Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Vor der Einführung des Bürgergeldes: Was von Hartz IV bleibt
> Hartz IV hat das Leben von Millionen Arbeitslosen, Jobcenter-Mitarbeitern
> und Anwälten geprägt. Wie bewerten sie diese Zeit? Acht Protokolle.
Bild: Wird in Zukunft die Gegenwart erfreulicher?
## „Ich habe mich für meine Schuhe geschämt“
Kevin Schmale, 26, (Nachname geändert), Lehramtsstudent aus Offenbach
Ich kann mich noch gut an die Demütigung erinnern. In der Schule hatten
damals alle Vans, das waren diese Skaterschuhe mit dem Schachbrettmuster.
Ich trug eine No-Name-Version an den Füßen. Mein Religionslehrer, wir
konnten uns beide nicht leiden, bemerkte das, er sagte: „Was hast du denn
da für Billigschuhe an?“ – Ich habe mich so geschämt.
Generell fiel mir im Gymnasium zum ersten Mal auf, dass wir in Armut
lebten. Meine Mitschüler und Mitschülerinnen trugen Markenklamotten, fuhren
in den Urlaub und lebten in Reihenhäusern. Ich fuhr im Sommer höchstens zu
meinen Großeltern, wir lebten in einem schäbigen Mietshaus mit kleinen
Zimmern. Mir war das so peinlich, dass ich mich habe verleugnen lassen,
wenn Freunde bei uns klingelten. Als wir in der Schule unser Zuhause malen
sollten, habe ich mich geweigert.
Als ich klein war, hatte mein Vater noch Arbeit. Dann trennten sich meine
Eltern, mein Vater war auf einmal alleinerziehend. Er kündigte, um sich um
mich zu kümmern. Ich glaube, er hat die Scheidung nie wirklich verkraftet.
Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands ist er bis heute arbeitslos.
Schon als Jugendlicher habe ich gemerkt: Die vom Jobcenter sind uns auf den
Fersen. Jeder Cent wurde von denen umgedreht. Weil ich mit meinem Vater in
einer Bedarfsgemeinschaft gewohnt habe, bekam ich selbst als Jugendlicher
Briefe. Die wollten mir einen Job oder eine Ausbildung vermitteln, obwohl
ich noch zur Schule ging. Man musste immer umgehend auf die Schreiben
antworten. Einmal bin ich über ein Wochenende zu meinen Großeltern
gefahren. Als rauskam, dass ich drei Tage nicht in der Bedarfsgemeinschaft
war, wollten die hundert Euro von meinem Vater zurück.
Das Schlimmste an meiner Hartz-IV-Geschichte ist aber, wie ich meinen Vater
deswegen gesehen habe. Er war für mich kein Vorbild. Das Bild, das die
Gesellschaft von Arbeitslosen hat, war auch irgendwann mein Bild von ihm.
„Hartzer“ – ich hasse dieses Wort – wurden als biertrinkende Assis
dargestellt, die am Fliesentisch sitzen und RTL schauen. Zu faul und zu
doof, um zu arbeiten. Wenn du dann noch Kevin heißt, bist du doppelt
gestraft.
Nach dem Abitur zog ich in eine eigene Wohnung, [1][bekam Bafög] und
Kindergeld. Klar, das ist auch Kohle vom Staat. Aber es war trotzdem ein
anderes Gefühl. Das Stigma war weg. Nebenbei habe ich gejobbt. Meine
Familiengeschichte habe ich, so gut es ging, verheimlicht. Ich habe dann
Förderschullehramt studiert, das mache ich bis heute. Aber [2][das Studium
hat mich irgendwann überfordert, die Coronapandemie] hat mich endgültig aus
der Bahn geworfen.
Ich glaube, man kann schon sagen, dass bestimmte Strukturen von Armut
vererbt werden können. Es fällt mir zum Beispiel bis heute schwer, Termine
einzuhalten oder pünktlich aufzustehen. Ich habe noch nie Vollzeit
gearbeitet und habe bis heute Angst davor. Ich habe es einfach nie gelernt.
Wegen psychischer Probleme habe ich beschlossen, in eine stationäre
Therapie zu gehen. Ob ich mein Studium beenden werde, weiß ich nicht. Jetzt
mache ich erst mal ein Krankheitssemester – und gehe zurück in Hartz IV.
Anders kann ich meine Wohnung nicht halten, während ich in der Klinik bin.
Mein Bafög ist ausgelaufen.
