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# taz.de -- Corona und Isolation: Volle Dosis Eigenverantwortung
> Unsere Autorin bekommt zum dritten Mal Corona. Diesmal gibt es keine
> verbindlichen Regeln mehr – und sie muss zu einer Wohnungsbesichtigung.
Bild: Zuhause bleiben kann schön sein – wenn es ein Zuhause gibt
Februar 2023: Eigentlich hätte mir schon das Datum eine Warnung sein soll.
Ob Schicksal, Zufall oder einfach nur eine Gemeinheit: Bisher habe ich mich
jeden Februar treffsicher mit Corona angesteckt. So also auch in diesem
Jahr: Eine nach langer Zeit wieder wunderbar ausgelassene Geburtstagsparty
mit viel Nähe beim Tanzen und gemeinsamen Krafttanken auf der Couch,
geteilten Getränken und Zigaretten entpuppte sich nach dem Wochenende als
eine Superspreaderparty, wie sie im Buche steht.
Es ist meine dritte Infektion. Als sich der zweite Strich auf dem Tester
abzeichnet, steigt die gleiche Panik [1][wie bei den beiden letzten Malen]
in mir auf. Als gesunde Studentin ist es nicht die Krankheit, sondern die
Aussicht auf mindestens eine Woche Isolation in meinem WG-Zimmer, die mir
zu schaffen macht. Halskratzen und Fieber, damit kann ich umgehen, mit
Einsamkeit hingegen nur sehr schlecht.
Eine Freundin schickt mir einen Link zu den offiziellen Coronaverordnungen
der Stadt Berlin. Dort lese ich schwarz auf weiß, was ich eigentlich
ohnehin wusste:
„Angesichts der deutlich rückläufigen Fallzahlen ist eine Überlastung der
Gesundheitsversorgung oder der kritischen Infrastruktur durch das
Pandemiegeschehen derzeit nicht zu erwarten. Aus diesem Grund gelten seit
dem 13. Februar 2023 keine berlinspezifischen Coronamaßnahmen mehr. Die
Berliner Coronaverordnung ist nicht mehr in Kraft.“
## Einmal täglich spazieren gehen
Wurde ich 2021 noch vom Gesundheitsamt nach allen möglichen Kontaktpersonen
ausgefragt und mit sofortiger Wirkung an dem Ort in Quarantäne geschickt,
an dem ich mich befand, blieb ich 2022 nach positivem Selbsttest zwar ohne
Aufforderung, aber doch ganz selbstverständlich zu Hause und wagte mich nur
einmal täglich für einen Spaziergang nach draußen.
Und wie verhalte ich mich 2023? Es scheint als bliebe mir diese
Entscheidung vollständig selbst überlassen. Nach drei Jahren größter
gesellschaftlicher Sorge um die unsichtbaren Krankheitserreger könnte ich
heute völlig sanktionsfrei zur Arbeit gehen, einkaufen oder Freunde
besuchen und müsste nicht einmal offenlegen, dass ich mich angesteckt habe.
Doch von den offiziellen Regeln einmal abgesehen: Welcher Umgang mit einer
Corona-Infektion ist denn nun moralisch richtig, eigenverantwortlich und
erwachsen?
Diese Entscheidung überfordert mich. Deshalb informiere ich erst mal mein
soziales Umfeld und bin auf die Reaktionen gespannt. Fanden die meisten
Menschen in meiner Umgebung die offiziellen Regelungen bisher leicht
überzogen, ist es diesmal andersherum: Nach Überbringung der Nachricht
ergreifen meine Mitbewohner:innen die Flucht zu ihren
Partner:innen, mein Arzt schreibt mich weiterhin selbstverständlich und
am Telefon krank und auch meine Freund:innen beschränken sich darauf,
mich mit aufmunternden Anrufen zu versorgen. Es scheint, als sei mir die
Eigenverantwortung und der Umgang mit dem Dilemma, niemanden anstecken zu
wollen, aber auch keine weitere Lebenswoche weitestgehend symptomlos in der
Isolation zu verbringen, von außen abgenommen worden.
Wäre da nicht ein weiteres Problem, dem ich mich ganz allein stellen muss:
Ich befinde mich auf verzweifelter Wohnungssuche und habe nur noch weniger
als zwei Wochen, bis ich aus meinem jetzigen Zimmer ausziehen muss. Als
stolze Besitzerin eines kleinen Campervans habe ich mich lange nicht
stressen lassen. Sollte ich bis zum Ende des Monats keine passende Bleibe
gefunden haben, so meine wahrscheinlich äußerst naive Überlegung, könnte
ich einfach einige Zeit zwischen meinem Van und dem Sofa von Freund:innen
hin- und herwechseln. Eine undichte Stelle im Dach meines Autos macht
dieser Überlegung jedoch einen Strich durch die Rechnung.
