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# taz.de -- Emanzipatorische Medienkritik: Selbstreflexion jetzt!
> Der deutsche Journalismus hat Probleme. Doch Kritik kommt vor allem von
> rechts. Das muss sich ändern. Denn weniger Meinungsvielfalt nutzt
> niemandem.
Bild: Was Vögel nicht können und Journalisten oft nicht wollen: Selbstreflexi…
„Die Medienkritik verhält sich zu den Medien wie die Ornithologie zu den
Vögeln: Die Vögel wollen davon nichts wissen.“ Das sagt der Soziologe
[1][Harald Welzer], der zusammen mit dem Philosophen [2][Richard David
Precht] 2022 einen Bestseller mit dem Titel „Die vierte Gewalt. Wie
Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ [3][veröffentlicht
hat]. Tatsächlich reagieren viele Medienvertreter dünnhäutig auf Kritik,
vor allem wenn sie grundlegender Art ist. Strukturelle Kritik, die über
einzelne Skandale hinausgeht, wird schnell in die Nähe rechter
Verschwörungsideologien gerückt, selbst wenn sie wie im Fall von Welzer von
linksliberaler Seite kommt.
Dabei gäbe es durchaus Anlass zu einer kritischen Selbstreflexion. Es sei
nicht von der Hand zu weisen, dass es eine Repräsentationslücke zwischen
öffentlicher und veröffentlichter Meinung gebe, so der
[4][Kommunikationsforscher Uwe Krüger] von der Universität Leipzig. Eine
Auswertung der Beiträge von deutschen Leitmedien zum Ukrainekrieg habe
gezeigt, dass Stimmen, die sich für die Lieferung schwerer Waffen und gegen
diplomatische Initiativen aussprachen, mit Abstand die größte Präsenz in
den führenden Medien hatten. Dagegen lehnte im selben Zeitraum laut
Umfragen [5][etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung solche
Waffenlieferungen ab], [6][mehr als die Hälfte wünschte sich mehr
Diplomatie].
Eine militaristische Schlagseite der deutschen Medienlandschaft sei kein
neues Phänomen, so Krüger. Ob Krieg gegen Serbien oder in Afghanistan,
stets war die große Mehrheit der Leitartikel in den führenden deutschen
Medien dafür, während sich die Bevölkerung mehrheitlich ablehnend äußerte.
Krüger war 2013 [7][mit einer Dissertation] bekannt geworden, [8][in der er
die Einbettung führender deutscher Journalisten in transatlantische
Thinktanks untersucht hatte]. Dabei zeigte er, dass Topjournalisten von der
Süddeutschen Zeitung, Zeit, FAZ bis zur Bild in transatlantischen
Denkfabriken wie der Atlantik-Brücke oder der Trilateralen Kommission
Mitglied waren, ohne dies in ihren Publikationen offenzulegen.
Eine Frame- und Inhaltsanalyse als Teil [9][der Dissertation] ergab, dass
die Texte dieser einflussreichen Journalisten durchgängig den US- und
Nato-freundlichen Positionen dieser Organisationen entsprachen. Selbst der
stellvertretende Chefredakteur der Zeit, Bernd Ulrich, räumte ein, dass die
transatlantischen Netzwerke ein [10][„Transmissionsriemen für die
amerikanische Denkart in der Außenpolitik“] seien.
## Transatlantische Netzwerke
Doch trotz der Wellen, die Krügers Studie und [11][die Kabarettsendung „Die
Anstalt“, die das Thema verarbeitete], damals schlugen, wurde die Forschung
an diesem Thema nicht fortgeführt. Auch die großen Medien verfolgten es
nicht weiter.
Dabei ist die Frage, ob und wie transatlantische Netzwerke die
Berichterstattung beeinflussen, angesichts der Eskalationsgefahren vom
Ukrainekrieg über den Nahen Osten bis China von höchster Aktualität und
nicht weniger brisant als die Frage nach Einflüssen der russischen
Propaganda.