Die Schikane beginnt direkt wieder. Jeder Zahlungsein- und -ausgang muss
erklärt werden. Ich bekam kürzlich ein Schreiben voller Rechtschreibfehler,
warum ich denn für rund fünf Euro bei einer Tankstelle einkaufen war. Da
bin ich echt wütend geworden. Ich verdiene mir als Alltagshelfer etwas dazu
und hatte mir auf dem Weg zu einem Klienten einen Energydrink geholt.
Vom Bürgergeld erwarte ich, dass solche Einmischungen ins Private
unterlassen werden. Ich finde den Namen übrigens gut! Das hätten sie gleich
so nennen sollen. Wenn ich Gerhard Schröder und Peter Hartz jetzt vor mir
hätte, würde ich ihnen sagen: „Ihr lebt doch in einer anderen Realität.
Euch geht es nur um Zahlen.“ Meine Depressionen, mein geringes
Selbstbewusstsein und meine sozialen Ängste und Probleme, das alles
verdanke ich auch dem Stigma durch Hartz IV. Ich hoffe, dass das Kindern,
die mit Bürgergeld aufwachsen, nicht passiert.
## „Das Riesenproblem ist der Wohnungsmarkt“
Nana Steinke, 40, Anwältin für Sozialrecht in Laatzen bei Hannover
Hartz IV hat meinen Job massiv geprägt. Da tobt das Leben, man kriegt die
Ängste und Nöte der Menschen mit. Das ist belastend, aber auch positiv,
weil mein Anwaltsberuf dadurch einen Sinn bekommt. Ich erfahre eine große
Dankbarkeit, wenn die Leute wissen, wie sie die nächste Rechnung bezahlen
können oder auch einfach mit Respekt behandelt werden. Man muss aber
bereit sein, unglaubliche Mengen an Akten zu bearbeiten und sich auch mal
unkonventionelle Lösungen überlegen.
Das [3][Riesenproblem bei Hartz IV ist der Wohnungsmarkt]. Die Städte und
Gemeinden legen fest, welche Mieten als angemessen gelten. Die Obergrenzen
sind oft nicht nur rechtswidrig, sondern auch zu niedrig. Ich hatte den
Fall einer vierköpfigen Familie, die Mutter war mit dem dritten Kind
schwanger. Der Mann ist selbstständig, [4][er hatte wegen Corona weniger
Aufträge]. Sie wohnten in einer baufälligen Wohnung, in der nur die Küche
und ein Zimmer beheizbar waren. Durch einen Riss in der Wand konnte man
nach draußen sehen. Sie hätten eine andere Wohnung kriegen können, aber die
lag 3,80 Euro über der Angemessenheitsgrenze, das Jobcenter lehnte einen
Umzug ab.
Leute, die sich verkleinern müssen, weil etwa Sohn oder Tochter ausziehen
oder weil es zu einer Trennung kommt, finden keine passende Wohnung. Die
Mieten liegen oftmals 100 bis 150 Euro über dem, was als angemessen gilt.
Viele Leute beißen dann in den sauren Apfel und bezahlen den Teil der
Miete, der vom Jobcenter nicht übernommen wird, aus dem Regelsatz. Man kann
da aber nicht mal eben 100 Euro für die Miete abzweigen, den Regelsatz
braucht man für den Lebensunterhalt. Ich sage den Leuten immer: 50 Euro
sind zu schaffen, aber alles darüber ist dauerhaft nicht zu stemmen.
Dass sich mit Einführung des Bürgergelds an der Wohnfrage viel ändert,
glaube ich nicht. Wenn man neu Bürgergeld beantragt, übernehmen die
Jobcenter nun ein Jahr lang die Wohnkosten in tatsächlicher Höhe. Das hilft
aber den Leuten nicht, die bereits im Hartz-IV-Bezug sind und sich
verkleinern oder vergrößern müssen. Und nach einem Jahr? Müssen sich die
Leute doch eine billigere Wohnung suchen.
Ein weiteres Problem von Hartz IV sind die Qualifikationen, die den
Menschen im Jobcenter angeboten oder verwehrt werden. Ich hatte einen knapp
60-Jährigen, der wollte eine dreimonatige Fortbildung machen für eine
logistische Tätigkeit, er hatte eine Übernahmegarantie. Dem Jobcenter war
die Fortbildung mit 8.000 Euro zu teuer. Dabei hätte der Mann bis zur Rente
einen sicheren Arbeitsplatz gehabt. Aber klar, es geht auch anders: Eine
Sachbearbeiterin sorgte dafür, dass ein junger Mann den Führerschein vom
Jobcenter bezahlt bekam. Den brauchte er für seinen Traumjob, in dem er bis
heute arbeitet.