## Potenzielle Obdachlosigkeit
Eigentlich lief es auch ganz gut mit der Suche. Auf meine unzähligen
Anfragen hatten sich einige potenzielle neue Mitbewohner:innen bei mir
zurückgemeldet, sodass ich für die nächsten Tage drei Besichtigungstermine
ausgemacht hatte. Damit stehe ich also nicht mehr nur vor dem Dilemma
Einsamkeit vs. niemanden anstecken wollen, sondern vor der noch
herausfordernden Überlegung des Niemanden-anstecken-Wollens und der Angst
vor potenzieller Obdachlosigkeit. Zwei Tage nach meinem ersten positiven
Test fühle ich mich körperlich fit, mental schon deutlich
eigenbrötlerischer und, was meine zukünftige Wohnsituation betrifft,
zunehmend besorgt. Deshalb werfe ich mir eine Schmerztablette ein, sprühe
mir die Nase frei und mache mich auf den Weg zu einer sehr vielversprechend
anmutenden WG-Besichtigung.
Zwar fühle ich mich leicht schuldig und beschließe, niemanden von meinem
infektiösen Ausflug zu erzählen, finde aber, dass das menschliche
Grundbedürfnis nach einem dichten Dach über dem Kopf mein egoistisches
Handeln rechtfertigt. Eine Entscheidung, die ich schon kurz nach meiner
Ankunft bitter bereue. In Berlin, einer Stadt mit mehr als drei Millionen
Einwohnern, wird mir ausgerechnet das freiwerdende Zimmer eines neuen
Arbeitskollegen präsentiert. Ich kann mein Pech nicht fassen und fange an
zu schwitzen – nicht wegen Corona, sondern vor Nervosität. Das Gespräch mit
dem netten Menschen, der überlegt, mich bei sich aufzunehmen, verläuft
katastrophal. Ich bekomme noch mit, dass ich ihn sehr sympathisch finde,
nehme ansonsten aber nichts von dem auf, was er mir über sich erzählt. Mir
schießen tausend Ängste und Fragen durch den Kopf: Wird mein Arbeitskollege
herausfinden, dass ich hier war? Weiß er eigentlich wer ich bin? Bisher
haben wir uns schließlich nur von weitem gesehen … Weiß er, dass ich wegen
Corana krankgeschrieben bin? Wird mein Arbeitgeber von meinem Tun erfahren?
Werde ich gefeuert werden?
Nun gut, gefeuert werden, dass wird mir schnell klar, kann ich nicht,
schließlich verstoße ich ja offiziell gegen keine Regeln. Doch wenn nicht
gefeuert, werden meine Kollegen mich verachten und werde ich so freiwillig
gehen müssen. Werde ich mein Gegenüber anstecken und wird er an Long Covid
erkranken? Das Rad in meinem Kopf dreht sich immer schneller und meine
Sorgen ufern völlig aus. Ich will nur noch raus hier und erfinde eine wenig
überzeugende Ausrede, warum ich doch ganz bald losmuss. Hauptsache, ich bin
weg, bevor mein Kollege nach Hause kommt. Dieser Wunsch wird mir jedoch
nicht erfüllt und wir drücken uns quasi die Klinke in die Hand. Meine
Sozialkompetenz ist wie weggeblasen. Ich murmele nur ein leises „Hallo“,
blicke ihm nicht in die Augen und verlasse mit offenen Schuhen die Wohnung,
in die ich nach diesem Auftritt sicherlich nicht einziehen werde.
Nach diesem Erlebnis habe ich zwar keine Corona-, dafür aber eindeutige
Stresssymptome. Ich schlafe schlecht, habe nicht mehr genau greifbare
Albträume und fühle mich auch noch am nächsten Morgen überfordert. Einsam
und eingesperrt zu sein, dass war bei meinen letzten beiden Infektionen
wirklich kein Spaß, doch ob es mir mit der moralischen Last auf den
Schultern dieses Mal besser geht, vermag ich nicht zu sagen.
Mittlerweile bin ich wieder negativ getestet. Auf die Frage, wie man sich
bei einer Corona-Infektion im Jahre 2023 vernünftig und eigenverantwortlich
verhält, habe ich keine abschließende Antwort gefunden.
Dennoch bin ich froh, dass ich mich diesmal selbst damit auseinandersetzten
musste und gemeinsam mit meinem Umfeld eigene Entscheidungen treffen
konnte. Verheimlichen, auch vor potenziellen Mitbewohner:innen bei
akuter Wohnungsnot, würde ich meine Infektion nicht mehr. Weiterhin auf
kuschelige Partys gehe ich aber trotzdem.
20 Feb 2023
## LINKS
[1] /Erinnerungen-an-Corona/!5910767
## AUTOREN
Annika Fränken
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
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Jugend
Studierende
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