# taz.de -- Erinnerungen an Corona: Das zerfranste Ende der Pandemie | |
> Die Maskenpflicht ist größtenteils abgeschafft – war's das jetzt mit | |
> Corona? Um zu verstehen, was wir durchgemacht haben, müssen wir | |
> zurückblicken. | |
Bild: Leere Straßen haben unser Bild von der Pandemie geprägt | |
Die Apothekerin sagte: „Ach, die Maske haben Sie in 20 Minuten | |
durchgeatmet, das nützt dann auch nichts.“ Also stieg ich maskenlos in den | |
Zug, 12. März 2020. Drei Stunden unentspannte Fahrt. Ich versuchte nichts | |
anzufassen, lehnte mich kaum richtig an, hielt den Schal vor den Mund und | |
fand alles einfach nur unheimlich. War es nicht überhaupt | |
verantwortungslos, meine Eltern zu besuchen, nachdem ich am Abend vorher in | |
einem vollen Restaurant gegessen hatte? | |
Diese ganz neue Art extremer Verunsicherung: Mich traf sie beim Lesen eines | |
[1][Facebook-Posts aus Bergamo]. Ein Arzt berichtete von dystopisch | |
wirkenden Schreckensszenarien: sein ganzes Krankenhaus ein einziges | |
Coronalazarett, Sterbende auf allen Fluren. Ich konnte es nicht mehr | |
wegschieben, wie noch zwei Wochen zuvor auf der Berlinale, mit mehr als | |
1.000 Menschen in einem Kinosaal. | |
Entschuldigen Sie die Rückblicksorgie! Aber offenbar ist der Zeitpunkt | |
dafür gekommen. Die Maskenpflicht ist so gut wie weg, die Reste im | |
Gesundheitsbereich hört man schon wackeln. Und wer Corona hat, ohne zu | |
husten, darf in der Mehrzahl der Bundesländer seit Kurzem trotzdem unter | |
Leute (was soll schon passieren?). Was auch immer das Virus noch vorhat, | |
die offizielle Botschaft lautet: Es ist vorbei, hat ja auch lang genug | |
gedauert. | |
## Wir werden uns viel zu verzeihen haben | |
Echt jetzt: Ich hatte mir das Ende schöner vorgestellt. Und den Mittelteil | |
nicht so furchtbar. Zum Glück wird die Geschichte portionsweise gelebt – | |
und ertragen. Wenn in den ersten Wochen jemand gesagt hätte: Genießt die | |
Angst vor der noch so diffusen Bedrohung und euer Maskennähen, das ist der | |
gemütliche Teil – ich hätte es nicht hören wollen. | |
„Wir werden einander viel verzeihen müssen“, [2][sagte Jens Spahn,] als er | |
noch Gesundheitsminister war. Ich hab nachgesehen: Es war am 22. April | |
2020. In Coronazeitmessung ist das also 1.000 Jahre her. Bremen führte | |
gerade als letztes Bundesland die Maskenpflicht im Nahverkehr und beim | |
Einkaufen ein. Und Christian Drosten warnte davor, dass der schöne | |
Vorsprung in der Pandemiebekämpfung, den Deutschland durch die schnelle | |
Reaktion im März erreicht habe, wieder verloren gehen könnte. Warum? Weil | |
die Geschäfte wieder aufmachen durften; jedenfalls die bis zu einer Größe | |
von 800 Quadratmetern, Sie erinnern sich vielleicht. | |
Die Wirtschaft kann nicht ewig stillstehen, auch außerhalb der | |
Lebensmittelbranche muss Geld verdient werden: Damit fingen die Debatten um | |
die richtigen Maßnahmen an, die seitdem so häufig ihren Namen gar nicht | |
mehr verdienten. Kurz nach den Baumärkten durften auch Friseursalons wieder | |
öffnen, aber vorerst ohne Wimpernfärben. Ja, das haben wir erlebt. | |
Natürlich hatte Spahn recht: In einer derartigen Krise, die aber mal | |
richtiges Neuland für die Gesellschaft war, passieren auch Fehler. Weil man | |
noch nicht genug wusste, weil es aber gleichzeitig um Leben und Tod ging. | |
Nichtstun wäre der größte Fehler gewesen. | |
Der 22. April 2020, der Tag von Spahns Verzeih-Prophezeiung, war übrigens | |