Auch die Anrechnung von Einkommen auf den Hartz-IV-Bezug ist ein großes
Problem. Es ist in den Köpfen der Menschen so drin: Man bekommt Hartz IV,
und wenn man arbeitet, zieht das Jobcenter einem fast das ganze Einkommen
ab. Die Bürokratie kommt noch dazu, vor allem für Selbstständige ist das
sehr kompliziert.
Die Änderungen, die das Bürgergeld bringt, reichen auch hier nicht aus. Wir
bräuchten ein wirklich faires und nachvollziehbares Stufenmodell zur
Einkommensanrechnung. Und bei der Weiterbildung anstelle von
Standardmaßnahmen mehr Beratung, mehr gezielte Förderung. Das Bürgergeld
eröffnet immer noch zu wenige Möglichkeiten, die Leute voranzubringen und
damit auch dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Mit dem Bürgergeld sind
es immer noch dieselben Ämter, dieselben Sachbearbeiter, die zu viele Fälle
bearbeiten müssen und überlastet sind.
## „Es wird nur aufs Materielle geschaut“
Zarifa Dagher, 29, (Name geändert), Alleinerziehende aus Wilhelmshaven,
Hartz-IV-Empfängerin
Hartz IV hat eine gute Seite: Keiner muss auf der Straße leben. Die
schlechte Seite ist, dass man zu wenig Geld bekommt und dass die im
Jobcenter über das Leben von anderen Menschen bestimmen. Die machen die
Regeln, und läuft es nicht nach deren Nase, kriegt man kein Geld. Das ist
Erpressung.
Ich bin alleinerziehende Mutter. Seit ich meinen Sohn auf die Welt gebracht
habe, muss ich um alles kämpfen. Ich möchte mit meinem Kind etwas
unternehmen, aber habe nicht genug Geld dafür. [5][Man darf bei Hartz IV]
nur 21 Tage im Jahr verreisen, Wochenenden eingerechnet. Die Sommerferien
sind aber allein schon sechs Wochen lang. Fahre ich trotzdem, bekomme ich
eine Sperre. Das ist nicht schön. Ich möchte nicht, dass jemand so über
mein Leben bestimmt.
Ich habe eine Ausbildung [6][zur Konditorin gemacht], aber nicht
abgeschlossen, weil ich schwanger wurde. Mein Sohn kam 2015 zur Welt. Das
hat mein ganzes Leben verändert. Ich weiß nicht, wer der Vater ist. Meine
Familie ist muslimisch. Als sie erfahren haben, dass ich ein uneheliches
Kind bekomme, haben sie mich verstoßen. Ich stand ganz alleine da.
Seitdem beziehe ich Hartz IV. Einmal bin ich mit meinem Sohn für eine Woche
in den Urlaub geflogen. Das Jobcenter hat das mitgekriegt, ich habe eine
Sanktion bekommen. Ich musste das ganze Geld für diese Zeit zurückzahlen,
nur weil ich die Reise nicht gemeldet hatte. Dabei hätte ich dem
Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen müssen, in den ersten drei
Jahren mit Kind muss man das nicht.
Als mein Sohn in einen Kindergarten kam, haben sie [7][mich in eine
Maßnahme gesteckt]. Ich musste ein Jahr lang Bewerbungsschreiben üben und
solche Sachen. Momentan bin ich verpflichtet, jeden Monat drei Bewerbungen
zu verschicken. Ich habe mich bei Arztpraxen beworben, bei einem
Krankenhaus. Aber eine alleinerziehende Mutter in Teilzeit nehmen sie
nicht, das ist ihnen zu riskant. Ich muss ja jederzeit springen, wenn etwas
mit meinem Sohn ist.
Ich würde gern eine Weiterbildung machen im Gesundheitsbereich, ich helfe
Menschen sehr gerne. Wir haben beim Jobcenter danach gesucht, aber alles
beginnt um 7 oder 8 Uhr, das passt nicht mit der Schulzeit zusammen. Mein
Sohn hat von 8.45 Uhr bis 12.45 Uhr Unterricht, vier Stunden. Wie soll ich
da eine Ausbildung machen oder arbeiten?
Wenn sie den Leuten mit dem Bürgergeld wirklich helfen wollten, müssten sie
menschlicher werden und gucken: Wo sind Familien in Not, was brauchen sie?
Ich habe nach sieben Jahren einen Antrag gestellt auf Neuausstattung für
meinen Sohn, weil er jetzt in die Schule geht.
