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# taz.de -- Grüne Landesministerin über die Union: „Mich gruselt es“
> Die CDU-Stimmungsmache beim Einbürgerungsrecht sei schäbig, sagt Aminata
> Touré. Trotz grüner Zugeständnisse stellt sie der Ampel ein gutes Zeugnis
> aus.
Bild: Im Kieler Landtag: Aminata Touré ist die erste afrodeutsche und die jün…
taz: Frau Touré, wie bewerten Sie als grüne Sozialministerin in
Schleswig-Holstein die Berliner Ampelregierung?
Aminata Touré: Die Ampel hat in diesem Jahr krass geliefert. Im Frühjahr
wussten wir noch nicht, ob wir gut über den Winter kommen und genügend
Energie haben. Der Krieg in der Ukraine ist nicht vorbei, aber in diesem
Moment ist es sehr beruhigend, dass wir keine Versorgungsknappheit haben.
Es wurden [1][zudem drei Entlastungspakete geschnürt], die sind mit der
Zeit immer besser geworden. Wenn Rentner*innen oder Studierende
vergessen worden sind, [2][wurde nachgesteuert].
Funktionieren die Entlastungspakete nicht zu sehr nach dem Prinzip
„Gießkanne“? Zum Beispiel profitieren auch die von Heizkostenzuschüssen,
die es gar nicht nötig haben.
In dieser Ausnahmesituation, in der die Ampel war, denke ich: Bevor niemand
entlastet wird, ist es besser, alle zu entlasten. Und es wurde ja auch
zielgruppengerichtet entlastet: etwa beim Bürgergeld oder beim Wohngeld.
Gut, die FDP wollte zum Teil auch Menschen entlasten, die das eigentlich
nicht bräuchten. Aber so laufen Kompromisse.
Das Bürgergeld ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Nach einigem Ringen
wurde hier ein Kompromiss gefunden, der besagt: [3][Sanktionen bleiben,
dafür gibt’s mehr Geld und mehr Weiterbildung]. Wie finden Sie das?
Es ist das Beste, was wir hätten haben können.
Die Grünen wollten die entwürdigenden Sanktionen abschaffen. Das konnten
sie nicht durchsetzen.
Das ist extrem schade. Aber es gab von Anfang an einen Konflikt innerhalb
der Ampelkoalition. Wir Grünen wollten die komplette Sanktionsfreiheit.
Aber da haben wir uns weder bei der SPD noch bei der FDP durchsetzen
können.
50 Euro mehr bei den Regelsätzen sind nur ein Inflationsausgleich. Müssten
die Grünen nicht ehrgeiziger sein?
Meine Kolleg*innen im Bund haben hart verhandelt, aber mehr war nicht zu
machen. Das Entscheidende neben der Regelsatzerhöhung ist: Wenn Menschen
Bürgergeld beziehen, wird überlegt, wie ihnen der Wiedereinstieg in die
Berufswelt oder die Weiterqualifizierung ermöglicht werden kann. Und es ist
Schluss damit, Kindern und Jugendlichen, deren Eltern Grundsicherung
beziehen, Geld wegzunehmen, wenn sie sich etwas dazuverdienen wollen.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Kinder aus armen Familien dann arbeiten
gehen anstatt in den Sportverein?
Nein, das glaube ich nicht.
Warum nicht?
Die Zwänge entstehen nicht durch den Nebenjob, sie entstehen durch die
Strukturen drumherum. Ich glaube, dass es für Jugendliche in dem Alter
wichtig ist, sich was dazuverdienen zu können, um sich ein paar Sneaker
oder eine Tasche kaufen zu können. Aber wenn mir mit 16 Jahren vermittelt
wird: Selbst wenn du arbeiten gehst, es lohnt sich für dich nicht, denn der
Staat greift es wieder ab – das ist einfach ungerecht.
Was denken Sie: Reichen die Entlastungspakete oder steht im März die
nächste Runde an?
Das werden wir erst in den nächsten Monaten sehen. Man kann der Ampel aber
nicht vorwerfen, dass sie zu wenige Maßnahmen auf den Weg gebracht hat. Die
Bundesregierung hat es geschafft, dass wir in diesem Winter keine
Gasknappheit haben.
Merkt man das an der Stimmung im Land?
Ich glaube schon. Im Sommer haben wir diskutiert, ob Massen protestieren
und wir gesellschaftlich komplett auseinanderdriften. Das passiert so
nicht. Gerade als Ministerin, die auch für Integration zuständig ist, weiß
ich, dass die Akzeptanz, Menschen hier aufzunehmen, ganz stark daran
gekoppelt ist, wie es den Leuten hier vor Ort geht.
