder Auto? Opfer oder Täter?
Zwischentöne werden überhört, sie liefern keine Schlagzeilen, verbreiten
sich schlechter in sozialen Medien. Und nein, einseitige
Schwarzweißmalerei betreiben nicht immer nur „die anderen“, die Querdenker,
Trump- und AfD-Wähler, die Putinversteher, Hamasfreunde,
Sexistenrassistentransphobenkackarschnazis. Sondern alle, die glauben,
die Wahrheit gepachtet zu haben.
Mir wurde dies erst während der Pandemie bewusst, in meiner eigenen
Branche, dem Journalismus. Ich staunte oft über die Gewissheit, mit der
manche Kolleg:innen den Verantwortlichen sagten, was sie tun müssten.
Lockdown, Impf- oder Maskenpflicht – immer schien es einen glasklaren Weg
aus der Pandemie zu geben. Bei aller Skepsis gegenüber einfachen Lösungen:
Manchmal schrieb ich sie selbst herbei. So war ich mir lange sicher, dass
die Entscheidung der Bremer Landesregierung, Schulen und Kitas weitgehend
offenzuhalten, fahrlässig war.
## Wir sollten uns auf die Finger gucken dürfen
Mitgenommen habe ich aus dieser Zeit, dass wir Journalist:innen uns
gerne häufiger selbst auf die Finger gucken dürfen. Dennoch soll dieser
Text keine Einladung zu pauschaler Medienschelte sein. Die spielt denen in
die Hände, die unabhängige Medien abschaffen wollen.
So gab es in der Pandemie eine überwiegend gute, ausgewogene
Berichterstattung – [3][zu diesem Schluss kommt eine von der
Bundesregierung geförderte Studie]. Aber es gab eben auch die weniger
ausgewogene.
Da schrieben Kolleg:innen, unter anderem in der taz, in abwertendem
Tonfall über Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, gebrauchten
synonym den Begriff „Impfgegner“, „Coronaleugner“, „Querdenker“ und…
„Schwurbler“, größtenteils ohne zu differenzieren zwischen denen, denen
Coronamaßnahmen zu weit gingen, und denen, die die Pandemie nutzten, um
ihre antidemokratischen Ideen zu verbreiten.
Letzteres teils unter Anwendung von Gewalt wie im August 2020 beim „Sturm
auf den Reichstag“ in Berlin oder Fackelzügen vor Privathäusern von
Politiker:innen.
Die gereizte Stimmung, die sich in dieser Zeit erstmals so stark bemerkbar
gemacht hat und zum Dauerkrisenmodus dazuzugehören scheint, lässt sich auch
mit Angst erklären. Das ist [4][nach Ansicht der meisten
Emotionsforscher:innen] ein überlebenswichtiges Gefühl: Es schützt
vor Gefahren und entsteht, wenn wir nicht wissen, was kommt.
Ob die Säbelzahnkatze hinter dem Höhleneingang lauert, uns ein unbekanntes
Virus dahinrafft, eine Impfung mehr schadet als nutzt, unsere Art zu leben
und zu denken in Zukunft noch gefragt ist.
Das Problem: In einer zunehmend komplexen Welt fällt es Menschen mit ihren
Steinzeitgehirnen auf die Füße, dass sie übersichtliche Verhältnisse
brauchen, um sich sicher zu fühlen. Sobald wir sortieren, schaffen wir eine
neue Gefahrenquelle. [5][Die Fähigkeit, Ambiguität auszuhalten,] scheint
dabei unterschiedlich stark ausgeprägt. Populistische Parteien nutzen das
aus, indem sie Eindeutigkeit versprechen.
## Das Verbindende beschreiben
Auch Menschen, die anders sind als man selbst, könnten eine ängstigende
Verunsicherung auslösen, [6][sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner]
in einem Zeit-Interview. „Wenn jemand anders spricht, anders aussieht,
andere Musik lieber mag, schafft das Unsicherheit.“ Werde Angst nicht
adressiert, könne sie wachsen – „und in Hass münden“. Nicht alle hätte…
emotionale Reife, das zu verhindern, sagt Urner. Um dem entgegenzuwirken,
helfe es, Begegnungen zu schaffen. „Den kleinsten gemeinsamen Nenner
suchen.“
Dass geteilte Erfahrungen effektiv gegen Polarisierung helfen, haben
Wissenschaftler:innen [7][in Experimenten nachgewiesen]. Unter anderem
Maren Urner sieht hier auch Medien in der Verantwortung. Ende 2021 auf dem
Höhepunkt der „Coronamüdigkeit“ hatte sie in einem Gastbeitrag in der taz
Journalist:innen dazu aufgefordert, nicht immer nach gegensätzlichen
Positionen zu suchen und das Verbindende zu beschreiben.