Ein Schreibtisch, ein Schrank, ein Bett – er schläft bisher bei mir. Sie
haben nur das Bett genehmigt mit der Begründung, der Schrank reiche noch,
und mein Sohn könne die Hausaufgaben am Küchentisch machen. Das fand ich
traurig. Da wird nur auf das Materielle geschaut und nicht auf die
Menschen.
## „Es ist ein Kampf, nicht in ein Loch zu fallen“
Susanne Rückert* (Name geändert), 40, gelernte Erzieherin aus Gießen,
Hartz-IV-Empfängerin:
Wer Hartz IV bezieht, wird gleich in eine Schublade gesteckt: Arbeitslose
sind faul, sie tun nichts für die Gesellschaft. Deshalb will ich auch
meinen echten Namen nicht öffentlich nennen. Ich denke ja selbst öfters,
ich müsste mehr leisten. Ich möchte arbeiten. Aber ich kann gesundheitlich
nicht immer so, wie ich will.
Meine Mutter hatte Multiple Sklerose. Ich musste mich als Kind um sie
kümmern, mein Vater hat sie auch gepflegt, aber er hat auch viel
gearbeitet. Ich habe meiner Mutter geholfen, wenn sie den Rollstuhl
gewechselt hat, ich bin nachts aufgestanden, mit 10 habe ich die
Intimpflege übernommen. Ich bin nachts öfters in Panik aufgewacht, weil ich
dachte, sie stirbt. Ich habe viele Jahre sehr viel geleistet, aber das sah
man von außen nicht.
Ich habe eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, arbeitete in einer
Grundschule, dann in einem Kindergarten. Ab 2008 habe ich Soziale Arbeit
studiert. Ich stand kurz vor dem Abschluss, da wurde mein Vater krank. Dann
starb meine Mutter. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, es
ging gar nichts mehr. Die Ärzte diagnostizierten eine posttraumatische
Belastungsstörung und eine Angststörung. Zunächst hat mein damaliger Mann
mich noch unterstützt. 2014 haben wir uns getrennt.
Ich bin dankbar, dass es das soziale Netz gibt und ich nicht einfach auf
der Straße stand. Ich bekam eine Erwerbsminderungsrente und lebte mehrere
Jahre im Betreuten Wohnen. Seit anderthalb Jahren geht es mir besser, ich
lebe wieder in einer eigenen Wohnung und beziehe Hartz IV. Viele machen
andere Erfahrungen, aber bei mir sind die Mitarbeiterinnen im Jobcenter
sensibel, sie gehen auf meine Situation ein.
Ich kann nicht mehr als Erzieherin arbeiten. Mich um andere Menschen zu
kümmern, das triggert zu viel bei mir, da kriege ich Flashbacks. Ich habe
außerdem Schmerzen in den Knochen, die sich die Ärzte bislang auch nicht
erklären können.
Ich will einen Job haben, zumindest für mehrere Stunden am Tag. Ich habe
mal in einem Baumarkt gearbeitet. Vielleicht mache ich auch noch mein
Studium zu Ende?
Eine Tagesstruktur ist wichtig. Zurzeit bin ich in einer Maßnahme, 4
Stunden am Tag kümmere ich mich bei der Arbeitsloseninitiative Gießen um
die Computer und um die Publikationen. Ich komme mit Menschen ins Gespräch,
das gibt mir Energie. An den Wochenenden fehlt mir diese Struktur, ich lebe
alleine. Es ist ein Kampf, nicht in ein Loch zu fallen.
Wenn jetzt das Bürgergeld kommt, wird der Regelsatz höher, ansonsten
verändert sich für mich nichts. Bürgergeld klingt vielleicht besser. Aber
es gab ja gleich die öffentliche Diskussion, dass man es sich damit auf
Kosten der Gesellschaft gut gehen lassen könne. Ich fürchte, die Leute
haben beim Bürgergeld wieder dieselben Vorurteile wie bei Hartz IV.
## „Das Personal reicht hinten und vorne nicht“
Matthias Horsthemke-Späth, 54, Mitglied der bundesweiten Arbeitsgruppe der
Personalräte der Jobcenter, Berlin
Ich blicke mit gemischten Gefühlen auf Hartz IV. Ich bin stolz darauf, dass
wir das in den Jobcentern 18 Jahre lang mit viel Schweiß und Tränen gewuppt
haben. Aber in der Öffentlichkeit waren wir oft die Bösen, die die Leute
drangsalieren. Dabei haben wir maßgeblich zum sozialen Frieden beigetragen.
