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# taz.de -- Welzer und Friedmann „Zeitenwende“: A Song for Europe
> Pandemie, Hass und Klimawandel, die Probleme sind so viele, dass unsere
> Autoren von einer Zeitenwende sprechen. Ein Vorabdruck
Bild: „Nationale Grenzen. Geschlossene Grenzen“: Teilnehmer einer Pro-Europ…
Michel Friedman: Meine Biografie ist europäisch. Meine Eltern kamen aus
Polen. Ich bin in Paris geboren, ich lebe in Deutschland. [1][Zudem bin ich
jüdisch], was in Europa nicht gerade ein einfaches Thema ist und in
Deutschland erst recht nicht. Ich kann auf diesem Kontinent nur leben, weil
es die europäische Idee gibt und solange es sie geben wird. Sie ist die
einzige Chance für uns alle, in Freiheit und Frieden zu leben. Nichts
Selbstverständliches. Vielleicht ist das eines der größten Probleme, dass
auch junge Menschen den Wert von Freiheit und Frieden als etwas
Selbstverständliches empfinden. Zur Erinnerung: Nur eine Minderheit genießt
diese Privilegien auf dieser Welt. Zur Erinnerung: Auf diesem Kontinent
Europa leben immer noch Millionen Menschen in Unfreiheit, in Diktatur. Mit
dem Brexit erleben wir alle zum ersten Mal wieder, dass es nicht
selbstverständlich ist, grenzenlos in Europa studieren, reisen, arbeiten,
leben zu können. Während der Pandemie erlebten wir, dass Grenzenlosigkeit
innerhalb Europas nichts Selbstverständliches ist. Plötzlich waren sie
wieder da. Grenzen. Nationale Grenzen. Geschlossene Grenzen. Umso mehr gilt
es, die europäische Idee zu stärken. Dafür zu werben, dass Inklusion statt
Exklusion die Zukunft bedeutet.
[2][Harald Welzer]: Die Werbung gibt es ja, aber der Zustand war mal
besser. Die generationell gelebte Erfahrung ist da. Trotzdem gibt es diesen
Erosionsprozess und als Allerschlimmstes die Renationalisierung. Ich fand
das wirklich erschreckend, wie in der Pandemie als erstes die Grenzen
zugegangen sind. Um etwas Positives zu sagen: Interessant war die
unmittelbare Erfahrung der Bewohner der Grenzregionen, die gesagt haben:
Ihr habt doch wohl einen Schaden, diese Grenzen erstens zugemacht zu haben
und zweitens sie auch noch ewig geschlossen zu lassen! Wo das als gelebter
Raum ohne Grenzen, als tiefe gemeinsame Lebenserfahrung existiert.
Die Grenzregionen sind die Regionen, in denen Europa als Idee eine Realität
ist. Das Narrativ ist nicht nur eine Erzählung, sondern gelebte Erfahrung.
Eben, und da ist ja auch viel Kraft drin. Aber was machen wir denn nun mit
diesem Europa?
Wir bauen es aus. Wir bauen es auf. Wir lassen uns nicht entmutigen. Und
ja, wahrscheinlich braucht es in Deutschland endlich eine Partei, die als
Kernidee Europa repräsentiert wie die SPD die soziale Gerechtigkeit oder
die Grünen das Umweltthema.
Ja, aber jetzt haben wir einen heißen Punkt. Den Punkt hast du eben
indirekt formuliert: Sie spielen Europa nicht als Modernisierungsvorhaben,
als Weiterentwicklungs-Vorhaben, weil sie Schiss haben, dass ihnen das bei
den Wählern keine Punkte bringt. Das gilt für die Öko-Thematik genauso.
Worauf ich hinaus will mit dieser Zusammenfassung: Im Grunde heißt es doch,
dass wir auf der parteipolitischen Ebene und auf der Ebene der politischen
Debatten keine Zukunftsthemen haben und sie politisch demzufolge auch nicht
gespielt werden. Das ist ja immer derselbe Befund, an den wir kommen.
Das wäre die fatalistische Sicht. Meine Perspektive ist, dass Politik und
Gesellschaft dynamisch sind und dass Bewegungen wie [3][Pulse of Europe]
und Fridays for Future bewiesen haben, dass es in der Bevölkerung
Unterstützung für die Themen gibt.
Mir ging es darum, das analytisch noch einmal klarzuziehen, dass es bei
allen Themen um den Kristallisationskern freiheitliche Demokratie,
demokratischer Rechtsstaat, Menschenrechts-Regime geht, dass wir bei jeder
Facette, die wir diskutieren, auf denselben Punkt kommen: Es gibt ein
Modernisierungsdefizit.
Im Zusammenhang mit Europa ist mir dieser Begriff zu harmlos. Wir befinden
uns in einem „crucial moment“, vielleicht sogar an einem „point of no
return“. Eine weitere Entdemokratisierung und Renationalisierung
insbesondere von den großen Mitgliedsstaaten wie Frankreich würde das
Projekt existenziell gefährden. Andererseits ist diese Analyse
hochmotivierend, um die EU in die andere Richtung zu bewegen, die seit
ihrer Gründung angelegt ist: Abbau von Grenzen.
Diese Form von Staatlichkeit, wie sie die liberale Demokratie westlichen
Typs repräsentiert, basiert nun mal auf der Idee, dass es eine Zukunft gibt
und dass diese Zukunft besser sein kann als die Gegenwart und dass die
Aufgabe von Politik darin besteht, diese bessere Zukunft zu gestalten. Das
hört sich trivial an, ist aber historisch keine Selbstverständlichkeit.
