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# taz.de -- Ausstellung „Von Luther zu Twitter“: Die böse alte Angst vor T…
> Eine Ausstellung zu „Medien und politische Öffentlichkeit“ in Berlin ist
> sinnlich, inklusiv – und ein schönes Beispiel für liberale „Cancel
> Culture“.
Bild: Hörfunkübertragung in den 20ern, aus der Ausstellung „Von Luther zu T…
Alles Menschliche ist Austausch, ist Politik. Wir können nicht nicht
kommunizieren, und wir schaffen es einfach nie, neutral zu bleiben. Und
sofort, nachdem wir in Kontakt getreten sind, entstehen auch schon die
ersten Missverständnisse: „Am Anfang war das Wort“, zitiert der
italienische Schriftsteller Ennio Flaiano in einem Aphorismus die Bibel,
um fortzufahren: „Dann wurde das Wort unverständlich.“
Ein jüngstes Beispiel: Der Papst, [1][heißt es in einem klugen Beitrag zur
neuen Enzyklika „Fratelli tutti“] (Brüder alle), möchte „träumen, und …
von einer neuen Geschwisterlichkeit“. Und schon kommen aber gleich wieder
welche daher und nerven [2][und fühlen sich nicht angesprochen,] weil es im
Titel nur um „fratelli“, um Brüder gehe.
Missverständnisse, gewiss – aber wären die Töchter der Kirche nicht das
eine Wort und den einen Buchstaben wert? „Sorelle tutte“, Schwestern alle,
wenigstens in Ergänzung der rein männlichen Ansprache? Sind
Missverständnisse nicht ursächlich angelegt im fatalen Hang zur Darstellung
nur jenes kleinlichen Welt- und Wahrheitsausschnitts, der den Profiteuren
des Status quo in den Kram passt?
Aber damit, lernen wir [3][in der Ausstellung „Von Luther zu Twitter.
Medien und politische Öffentlichkeit“ im Deutschen Historischen Museum zu
Berlin], ist es keineswegs getan. Wir sortieren nämlich nicht nur die
Inhalte aus. Noch unsere grandiosesten Erfindungen gleichen wir feige dem
Gewohnten an.
Das Schriftbild der Gutenbergbibel, von der es ein Exemplar zu Beginn der
Schau zu sehen gibt, „sollte den damals in Umlauf befindlichen
handschriftlichen Vorlagen möglichst nahekommen, weshalb sich Gutenberg für
den Druck in zwei Spalten entschied. Damit die gedruckte Schrift der
handgeschriebenen gleichkam, ließ Gutenberg 290 [!] verschiedene
Schriftzeichen schneiden, die neben den üblichen Groß- und Kleinbuchstaben
auch Ligaturen [Verschmelzung zweier oder mehrerer Buchstaben] und
Abkürzungen darstellen konnten“, erklärt kompetent Matthias Miller im
Beibuch zur Ausstellung.
Selbst ein Johannes Gutenberg also wagte es nicht, das Neue zu
präsentieren, ohne es in das Alte zu verpacken: Das E-Paper ist ein spätes
Erbe dieser menschlichen Veranlagung – und auf Papier gedruckte Zeitungen
sind unsere Handschriften.
„Von Luther zu Twitter“ ist populär-inklusiv und sinnlich gestaltet. Lange
sitzt man im liebevoll rekonstruierten 1960er Fernsehwohnzimmer und schaut
fasziniert auf die erste US-TV-Präsidialdebatte, zwischen Kennedy und
Trump, nein, Nixon natürlich.
Etwas angeekelt folgt man der Darstellung des Flugblattkriegs zwischen dem
vulgären, übelst-polemischen Luther und den Katholiken; und wer sich fragt,
warum der Antisemit aus Wittenberg den Päpstlichen so überlegen war, der
wird vielleicht weniger in seiner radikalen Desinformationskampagne fündig
als vielmehr in der totalen moralischen Abgewirtschaftetheit seiner Gegner:
„Die Lügen der Elite“, [4][sagt ein US-Politologe in einem aktuellen
DLF-Feature, „sind wirkungsvoller als alle Trolle.“]
## Ekliger als Luther
Noch ekliger als Luther wird es dann im nächsten Raum. Vom Nazigeplärre
immerhin darf man sich mit der sonor-strengen Stimme von Thomas Mann
erholen, der seine wieder einmal dem Gemeinschaftswahn verfallenen
Deutschen ermahnt. Alles ist hier interessant, alles ist Politik – auch und
gerade das, was nicht gezeigt wird.
Denn warum einen gelungenen Raum den Revolutionären von 1848 gönnen und
keinen den französischen Enzyklopädisten, den großen Popularisierern und
Weltenträtselern? Und wieso ist die Etablierung des Raubdrucks seitens
unserer lieben 68er keine Erwähnung wert, durch den die revolutionsbereite
Öffentlichkeit mit Werken von Wilhelm Reich bis Rosa Luxemburg agitiert
wurde?