Bei den Leistungsbeziehern gab es seit der Einführung des Arbeitslosengelds
II eine hohe Unzufriedenheit. Ich habe in der Arbeitsverwaltung in
Westberlin gelernt, da ging es auch rustikal zur Sache, aber so wie in den
Jobcentern habe ich es dort nie erlebt. Wir haben tagtäglich mit
Anfeindungen zu tun. Der Frust ist zwar nachvollziehbar, aber wir sind
dafür der falsche Adressat. Die Gesetze haben andere gemacht, wir setzen
sie nur um.
Ich bin seit fast vier Jahrzehnten [8][bei der Bundesagentur für Arbeit]
und seit der Einführung 2005 im Jobcenter. Das war damals vollkommen
chaotisch. Wir waren überfordert, es fehlten die Strukturen. Es hat länger
gedauert, aber dann haben wir doch eine moderne Behördenstruktur entwickelt
und die Sache ins Laufen gebracht. Wobei die ganzen Jahre über das Personal
knapp war und die Arbeit immer wieder überfordernd.
Wir haben im Jobcenter mit dem harten Kern der Arbeitslosen zu tun, mit
schwierigen Schicksalen. Da machen wir über Monate, manchmal Jahre
Sozialarbeit, um die Menschen überhaupt wieder in die Nähe des
Arbeitsmarkts zu bringen.
Obwohl es viele offene Stellen gibt, findet eine gewisse Zahl an Klienten
keinen Zugang. Ob die Instrumente von Hartz IV die richtigen waren?
Anscheinend nicht. Es gibt Statistiken, wonach mit den Sanktionen wenig
bewegt wurde. Deshalb will man ja jetzt auch ein Stück weg vom behördlichen
Zwang hin zu mehr Kooperation auf Augenhöhe.
Dass es mehr Weiterbildung geben soll, ist ein großer Vorteil des
Bürgergelds. Theoretisch. Praktisch wird das schwierig, weil wir in den
Jobcentern Personal abbauen mussten. Bei Jugendlichen haben wir einen
Betreuungsschlüssel von 1 zu 75, bei den Erwachsenen 1 zu 150 –
theoretische Werte im Gesetz, die in der Praxis oft mehr als doppelt so
hoch ausfallen, weil einfach Leute fehlen. Das reicht hinten und vorne
nicht. Wir haben für mehr Weiterbildungen auch viel zu wenige finanzielle
Mittel.
Ich denke, wir werden in den nächsten Monaten viele neue Kunden bekommen.
Das Schonvermögen wird mit dem Bürgergeld erhöht, mehr Menschen haben
Ansprüche auf Leistungen.
Neben der Einführung des Bürgergelds gibt es auch sogenannte Sondereffekte:
Wegen der hohen Energiekosten wird es Leute geben, die aufstocken müssen.
Wenn die [9][Infrastruktur in der Ukraine weiter zerschossen wird], werden
auch mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in die Jobcenter kommen. Ein großer
Andrang verlängert die Bearbeitungsdauer, das sorgt dann wieder für Frust.
Ob das Bürgergeld ähnlich stigmatisierend sein wird wie Hartz IV, weiß ich
nicht. Wenn die Kritiker der Reform jetzt von Hartz V sprechen statt vom
Bürgergeld, verlängern sie dieses Stigma. Auch die politische Diskussion
und die Hetze hat den eigentlich guten Ansatz des Bürgergelds schon im
Vorfeld beschädigt.
## „Ich lasse mich nicht unterkriegen“
Heike Towae, 52, Sozialarbeiterin und Köchin, chronisch krank, lebt von
Grundsicherung
Der Tag, an dem ich in die Armut abgerutscht bin, war der Tag, an dem sich
mein gesundheitlicher Zustand stark verschlechtert hat. Bei vielen Menschen
hängt das zusammen: Armut und Gesundheit.
Es war 2014. Ich habe damals als Köchin gearbeitet. Ein ganz normaler
Arbeitstag. Auf einmal kipp ich um und winde mich auf dem Küchenboden.
Epileptischer Anfall. Die Ärzte haben gesagt, ich hatte wohl einen
Hirnschlag. Von einem Tag auf den anderen war ich Epileptikerin. Kurz
darauf Frührentnerin, mit Mitte 40.
Ich lebe von Grundsicherung. Das heißt: Weil meine Rente so niedrig ist,
muss sie auf Hartz-IV-Niveau aufgestockt werden – für ein „menschenwürdig…
Existenzminimum“. [10][449 Euro stehen einer alleinstehenden Person zu].