Auch meine Begegnung mit dem jungen Mann wurde möglich aufgrund einer
geteilten Erfahrung: der Sorge um die obdachlosen Frauen. Vielleicht half
auch, dass wir vor allem über Persönliches sprachen – anstatt Angelesenes
zu referieren, wie vor ein paar Jahren all die Hobby-Virolog:innen oder
heute viele Aushilfs-Nahostexpert:innen.
Ein ungeheuerlicher Gedanke, den ich mich als politische Journalistin kaum
zu schreiben traue: Wie wäre es, nur noch über das zu reden, was mit
eigenen Erfahrungen verknüpft ist? Diese Frage stellte kürzlich der
Schriftsteller George Saunders [8][in einem im New Yorker erschienenen
Essay]. Und noch dazu, wer von dem permanenten Streit in immer denselben
Argumentationsbahnen profitiere, und: wer diese Bahnen bereitstelle.
Während des Gesprächs im November ertappte ich mich dabei, wie ich auf
einer dieser Bahnen unterwegs war, als ich Donald Trump aufgrund von
Artikeln, die ich über ihn gelesen hatte, als „durchgeknallt“ bezeichnete.
Mein Gegenüber wiederum hatte ein dreistündiges Interview mit ihm gehört
und fand, deutsche Medien würden seine Aussagen aus dem Zusammenhang
reißen.
## Ex-„Pick-up-Artist“
Es geht nicht darum, wer von uns beiden recht hat, es geht auch nicht
darum, Meinungsunterschiede zu negieren. Die Verständigung gelang, glaube
ich, weil wir uns nicht auf zwei Seiten eines Tennisfelds als Kontrahenten
gegenüberstanden. Sondern an der Seitenlinie und von dort aus das Netz
betrachteten.
Ich erlebte auch, wie schnell es kippen kann. Er habe sich wenig mit dem
Klimawandel beschäftigt, hatte mein Gesprächspartner gesagt, weil die
Auseinandersetzung mit seinen sozialen Ängsten einen großen Teil seines
Lebens einnehme. Erst am Wochenende sei er in eine europäische Hauptstadt
geflogen, um dort einem Influencer zuzuhören, mit dessen Hilfe er
selbstbewusster geworden sei.
Zu Hause googelte ich dessen Namen – und war entsetzt. Es handelte sich um
einen ehemaligen „Pick-up-Artist“, einen Mann, der anderen Männern gegen
Geld zeigt, wie sie Frauen ins Bett bekommen. Vor Jahren berichteten
weltweit Medien über eine erfolgreiche Kampagne gegen ihn. Der Vorwurf:
Aufruf zu Gewalt gegen Frauen. Ich war so schockiert, dass ich zunächst
nicht weiter recherchierte. Dann hätte ich erfahren, dass er sein damaliges
Handeln heute als Ausdruck eines Selbsthasses deutet, den er erfolgreich
bekämpft haben will. Seine Methode gibt er jetzt in solchen Workshops
weiter, wie ihn mein Gesprächspartner besucht hatte.
Aufgrund der wenigen Sätze, die als Erstes über meinen Laptopbildschirm
flimmerten, warf ich die Sortiermaschine an – und fürchtete mich. War er
einer von denen? Hatte ich mich täuschen lassen? Vergessen war in dem
Moment, dass ich den Kontakt als authentisch erlebt hatte, ohne doppelten
Boden.
Als ich der Kollegin am Telefon von meiner Sorge erzählte, dem Falschen
meine Telefonnummer gegeben zu haben, erinnerte sie mich daran, dass ich
das getan hatte, als ich schon wusste, wie unterschiedlich wir ticken.
Entscheidend sei nicht, sagte sie, was wir denken, wen wir wählen oder wem
wir auf Instagram folgen. Sondern, ob wir wissen wollen, warum der oder die
andere das macht.
25 Jan 2025
## LINKS
[1] /Gegen-die-Polarisierung/!5996923
[2] https://www.konsortswd.de/themen/krisen/corona/kopocov-konsens-polarisierun…
[3] https://rudolf-augstein-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/11/Studie-einse…
[4] /Psychologe-ueber-Emotionen/!5808452
[5] https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrde…
[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-04/maren-urner-emotionen-politik-disk…
[7] /Gegen-die-Polarisierung/!5996923
[8] https://www.newyorker.com/magazine/dispatches/five-thought-experiments-conc…
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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