Die Einbettung in Elitenetzwerke ist jedoch bei Weitem nicht die einzige
Ursache für potenzielle Verzerrungen in der Berichterstattung. Sinkende
Auflagen, wegbrechende Anzeigenkunden und die Konkurrenz durch schnelle
Umsonst-Infos aus dem Internet haben die Medienbranche in den letzten
Jahrzehnten tiefgreifend verändert. [12][Sabine Schiffer], Gründerin des
Instituts für Medienverantwortung in Erlangen, weist darauf hin, dass für
viele Journalisten ihre Arbeit deutlich prekärer geworden ist. Mutiges
Anschwimmen gegen den Strom sei heute wesentlich schwieriger, Karriere
würden vor allem Opportunisten machen.
Eine weitere problematische Entwicklung verschärft die Zeitungskrise: die
zunehmende Eigentumskonzentration. Im Bereich der Tagespresse werden 57
Prozent der Marktanteile von den zehn größten Medienkonzernen gehalten, bei
den Boulevardzeitungen liegt die Konzentration sogar bei über 98 Prozent.
## Monopole bei Tageszeitungen
In über zwei Dritteln aller Landkreise und Städte hat ein einzelner Konzern
sogar ein Monopol bei Tageszeitungen, so etwa in Köln, Stuttgart, Hannover,
Nürnberg, Freiburg, Magdeburg, Kiel, Mainz, Wiesbaden, Erfurt, Leipzig und
dem größten Teil des Ruhrgebiets.
Im Bereich der Wochenzeitungen sieht es ähnlich aus, bei
Publikumszeitschriften etwa sind sogar knapp 63 Prozent in der Hand von
fünf Konzernen. Der Großteil dieser marktbeherrschenden Konzerne gehört
wiederum in Teilen oder ganz einer [13][kleinen Schar von Milliardären oder
Fast-Milliardären], darunter die Familien Mohn (Bertelsmann/RTL/Gruner und
Jahr), Springer/Döpfner (Bild, Welt u. a.), Holtzbrinck (Die Zeit,
Tagesspiegel u. a.), Schaub (Medien-Union/Süddeutsche Zeitung u.a.), Burda
(Focus u. a.) und Becker/Marx/Wilcke (Funke-Gruppe).
Zwar mischen sich Eigentümer selten in die tägliche redaktionelle Arbeit
ein, aber sie bestimmen Chefredakteure und Budgets und üben so erheblichen
Einfluss auf die redaktionelle Linie aus. Dass man in einem Land, in dem
die meisten Medien Milliardären gehören, wenig darüber liest, wie man deren
übermäßigen Reichtum durch Steuern oder Vergesellschaftung lindern könnte,
um die öffentlichen Haushalte zu sanieren, ist kaum erstaunlich.
Die Eigentumsverhältnisse sind allerdings nicht der einzige Faktor, der
Meinungsvielfalt und kritische Selbstreflexion einschränkt. Die
tonangebenden Medien würden, so Harald Welzer, bei bestimmten Themen immer
näher zusammenrücken und eine Art Korpsgeist entwickeln, auch wenn sie
konkurrierenden Unternehmen angehören.
Diesen Korpsgeist hat der Sozialpsychologe Irving Janis einst als
groupthink bezeichnet. Janis hatte in den frühen 1970er Jahren erforscht,
wie Anpassungsdruck in Eliten zu fatalen Fehlentscheidungen führen konnte,
von der gescheitertem US-Invasion in der kubanischen Schweinebucht über die
Eskalation des Vietnamkrieges bis zum Watergate-Skandal. Die Zugehörigkeit
zu einer bestimmen in-group wird in Entscheidungssituationen höher
gewichtet als klares Denken und ethische Maßstäbe. Abweichende Sichtweisen
und alternative Lösungsstrategien werden als gruppengefährdend ausgeblendet
und sogar bekämpft.