Ich komme aus einer Mittelstandsfamilie. Nach meinem Schulabschluss habe
ich Soziale Arbeit studiert, danach in der soziokulturellen Projektarbeit
mit Frauen gearbeitet. Das war toll, aber viel verdient hat man nicht. Weil
ich schon immer gern gekocht habe, habe ich nebenher in der Gastro gejobbt
und schließlich noch eine Ausbildung als Köchin gemacht. Soziale Arbeit und
Kochen konnte ich sogar verbinden, indem ich Kochkurse für
Hartz-IV-Betroffene anbot.
Und auf einmal war alles vorbei. Meine Rücklagen waren schnell
aufgebraucht. Dass du arm bist, merkst du, wenn deine Schuhe kaputtgehen
und du dir keine neuen leisten kannst. Bei Hartz IV wurden zudem immer mehr
Mehrbedarfe für chronische Erkrankungen gestrichen. Es gab Situationen, da
hatte ich kein Geld für meine lebenswichtigen Medikamente und musste mir
bei Freunden etwas leihen.
Unterkriegen lasse ich mich aber nicht. Ich habe einen tollen Freundeskreis
und viele kostengünstige Hobbys. Zusammen mit anderen Betroffenen
[11][kläre ich unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen] auf und kämpfe
gegen Vorurteile. Ich spare gerade für einen Bretagne-Urlaub. Im Sommer war
ich auch mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs. Ich hatte viele Möglichkeiten
auszusteigen, falls sich ein Anfall ankündigt.
Für Menschen mit Grundsicherung ändert sich durch das Bürgergeld bis auf
den Inflationsausgleich nichts. Für Hartz-IV-Empfänger gibt es einige
Verbesserungen, zum Beispiel das Schonvermögen. Aber das wäre bei mir ja
sowieso schon weg gewesen. Für mich ist das Bürgergeld eher ein
Bürgerhartz. [12][Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert einen
Regelsatz von mindestens 725 Euro]. Derweil kürzt die Politik irgendwelche
Posten, um auf ihre Wunschsumme von 502 Euro zu kommen.
Ich bin maximal enttäuscht von der Reform. Nur wer jetzt neu in Hartz IV
kommt, hat minimale Vorteile. Jugendliche dürfen mehr von ihrem Lohn
behalten, aber auch nicht alles. Und das wird auch so bleiben, bis es keine
Kindergrundsicherung gibt.
## „Es ändert sich nur der Name“
Katrin Heck, 34, (Name geändert), ausgebildete Fachkraft für Gastronomie in
Gießen, Hartz-IV-Empfängerin
Wenn im Januar das Bürgergeld eingeführt wird, bekomme ich 502 Euro pro
Monat zum Leben. Das ist lächerlich. Jetzt, wo alles teurer wird, muss ich
entscheiden, was ich kaufe, was ich weglasse. Butter ist zu teuer.
Stattdessen habe ich länger Margarine und Frischkäse genommen, aber das ist
jetzt auch zu teuer. Wurst kaufe ich gar nicht mehr. Ich esse Brot mit
Käse.
Ins Kino gehe ich nicht mehr, ich warte, bis die Filme im Fernsehen laufen.
Ich lese viel. Die [13][Bücher hole ich aus einer alten Telefonzelle], wo
gebrauchte Sachen getauscht werden. Oder ich leihe sie bei meiner Mutter
oder meinem Opa.
700 Euro müssten es schon sein, aber das ist zu viel für uns, sagen die
Politiker, dann würden wir nicht mehr arbeiten. Ich glaube, die reden gar
nicht mit uns. Ich würde ihnen sagen: Wir wollen arbeiten.
Ich habe eine Ausbildung als Fachkraft für Gastgewerbe gemacht. Ich hatte
kurz eine Anstellung, aber als dort alles umstrukturiert wurde, habe ich
das aufgegeben. Seit 2018 suche ich einen Job. Es gibt offene Stellen, aber
die Betriebe wollen nur Leute mit Erfahrung, die Ausbildung zählt da nicht.
Sobald sie sehen, dass jemand schon längere Zeit arbeitssuchend ist, denken
sie, das wird nichts, die ist faul, die hat eh keinen Bock zu arbeiten. Man
bekommt keine Chance.
Beim Jobcenter habe ich [14][eine Fallmanagerin], über die kann ich nichts
Schlechtes sagen. Wenn es offene Stellen gibt, weist sie mich darauf hin.
Sie weiß, dass ich nur in Gießen arbeiten kann, weil ich mit Öffentlichen
fahre. Ich muss nachweisen, dass ich jeden Monat vier Bewerbungen schreibe,
das mache ich auch. Die meisten antworten nicht mal, oder man kriegt eine
Absage.
