# taz.de -- Bürgergeld im Bundestag beschlossen: Mehr als ein neuer Name | |
> Wie wirkt sich das Bürgergeld aus? Dazu gibt es Vorurteile, Fakten und | |
> Erfahrungen aus dem Hartz-IV-System. | |
Bild: Lohnt sich diese Arbeit in Zukunft noch? | |
Bundestag und Bundesrat haben am Freitag das Bürgergeld beschlossen. Es | |
kommt zum 1. Januar. Was sind die gravierendsten finanziellen Änderungen | |
für die Betroffenen? | |
Der monatliche Regelsatz etwa für einen Alleinstehenden steigt um 53 Euro | |
auf 502 Euro. Die Erhöhung der Regelsätze soll sich künftig schneller an | |
der Inflation orientieren. Außerdem wird bei Erwerbstätigen, die | |
aufstockend Bürgergeldleistungen beziehen, vom Verdienst weniger auf die | |
Sozialleistung angerechnet. Jüngere Menschen in Ausbildung, die in einem | |
Haushalt leben, der Hartz IV bezieht, dürfen von ihrem Verdienst 520 Euro | |
komplett behalten. | |
Was bedeutet die Erhöhung des Bürgergelds für den Lohnabstand zwischen | |
Leistungsempfänger:innen und Arbeitnehmer:innen? | |
Wer arbeitet, hat wegen der Freibeträge, gegebenenfalls auch wegen des | |
Kinderzuschlags und des Wohngelds, immer mehr Geld zur Verfügung als | |
jemand, der nicht arbeitet. Wer als Alleinstehender zum Mindestlohn 25 | |
Stunden in der Woche arbeitet, auch ohne Wohngeldbezug, verfügt wegen der | |
Freibeträge mindestens über 364 Euro mehr im Monat als jemand, der nur vom | |
Bürgergeld lebt. Ein Problem entsteht, wenn Leistungsempfänger:innen | |
das Bürgergeld als gegeben hinnehmen und sagen: Für nur 364 Euro mehr im | |
Monat ackere ich nicht. Diese Haltung betrifft aber nur wenige Fälle. | |
[1][Forschungen] des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) | |
in Nürnberg zeigen, dass die meisten Empfänger:innen vor ganz anderen | |
Hindernissen stehen, um in Arbeit zu kommen. | |
Woran liegt es, dass einerseits viele Menschen arbeitslos sind, aber es | |
gleichzeitig viele freie Stellen gibt? | |
Mehr als die Hälfte der Leistungsempfänger:innen sind gar nicht | |
arbeitslos gemeldet, nämlich weil sie in Maßnahmen der Jobcenter stecken, | |
bereits arbeiten und aufstocken, ihre kleinen Kinder betreuen, krank sind | |
oder anderes, sagt der [2][Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit]. Von | |
den 42 Prozent arbeitslos gemeldeten Leistungsempfänger:innen | |
wiederum haben viele sogenannte Vermittlungshemmnisse. Das betrifft nicht | |
nur Menschen mit fehlender Qualifikation. Laut der IAB-Forschung und der | |
Erkenntnisse der Jobcenter sind viele zum Beispiel körperlich eingeschränkt | |
oder haben psychische Probleme. Andere können als Alleinerziehende wegen | |
der Kinder keine Schichtarbeit machen, sprechen zu wenig Deutsch oder | |
wohnen abgelegen ohne Führerschein und Auto. Viele Leute können daher nicht | |
mal eben einen existenzsichernden Hilfsjob in der Pflege oder in der | |
Gastronomie annehmen und den durchhalten. | |
Mit dem Bürgergeld soll Aus- und Weiterbildung gefördert werden. Müsste das | |
nicht helfen? | |
Das Bürgergeld schafft den Vorrang der Vermittlung in Arbeit ab. Wer von | |
den Langzeitarbeitslosen eine Aus- oder Weiterbildung machen will, hat es | |
leichter, diese vom Jobcenter bewilligt zu bekommen. Das ist gut, die | |
Vermittlungshemmnisse aber bleiben. Die Forschung des IAB-Instituts zeigt, | |
dass zum Beispiel fehlende Kinderbetreuung oder gesundheitliche | |
Einschränkungen größere Hindernisse sind als ein fehlender Abschluss. Es | |
müssen also mehrere Bedingungen gegeben sein, dass | |
Bürgergeldempfänger:innen dauerhaft in Arbeit kommen. | |
Wer zum ersten Mal Bürgergeld bezieht, bekommt ein Jahr lang die Wohnung | |
finanziert, auch wenn sie teurer ist. Ein Vermögen von 40.000 Euro für | |
einen Alleinstehenden wird in dieser Zeit nicht angerechnet. Hat das in der | |
Praxis eine Bedeutung? | |
Schon seit der Coronapandemie sind höhere Schonvermögen und höhere | |
Wohnkosten für Hartz-IV-Antragsteller gestattet, und die Zahl der | |
Leistungsempfänger:innen ist in dieser Zeit nicht erheblich | |
gestiegen. Die großzügigere Wohnungskostenübernahme ist zwar wichtig, um | |
Neuantragsteller:innen Ängste zu nehmen, betrifft aber die Mehrheit | |
von ihnen nicht. Zwei Drittel der Hartz-IV-Empfänger:innen sind schon | |
mindestens zwei Jahre in der Sozialleistung. Fast [3][jede:r sechste | |
Leistungsempfänger:in] zahlt derzeit einen Teil der Miete aus dem | |
Regelsatz, weil das Jobcenter die Miete wegen fehlender Angemessenheit | |
nicht voll übernimmt. Dieses Problem der sogenannten Wohnkostenlücke wurde | |
mit dem Bürgergeldgesetz leider nicht angegangen. | |
25 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://doku.iab.de/kurzber/2016/kb2116.pdf | |
[2] https://www.arbeitsagentur.de/datei/arbeitsmarktbericht-oktober-2022_ba1477… | |
[3] https://www.hartziv.org/news/20220811-wohnkosten-so-viel-muessen-hartz-iv-h… | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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