Diese Tendenz zum groupthink war nicht nur im Ukrainekrieg, sondern auch
schon in der Coronapandemie in deutschen Medien zu beobachten. Zwar gab es
einen gewissen Spielraum für Debatten, doch wurden Kritiker bestimmter
Regierungsmaßnahmen wie Lockdowns, Schulschließungen und 2G-Maßnahmen von
einigen führenden Medien pauschalisierend als „Schwurbler“ oder
„Covidioten“ abgetan, selbst wenn sie ernsthafte Argumente ins Feld
führten.
Für Heribert Prantl, bis 2019 Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen
Zeitung, stellten diese Abwertungen von Kritikern einen groben Fehler und
einen Missbrauch der Pressefreiheit dar. „Journalisten sollten mit
Argumenten streiten, nicht mit Verbalinjurien“, so Prantl.
Auch unverhohlen autoritäre Tendenzen wurden salonfähig. So veröffentlichte
etwa die Süddeutsche Zeitung einen großen Essay des Schriftstellers Thomas
Brussig mit dem ganz und gar ernst gemeinten Titel [14][„Mehr Diktatur
wagen“]. Prantl kommt zum Schluss: Gerade in einer Zeit, in der die
Staatsgewalten von der Exekutive über die Legislative bis zur Judikative
Grundrechtseinschränkungen durchsetzten, hätte die vierte Gewalt als
Korrektiv einschreiten müssen.
Der Krieg in Gaza bietet ein weiteres Beispiel für eine beunruhigende
Konvergenz von Massenmedien und Staatsmacht. Die eklatante Falschbehauptung
des deutschen Kanzlers Olaf Scholz [15][am 14. November 2023], dass sich
die Regierung Netanjahu bei ihren Bombardierungen in Gaza an Völkerrecht
und Menschenrechte halte und alle anderslautenden Behauptungen „absurd“
seien, hat in den deutschen Leitmedien kaum Kritik erfahren.
Wann aber hat die Tendenz zum Gruppendenken in Deutschland eingesetzt und
warum? Uwe Krüger hat um die Jahre 2013 bis 2015 eine deutliche Veränderung
in Deutschland wahrgenommen. Medienkritik würde inzwischen leicht von
rechten Verschwörungstheoretikern vereinnahmt oder mit ihnen in Verbindung
gebracht.
Damals, zwischen 2013 und 2015, entstanden AfD und Pegida-Bewegung, die das
Schlagwort „Lügenpresse“ verbreiteten. Diese Entwicklung leistete einer
fatalen Polarisierung Vorschub: Während rechte Kreise das Feld der
Medienkritik immer weiter besetzen konnten, bildeten viele Leitmedien eine
Art Wagenburgmentalität aus und immunisierten sich gegen Kritik, indem sie
sich als Verteidiger der freiheitlichen Ordnung gegen den rechten Mob
inszenierten.
Eine grundlegende Kritik an der Funktionsweise von Massenmedien wurde
zunehmend zwischen diesen Fronten zerrieben. Dabei ist eine solche Kritik
aus emanzipatorischer Sicht heute notwendiger denn je, gerade auch um der
Rechtsentwicklung entgegenzuwirken.
5 Mar 2024
## LINKS
[1] /Welzer-und-Friedmann-Zeitenwende/!5714287
[2] /Philosophie-fuer-alle/!5064404
[3] https://www.fischerverlage.de/magazin/neue-rundschau/die-veroeffentlichte-m…
[4] /Konstruktiver-Journalismus/!5285278
[5] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2991.htm…
[6] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3313.htm…
[7] /Journalisten-unter-Einfluss/!5069170
[8] https://www.goethe.de/ins/no/de/kul/mag/20551642.html
[9] https://www.halem-verlag.de/produkt/meinungsmacht/
[10] https://www.nachdenkseiten.de/?p=28997
[11] /Nebenaktivitaeten-von-Journalisten/!5032740
[12] /Kampf-gegen-Vorurteile/!5808660
[13] https://de.statista.com/infografik/19375/ranking-deutscher-medienunternehm…
[14] https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-diktatur-thomas-brussig-1.5199495
[15] https://twitter.com/hrw_de/status/1724714789648101579
## AUTOREN
Fabian Scheidler
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