auch der Tag, an dem das Paul-Ehrlich-Institut die klinische Prüfung eines | |
ersten Corona-Impfstoffskandidaten zuließ. Und zwar den „des Mainzer | |
Unternehmens Biontech“, wie es noch ordentlich ausbuchstabiert wurde. Von | |
heute aus gesehen liest sich das so unschuldig, da steckt noch nichts von | |
all dem drin, was diese Impfung bald bedeuten würde – in ihrem Dasein als | |
Lebensretterin, Gamechanger und Hassobjekt. | |
## Die emotionale Wucht des Impfthemas | |
„In der Krise zeigt sich der Charakter“, noch ein Politikerzitat. Helmut | |
Schmidt kann aber unmöglich der Erste gewesen sein, der das gesagt hat – zu | |
offensichtlich ist der Wahrheitsgehalt. In dieser Krise entwickelten alle | |
Menschen eine Art Coronapersönlichkeit, und wozu das führen konnte, das | |
war doch der größte Schock: die emotionale Wucht, mit der die Themen | |
Masken, Maßnahmen und vor allem Impfung Familien spalten und Freundschaften | |
beenden konnten: So genau hatte man sich doch gar nicht kennenlernen | |
wollen. Auch im Großen nicht – Hass-Explosionen bei Demos der | |
selbsternannten Querdenker? Nein, danke! Immerhin verdanken wir ihnen | |
Erkenntnisse über einen gesellschaftlichen Abgrund, der sich davor leichter | |
ignorieren ließ. | |
Und wo stehen wir jetzt? [3][Mehr als 165.000 Menschen sind allein in | |
Deutschland wegen Corona gestorben.] Geimpft ist längst, wer es sein will, | |
infiziert waren die meisten zusätzlich. Und es kommen immer noch Menschen | |
dazu, deren Leben nach einer Infektion nicht mehr dasselbe ist. | |
Das RKI beschreibt die Studienlage zu Long Covid noch als zu uneindeutig, | |
um die Höhe des Risikos, nach einer Infektion daran zu erkranken, genau zu | |
beziffern. Es liege aber jedenfalls höher als bei Spätfolgen nach einer | |
Influenza-Infektion. Mir reicht dieses Wissen, ich will noch nicht wieder | |
ohne Maske Zug fahren, zu seltsam die Vorstellung, einfach so stundenlang | |
in nächster Nähe zu Fremden herumzuatmen. Auch beim Restaurantbesuch fehlt | |
die alte Unbefangenheit. So ist es noch, und das ist okay. Natürlich weiß | |
ich, dass wir weit gekommen sind seit dem März vor drei Jahren. | |
Virologin Isabella Eckerle twitterte vor ein paar Tagen, für sie seien die | |
vergangenen Wochen die ersten seit Beginn der Pandemie, in denen sie „die | |
Situation sich entspannen sehe“ – außer eben für Risikopersonen. Sie füg… | |
hinzu: „Weniger Gesamtzirkulation bedeutet auch weniger | |
Ansteckungsrisiken.“ Hoffentlich. | |
## Das Ende als Jubeltag | |
Der Traum vom Ende der Pandemie als Jubeltag, als kollektive Erleichterung, | |
die durch das Land fegt und alle miteinander und mit allem versöhnt – der | |
tröstete mich im damals, im Winter 20/21, Lockdown des Grauens. Die Fiktion | |
hatte also ihren eigenen Nutzen. | |
Jetzt bekommen wir statt Jubeltag ein Ende, wie es zu uns und zu unserem | |
Umgang mit der Pandemie passt: ein zerfranstes Etwas. Für alles andere | |
waren diese Jahre zu konfliktreich. So war es, anders wird es nicht mehr, | |
das war unsere Pandemie-Performance. Mehr war nicht drin, aber auch nicht | |
weniger. | |
7 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Bergamo-ein-Jahr-danach/!5749885 | |
[2] /Bundesgesundheitsminister-Jens-Spahn/!5753657 | |
[3] /Uebersterblichkeit-in-der-Pandemie/!5901153 | |
## AUTOREN | |
Anne Diekhoff | |
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