| # taz.de -- Kompromiss beim Bürgergeld: Bürgergeld light oder Hartz V? | |
| > Besonders die Ampel ging weit auf die Union zu. Betont aber den Kern des | |
| > Bürgergeldes erhalten zu haben. Stimmt das? | |
| Bild: Ab Januar können Bürgergeldbezieher:innen mit 53 Euro mehr rechnen. Imm… | |
| Berlin taz | Das war knapp. Rechtzeitig zum ersten offiziellen Treffen des | |
| Vermittlungsausschusses am Mittwoch und zwei Tage vor der Bundesratssitzung | |
| am Freitag haben Ampel und Union den Weg fürs Bürgergeld frei gemacht. Auf | |
| informeller Ebene war in den letzten Tagen viel und hart über den | |
| Hartz-IV-Nachfolger verhandelt worden. [1][Die Union hatte das Bürgergeld | |
| zuvor im Bundesrat blockiert], die Regierung den Vermittlungsausschuss | |
| angerufen. | |
| Beim Endspurt wollte die Ampel der Union aber nicht den Vortritt lassen. Um | |
| 12 Uhr hatte die Union am Dienstag zum Pressestatement geladen, eine | |
| Viertelstunde zuvor bezogen die Ampelunterhändler:innen – die | |
| Parlamentarische Geschäfsführerin der SPD, Katja Mast, | |
| Grünenfraktionschefin Britta Haßelmann und FDP-Vize Johannes Vogel – links | |
| neben dem Unionsaufsteller vor der eigenen Medienwand Position. Tenor: Man | |
| sei auf die Union zugegangen, ohne den Kern des Bürgergelds preiszugeben. | |
| Die Union musste sich gedulden. Erst nachdem Vogel, Haßelmann und Mast das | |
| Feld geräumt hatten, konterte Friedrich Merz mit exakt der gegenteiligen | |
| Botschaft. Bürgergeld stehe zwar noch drauf, „aber es wird dem Inhalt nach | |
| nicht mehr das Bürgergeld sein, das die Koalition ursprünglich geplant | |
| hatte“. | |
| Die Union erschien im Quartett. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt | |
| sowie die beiden Verhandler der Bundestagsfraktion, Hermann Gröhe (CDU) und | |
| Stephan Stracke (CSU), ließen keinen Zweifel daran, den Sieg davon getragen | |
| zu haben. | |
| ## Entkernt oder kernsaniert? | |
| Wer hat sich also durchgesetzt, kommt das Bürgergeld nun entkernt oder | |
| kernsaniert? Das hängt wohl davon ab, ob man sich auf der Fraktionsebene | |
| eher links oder rechts verortet. Auch die forsche Vordrängelei des | |
| Ampeltrios konnte aber nicht verwischen, dass es der Union in den | |
| Vorgesprächen sehr entgegengekommen ist. „Zu meiner Überraschung sehr | |
| weitgehend“, bemerkte Merz. Das saß. | |
| In der Tat gab die Ampel in allen drei von der Union kritisierten Punkten | |
| großzügig nach: 1. Die sogenannte Karenzzeit, in der | |
| Bürgergeldbeziehende weder Rücklagen aufbrauchen noch umziehen oder | |
| einen Teil der Miete zahlen müssen, soll halbiert werden. Für Menschen, die | |
| neu Bürgergeld beantragen, übernehmen die Jobcenter ein Jahr lang Miete | |
| oder Wohnungsrate in unbegrenzter Höhe. Die Ampel wollte den Menschen zwei | |
| Jahre Zeit geben, ohne Druck einen neuen Job zu finden. | |
| 2. Ein Schonvermögen von 40.000 Euro plus 15.000 Euro für jedes weitere | |
| Haushaltsmitglied muss in dieser Zeit nicht aufgebraucht werden. Die Ampel | |
| hatte die geltende Regel verlängern wollen, wonach Vermögen in Höhe von | |
| 60.000 Euro plus 30.000 Euro pro Mitbewohner:in geschützt ist. | |
| 3. Sanktionen, also eine Kürzung des Bürgergeldes, wenn Termine versäumt | |
| oder Maßnahmen geschmissen werden, können von Anfang an verhängt werden. | |
| Die Ampel wollte eine sechsmonatige Vertrauenszeit einführen, in der man | |
| kaum Sanktionen zu fürchten brauchte. Die soll gestrichen werden. So steht | |
| es auch in einem Beschlussvorschlag des Bundesarbeitsministeriums an die 32 | |
| offiziellen Vermittler:innen von Bundesrat und Bundestag, der der taz | |
| vorliegt. | |
| ## Sanktionen? Gehen schon in Ordnung. | |
| Mast, Haßelmann und Vogel bemühten sich, diese Zugeständnisse | |
| herunterzuspielen. „Auch das Bürgergeld war zu jedem Zeitpunkt darauf | |
| angelegt, auch Sanktionen zu ermöglichen“, sagte Mast. Das stimmt, Mast | |
| selbst hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie Sanktionen für notwendig | |