Im Moment bin ich in einer Maßnahme. Ich verkaufe in einer Bude auf dem
Weihnachtsmarkt selbstgemachte Vogelhäuser und Mützen. Wir haben ein
Kochbuch zusammengestellt, das kann man da auch kaufen. Auf dem
Weihnachtsmarkt kostet ein Glühwein 4,50 Euro plus 2 Euro Pfand. Da gehe
ich privat gar nicht erst hin. Die Politiker sollten auch mal versuchen,
mit dem Regelsatz zu leben. Die wissen gar nicht, was das bedeutet.
Ich bitte meine Familie ungern um Geld. Vor einer Woche musste ich meine
Mutter fragen, ob sie mir etwas leihen kann, ich hatte nicht mehr genug im
Kühlschrank. Das ist schlimm für mich.
Mit dem Bürgergeld ändert sich nur der Name. Auch wenn das Ding jetzt
anders heißt, es ist immer noch das gleiche.
## „Hoher Stellenwert des Sozialrechts“
Marcus Howe, 54, Richter am Sozialgericht Berlin
Für unser Gericht kann man wirklich sagen: Es gab eine Zeit vor der
Einführung von Hartz IV und eine Zeit danach. Vorher kannte unser Haus kaum
einer, und auf einmal berichtete sogar die „Tagesschau“ über uns. Die
Aktenberge, die sich bei uns türmten, waren für viele wie ein Sinnbild für
das, was schiefläuft.
Tatsächlich ist die Zahl der Fälle explodiert: Im ersten Jahr, 2005, gingen
5.000 Hartz-IV-Fälle ein, fünf Jahre später waren es schon 30.000 neue
Verfahren – pro Jahr. Für einige Zeit hatten wir nicht mal genügend
Aktendeckel, um all die Klagen abzuheften.
Mittlerweile hat sich die Lage beruhigt. Das Gesetz wurde nachgebessert,
die Gerichte haben viele offene Rechtsfragen geklärt.
Dafür sind die Streitigkeiten komplizierter geworden. Manchmal wünschte
ich, ich hätte eine Buchhalterausbildung. Wenn ich zum Beispiel die
Bilanzen eines kleinen Gebrauchtwagenhändlers prüfen soll, der ergänzend
Leistungen vom Jobcenter bekommt, da brütet man über zwei Ordnern voller
schief kopierter Quittungen und verflucht das Gesetz: Warum kann man nicht
einfach die Angaben im Steuerbescheid zugrunde legen? Aber das war dem
Gesetzgeber nicht genau genug.
[15][Das Bürgergeld] ist zwar ein neuer Name für die Grundsicherung. Aber
es ist ein Änderungsgesetz und kein völlig neues Gesetz. Man kann also
nicht sagen: Hartz IV ist vorbei, und jetzt kommt was völlig Neues.
Viele Probleme von gestern und heute, die werden wir auch morgen noch
haben. Zum Beispiel alles, was Unterkunftskosten betrifft, es steht ja
weiterhin im Gesetz, nur „angemessene Unterkunftskosten“ werden nach einer
Karenzzeit übernommen. Wir haben häufiger den Fall, dass ein Kläger, dessen
Miete nicht voll übernommen wird, sagt: „Die Berechnung des Jobcenters ist
nicht nachvollziehbar, schauen Sie mal, wie die Mieten gestiegen sind.“
Da muss das Gericht dann prüfen, ob die Rechenmethode des Jobcenters
überzeugt und ob es überhaupt freien Wohnraum in dieser Preislage gibt. Es
spielen oft auch die konkreten Umstände eine Rolle.
Wenn etwa eine Klägerin sagt: „Meine Kinder sind in dieser Gegend
eingelebt, meine Mutter wohnt um die Ecke, ich kann jetzt nicht woanders
hinziehen“ – dann muss das Gericht prüfen, wie stichhaltig das ist.
Menschen, die bei uns klagen, haben ganz unterschiedliche Gründe. Kürzlich
habe ich einen Fall gehabt, wo der Mann sagte, er habe einen
[16][Jobcenter-Termin] nicht wahrgenommen, weil er Gedächtnisstörungen
hatte. Dann müssen Sie ermitteln, Sie fragen den Arzt, der sagt: Ja, der
Mann nimmt Medikamente, das kann sein mit den Gedächtnisstörungen. Sie
lassen die Arztberichte kommen und so weiter.
Was mich immer beeindruckt, ist, mit welchem Aufwand wir die Prozesse
bearbeiten. In meiner letzten Sitzung ging es in keinem der Fälle um mehr
als 160 Euro. Trotzdem saßen da den ganzen Vormittag ein Berufsrichter,
zwei ehrenamtliche Richter, eine Behördenvertreterin und für jeden Kläger
ein Rechtsanwalt, der Prozesskostenhilfe bekommt. Das zeigt, finde ich,
ganz gut, welch hohen Stellenwert das Sozialrecht in unserem Land hat.