Weil, lautet eine Antwort, wir uns in „Von Luther zu Twitter“ nicht in
einer kritischen, sondern in einer staatstragend-liberalen Veranstaltung
befinden. Zwar gäbe es Liberale gar nicht ohne die Encyclopédie Diderots
und d’Alemberts – weil es ohne sie keine Französische Revolution gegeben
hätte. Aber dieser Epochenbruch brachte halt auch einen guillotinierenden
Massenmord mit sich, und Liberale wollen Service am Tisch, aber nicht so
gern die volle Rechnung bezahlen.
Und 68? Vergessen wir nicht: 68 war eine linksradikale Revolte gegen unsere
super liberal-kapitalistische Demokratie, nicht für sie. Und so fehlt in
der Schau etwa auch, was über „Medien und politische Öffentlichkeit“ aus
den deutschen Räterevolutionen 1918/19 zu lernen wäre. Wer nicht für uns
ist, sagen die Liberalen, ist gar nicht so sehr gegen uns: Es gibt ihn
einfach nicht, wir verstehen das nicht! Womit wir beim eigentlichen
Hauptteil sind, bei der Gegenwart und ihren Auseinandersetzungen, bei
Twitter also.
## Liberal manipuliert
Über Twitter habe ich im DHM erfahren, dass Donald Trump viel twittert. Das
wusste ich ehrlich gesagt schon. Warum die Ausstellung so wenig Neues
vermittelt, wenn es um die Macht der Werbeplattformen, die massenhafte
Überwachung und die demokratische Öffnung des Diskurses durch die sozialen
Medien geht, wird deutlich, wenn wir vor einen – ausgerechnet –
Diaprojektor treten, durch den die Darstellung der jüngsten heimischen
Netz-Erregungen läuft: von Rezo (äh, wer?) über das WDR-#Omagate (da saust
noch was) [5][bis hin zu „All Cops are berufsunfähig“ (Gott steh uns bei)].
Der Debatte über die taz-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah sind sieben
Dias gewidmet. Kein einziges zeigt, auf wie viel Zustimmung die Kolumne
stieß.
Statt intellektuell (und twittermäßig) relevante, die Kolumne als
Meilenstein antirassistischer Polizeikritik einordnende Positionen [6][wie
die von Mely Kiyak] oder [7][Margarete Stokowski] abzubilden, wird als
einzig ernstzunehmende Stimme der taz-Kollege [8][Stefan Reinecke zitiert],
der dem Text vorwirft, Traffic auf Kosten von Aufklärung zu generieren; und
noch nicht mal die Tatsache, [9][dass weder der Presserat noch die Justiz
irgendetwas „menschenverachtendes oder diskriminierendes“
(Ausstellungstext) an Yaghoobifarahs Kolumne finden konnten], wird
aktualisierend eingearbeitet.
Die Ausstellung unterschlägt hier also Fakten, sie ist ein intellektueller
Angstbeißer. Im Weltbild, das sie vermitteln will, ist Widerstand nur dann
in Ordnung, wenn er in Belaraus, Hongkong oder in der Vergangenheit
stattfindet. Es geht ihr nicht um Fortschritt, nicht um eine freiere
Gesellschaft für alle, sondern um Legitimierung des Bestehenden. Was nicht
reinpasst, wird trotzig weggeschwiegen.
Aber Angst vor Veränderung war noch nie ein guter Ratgeber: Vielleicht
sollten unsere liberalen Eliten sich, was Realismus angeht, ein Beispiel an
Papst Franziskus nehmen: In der neuen Enzyklika sieht er die Coronapandemie
nicht etwa als Strafe Gottes, sondern als Ausdruck der Wirklichkeit, „die
seufzt und sich auflehnt“.
Von Luther zu Twitter: Medien und politische Öffentlichkeit“, noch bis 11.
April 2021. Ein Aufsatzband ist bei S. Fischer erschienen, hg. von den
Kurator:innen Raphael Gross, Melanie Lyon und Harald Welzer, 320 Seiten,
18 Euro.
12 Oct 2020
## LINKS
[1] https://paterberndhagenkord.blog/so-viel-politik-war-selten-politische-naec…
[2] https://www.katholisch.de/artikel/26915-fratelli-tutti-der-papst-haette-ein…
[3] https://www.dhm.de/ausstellungen/von-luther-zu-twitter.html#/
[4] https://www.deutschlandfunk.de/desinformation-im-us-wahlkampf-wie-die-demok…
[5] /Abschaffung-der-Polizei/!5689584
[6] https://www.zeit.de/kultur/2020-06/pressefreiheit-taz-kolumne-horst-seehofe…
[7] https://www.spiegel.de/kultur/margarete-stokowski-ueber-rassismus-und-die-k…
[8] /Die-taz-die-Polizei-und-der-Muell/!5696446/
[9] https://www.tagesspiegel.de/berlin/offiziell-von-der-meinungsfreiheit-gedec…
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Twitter / X
Luther
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