Jetzt buchstabieren wir alle Themen durch und sagen: Ja, ein neues
Naturverhältnis wäre ein Zukunftsprojekt, klar. Und eine wichtigere Rolle
für die Jugend, natürlich, und eine egalitäre Konzeption von Bildung,
sowieso. Europa wäre ein Zukunftsprojekt, ja, ganz zweifellos. Es gibt aber
niemanden, der wirklich…
Niemanden? Stimmt nicht. Und noch ein Hinweis: Die Europäische Union ist
nicht Europa. Und Europa ist nicht die Europäische Union. Schade.
Aber lass mich doch mal den Gedanken fertigmachen. Der Gedanke, den ich
versuche zu finden: Was ist das Gemeinsame unserer unterschiedlichen
Themen? Was taucht als gemeinsame Problematik auf? Als gemeinsame
Problematik taucht auf, dass das alles zukunftsvergessen ist. Das taucht
bei der Klimathematik auf. Das taucht bei Europa auf. Das taucht bei allem
auf, was wir diskutieren, bei der Bildungsthematik ganz genauso. Bildung
ist eklatant zukunftsbezogen, sonst bräuchte man sie ja nicht.
Geschichtliche Zeitabläufe funktionieren nach einer anderen Zeitrechnung.
Hunderte Jahre Identitätsbildungen prägen das kulturelle Gedächtnis und das
nationale Gedächtnis. Im Rahmen dieser Erinnerungsarbeit ist Demokratie
eine junge Idee. Europa erst ein Kleinkind. Der Euro und Schengen sowieso.
Die Rückschläge bedeuten nicht, dass das Projekt keine Zukunft hat, sondern
zeigen, wie fragil das Neue ist, wie lange es braucht, um Identität zu
dynamisieren, und wie rustikal und tiefetabliert das Alte ist. Dass sich
daraus Rückschläge ergeben, gehört zu historischen
Modernisierungsprozessen. Dass deswegen der europäische Prozess nicht
zukunftsfähig ist, ist daraus nicht herzuleiten.
Ich empfehle von meiner Playlist: Roxy Music, Song for Europe, 1973.
Noch einmal: In kürzester Zeit sind 27 Nationen mit über 400 Millionen
Menschen zu einer politischen Einheit zusammengewachsen. Trotz
unterschiedlicher Sprachen, trotz unterschiedlicher Kultur und obwohl sie
Kriegsgegner waren.
Optimismus ist Mangel an Information, hat Heiner Müller gesagt.
Ja. Das stimmt. Trotz allem: Ich bin ein realistischer Optimist.
Aber alles das, was du sagst, so richtig es ist, ist es ja nicht
einschlägig für die Fragestellung, die ich gegen erbitterte Widerstände von
deiner Seite aus hier zu erarbeiten versuche. Bei mir scheint es
mittlerweile nach all dem, was wir diskutiert haben, auf der Hand zu
liegen: dass wir das ganze Projekt, über das wir nachdenken, an jeder
Stelle als Modernisierungs-Projekt verstehen und definieren müssen und dass
das Problem, was dem entgegensteht, eine restaurative Tendenz in allen
Ländern ist, eine Anti-Modernisierungs-Haltung, eine
Konservierungs-Haltung, ein Festhalten am Status quo. Das ist der gordische
Knoten.
Die Auseinandersetzung zwischen Modernisieren und Restaurieren, zwischen
reaktionären und progressiven Konzepten ist ein ununterbrochener
historisch-politischer Prozess. Eine nie aufhörende Auseinandersetzung. All
das, was wir diskutieren, weist eher darauf hin, dass wir uns mehr
anstrengen müssen, mehr werben müssen, für das, wofür wir stehen. Kann es
sein, dass die letzten Jahre davon geprägt waren, dass politische Debatten
primär pragmatisch waren und dabei vergessen wurde, auf welchem
politiktheoretischen Fundament wir diese Gesellschaften entwickeln wollen?
Dass die Korrelation zwischen Freiheit und Verantwortung nicht deutlich
genug verhandelt wurde? Dass wir Demokratie als selbstverständlich
empfunden haben? Und dass wir die Gegner der Demokratie nicht ernst genug
genommen haben, weil es bedeutet hätte, sich anzustrengen, sich selbst zu
hinterfragen, Antworten für sich selbst zu finden, um Antworten für andere
entwickeln zu können? Wahrscheinlich haben wir auch den Frieden als
selbstverständlich empfunden, obwohl mitten in Europa, in der Ukraine,
Krieg ist, obwohl Teile des Kontinents Europas nicht in Frieden leben. Kann
es sein, dass uns primär Wachstum und Wohlstand interessierten? Das wäre
dann zu wenig gewesen.
Okay. Aber dann lass es doch mal als These so stehen. Es besteht ein ganz
starkes Defizit an Zukunftspolitik.
Und an Modernisierungspolitik.
30 Sep 2020
## LINKS
[1] /Michel-Friedman-ueber-Menschenhass/!5477285
[2] /Was-ist-Phase-bei-der-Wahl/!5449146
[3] /Bewegung-Pulse-of-Europe/!5511817
## AUTOREN
Harald Welzer
Michel Friedmann
Harald Welzer und Michel Friedman
## TAGS
Literatur
Europa
Demokratie
Menschenrechte
Schwerpunkt Rassismus
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Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Politisches Buch
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