| hält. Auch in Teilen der SPD stieß deren Lockerung auf Unverständnis. Laut | |
| „ZDF-Politbarometer“ vom 11. November fand mehr als zwei Drittel der | |
| Befragten, dass das Bürgergeld zu wenig Anreize biete, einen Job zu suchen. | |
| Das sind nicht nur Unionswähler:innen. | |
| Selbst linke Genoss:innen können daher mit dem Kompromiss leben. „97 | |
| Prozent der bisherigen Bezieher:innen kommen gar nicht in Berührung mit | |
| dieser Drohkulisse“, meint die SPD-Abgeordnete Annika Klose gegenüber der | |
| taz. Das Bürgergeld bleibe ein großer Fortschritt, sie rechne fest mit der | |
| Zustimmung in Bundesrat und Bundestag. | |
| Doch die Grünen schmerzt die Streichung der Vertrauenszeit sehr. Haßelmann | |
| betonte zwar, dass es beim Bürgergeld weiterhin um Unterstützung, | |
| Befähigung und Empathie gehe. Allerdings schaute sie dabei ziemlich | |
| enttäuscht drein. Mit der Fuchtel der Sanktionen zu wedeln, passt eben | |
| schlecht zu einem empathischen Auftreten. | |
| Die Ampel bemüht sich nun, andere Aspekte des Bürgergelds in den | |
| Vordergrund zu stellen. Der Vermittlungsvorrang wird wegfallen, Arbeitslose | |
| müssen nicht mehr jeden angebotenen Job annehmen. Sie sollen sich | |
| stattdessen mit den Jobcentern auf einen Kooperationsplan einigen, | |
| Augenhöhe statt Dekret also. Die Zuverdienstgrenzen für Menschen, die | |
| niedrige Löhne mit Bürgergeld aufstocken, werden erhöht. Vor allem | |
| Schüler:innen, Studierende und Azubis können deutlich mehr Geld | |
| dazuverdienen. | |
| ## Gutgelaunte FDP | |
| Ein Punkt, der besonders der FDP wichtig war. „Mit dem Bürgergeld schaffen | |
| wir mehr Leistungsgerechtigkeit und mehr Aufstiegschancen unabhängig von | |
| der Herkunft“, sagte FDP-Vize Vogel unter der Reichstagskuppel. Er war | |
| sichtlich besser gelaunt als seine grüne Vorrednerin. Kein Wunder. Beim | |
| Thema Vertrauenszeit und Sanktionen sehen sich die Liberalen bestärkt. Noch | |
| am Montag hatte FDP-Generalsekretär, Bijan Djir-Sarai, SPD und Grüne | |
| aufgefordert, die Vertrauenszeit fallen zu lassen. | |
| Das sei irritierend gewesen, heißt es bei den Grünen, doch selbst hinter | |
| den Kulissen lassen diese kaum ein böses Wort auf die FDP kommen. Die Ampel | |
| habe gestanden wie eine Eins, auch die FDP habe die gesamte Breite | |
| verteidigt, heißt es aus der Fraktion. Der Kampf ums Bürgergeld hat die | |
| zerstrittene Ampel wieder zusammengeschweißt, immerhin ein positiver | |
| Nebeneffekt. | |
| Vernehmliche Kritik kommt nun vor allem noch von links, nämlich aus der | |
| Linkspartei. „Die Reform fällt aus“, meinte Linken-Chefin Janine Wissler. | |
| Außer einer dringend überfälligen und viel zu niedrigen Erhöhung des | |
| Regelsatzes um 53 Euro bleibe im Wesentlichen alles beim Alten. | |
| Fraktionschef Dietmar Bartsch hatte zu Wochenbeginn gedroht, seine Partei | |
| werde das Bürgergeld im Bundesrat ablehnen, falls die Ampel zu große | |
| Zugeständnisse mache. | |
| Wie sich die vier von den Linken mitregierten Länder Bremen, Berlin, | |
| Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern im Bundesrat verhalten, wird eine | |
| interessante Frage. Aber keine, die sich spielentscheidend auf die | |
| Mehrheitsverhältnisse in der Länderkammer auswirkt, wenn die Union nun im | |
| Boot ist. Die von der Union mitregierten Länder haben dort eine Mehrheit | |
| von 39 Stimmen. | |
| Die Vermittler:innen aus Bundesrat und Bundestag treffen sich am | |
| Mittwochabend, man rechne noch am selben Abend mit einem Ergebnis, so Mast. | |
| Auch Unionschef Merz geht von einer Zustimmung aus. Wenn Bundesrat und | |
| Bundestag die Reform am Freitag beschließen, kann das Bürgergeld am 1. | |
| Januar kommen, inklusive höherer Regelsätze. Dann hätte die Ampel zumindest | |
| beim Termin Wort gehalten. | |
| 22 Nov 2022 | |
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| [1] /Buergergeld-scheitert-im-Bundesrat/!5892132 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| Sabine am Orde | |
| Jasmin Kalarickal | |
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