Wenn die Jobcenter Leistungen großzügiger gewähren oder noch genauer
abwägen, ob eine Sanktion wirklich angebracht ist, erspart das natürlich
Streit. Das haben wir in der Coronapandemie gesehen, wo viele soziale
Härten abgefedert wurden. Manches wird mit dem Bürgergeld hoffentlich
einfacher, beispielsweise gibt es keine Rückforderungen von
Bagatellbeträgen mehr.
Aber die Erfahrung zeigt auch: Jedes neue Gesetz wirft neue Fragen auf. Und
die landen früher oder später bei uns.
16 Dec 2022
## LINKS
[1] /50-Jahre-BAfoeG/!5766157
[2] /Studieren-in-der-Pandemie/!5758585
[3] /Diskriminierung-auf-dem-Wohnungsmarkt/!5105759
[4] /Folgen-durch-Corona-fuer-Selbststaendige/!5668983
[5] /Hartz-IV-Sanktionen/!5852281
[6] /Konditorin-ueber-Kuchen-und-Torten/!5808579
[7] /Ampel-kippt-Hartz-IV-Sanktionen/!5855948
[8] /Neue-Chefin-der-Agentur-fuer-Arbeit/!5832006
[9] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5902685
[10] /Hartz-IV-Nachfolger/!5877953
[11] /Einer-von-138-Millionen-Betroffenen/!5886792
[12] https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/buergergeld-zu-niedrig-par…
[13] /Lesen/!5134317
[14] /Ehemaliger-Fallmanager-ueber-Hartz-IV/!5751788
[15] /Buergergeld-im-Bundestag-beschlossen/!5894957
[16] /Ein-Tag-am-Jobcenter-Neukoelln/!5805738
## AUTOREN
Antje Lang-Lendorff
Barbara Dribbusch
Jannis Holl
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
IG
Hartz IV
GNS
Jobcenter
Bürgergeld
Schleswig-Holstein
Bürgergeld
Schwerpunkt Armut
Kindergrundsicherung
wochentaz
Christian Lindner
Schwerpunkt Armut
Sozialstaatsreform
Hubertus Heil
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schleswig-Holstein konzentriert Gerichte: Der weite Weg zur Gerechtigkeit
Schleswig-Holsteins Landesregierung will Gerichte an wenigen Standorten
zusammenfassen. Opposition und Verbände fühlen sich überrumpelt.
Bürgergeld und Wohnkosten: Jeder achte Haushalt zahlt drauf
Bei 320.000 Haushalten mit Anspruch auf Bürgergeld bezahlen Jobcenter die
Unterkunft nicht in voller Höhe.
Nachruf auf Andreas Ehrholdt: Gesicht der Proteste gegen Hartz IV
2004 initiierte er in Magdeburg Proteste gegen die Hartz-Gesetze, danach
geriet er schnell in Vergessenheit. Am 25. Mai ist Andreas Ehrholdt
verstorben.
Eckpunkte für Kindergrundsicherung: Streit ums Geld deutet sich an
Noch ist unklar, wie viel die geplante Kindergrundsicherung kosten wird.
Das Finanzministerium geht schon mal in Abwehrhaltung.
Neue Gesetze im neuen Jahr: Was ändert sich 2023?
Bürgergeld, Steuerfreibeträge, Midijobs, Gaspreisbremse – das sind viele
Erleichterungen, aber die Inflation bleibt belastend.
Sozialverbände kritisieren Lindner: „Ein besonders bitteres Fest“
Finanzminister Lindner erteilt weiteren Entlastungspaketen eine Absage.
Sozialverbände kritisieren, die bisherigen Hilfen seien nicht zielgenau.
Unterstützung für Tafeln: Gefahr der Vereinnahmung
Immer mehr Tafeln werden öffentlich gefördert. Tafelvertreter:innen
und Politik warnen vor falschen Signalen.
Bürgergeld im Bundestag beschlossen: Mehr als ein neuer Name
Wie wirkt sich das Bürgergeld aus? Dazu gibt es Vorurteile, Fakten und
Erfahrungen aus dem Hartz-IV-System.
Abstimmung in Bundestag und Bundesrat: Freie Bahn fürs Bürgergeld
Das Bürgergeld kommt zum 1. Januar 2023. Bundestag und Bundesrat stimmten
dem im Vermittlungsausschuss vereinbarten Kompromiss zu.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.