Die Ampel plant für 2023 eine Reform des Einbürgerungsrechts. [4][In den
Debatten darüber hat die CDU populistische Stimmungsmache betrieben]. Wie
haben Sie das verfolgt?
Es ist maximal schäbig, Debatten aus den 1990er zu recyceln und Ängste zu
schüren, und das in einer Zeit, wo ernsthafte Krisen aufeinanderstoßen.
Mich gruselt es, dass Friedrich Merz so unterwegs ist, wohl wissend, dass
das gesellschaftliche Spannungen hervorrufen kann. Übrigens: Meine
CDU-Kolleg*innen in Schleswig-Holstein leisten sich diese schäbige Art und
Weise des Politikmachens nicht.
CDU-Chef Friedrich Merz [5][nutzt den Bundesrat, um Gesetze der Ampel zu
blockieren]. Würden es die Grünen als Koalitionspartner zulassen, dass die
CDU in Schleswig-Holstein beim Thema Einbürgerung sagt, wir können uns
leider nur enthalten, weil Friedrich Merz das von uns fordert?
Klar, die Faustregel ist: Wenn man sich nicht einigen kann, geht man auf
Enthaltung, was im Bundesrat faktisch ein Nein bedeutet. Aber es gibt
Themen, die uns so wichtig sind, da werden wir jeden einzelnen Satz
besprechen, damit wir uns einigen können. Das ist der Anspruch, mit dem ich
in dieses Verfahren gehe.
Ein weiteres Großthema der Ampel [6][wird die Kindergrundsicherung], die
derzeit im Bundesfamilienministerium erarbeitet wird. Könnte die Union sie
über die Länder im Bundesrat scheitern lassen?
Ich weiß es nicht. Ich habe die CDU um Daniel Günther so erlebt, dass ihnen
das Thema auch sehr wichtig ist. Nordrhein-Westfalens CDU-Arbeits- und
Sozialminister Karl-Josef Laumann hat gesagt, dass es nicht sein kann, dass
Kinder in Armut leben. Und die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat
intensiv bei den Ländern darum geworben, die Kindergrundsicherung positiv
zu begleiten.
Die Grünen haben ein Modell vorgeschlagen, das 280 Euro Grundbetrag
vorsieht plus nach Einkommen gestaffelte Aufschläge. Das kann bis zu 33
Milliarden Euro kosten. Ist das politisch durchsetzbar?
Ich hoffe, dass es nicht an FDP-Finanzminister Christian Lindner scheitert.
Die Kindergrundsicherung ist eines der größten und wichtigsten Projekte für
uns Grüne und das Bundesfamilienministerium. Ich hoffe, dass Grüne, SPD,
FDP und alle, die Verantwortung tragen, an einem Strang ziehen werden, um
das durchzuboxen. Bislang sind aber nur Eckpunkte bekannt. In den nächsten
Monaten soll ein Entwurf kommen.
Besteht nicht die Gefahr, dass am Ende eine Grundsicherung herauskommt, die
auf dem Papier gut klingt, aber tatsächlich unter dem Betrag liegt, den
Kinder aus armen Familien jetzt schon bekämen, wenn man alle Leistungen
zusammenrechnet?
Wir werden nicht alle Leistungen zusammenpacken und sagen: Das ist die neue
Kindergrundsicherung. Lisa Paus wird ein gutes Konzept ausarbeiten. Und
möglicherweise kann man im Bundesrat ja auch zu Verbesserungen kommen. Das
ist anders als beim Bürgergeld, weil es gesellschaftlich unpopulärer ist,
gegen Kinder zu sein.
Die Grünen wollen über die Kindergrundsicherung auch die Qualität in den
Kitas verbessern. Es gibt bereits ein Kita-Qualitäts-Gesetz, aber
Schleswig-Holstein hat enorme Probleme damit, ausreichend Personal zu
finden.
Das betrifft alle Bundesländer. In Schleswig-Holstein haben wir eine
Fachkräfteinitiative gestartet. Wir schaffen deutlich mehr
praxisintegrierte Ausbildungsplätze und holen sogenannte helfende Hände in
die Kitas. Außerdem erleichtern wir den Quereinstieg und verbessern die
Karrierechancen und Fortbildungsmöglichkeiten. Das sind wichtige Schritte,
aber es ist ein langer Weg bis zur perfekten Kita.
Man holt einfach mehr niedrig qualifiziertes Personal in die Kitas?
Nein. Wir müssen Leute in diese Strukturen reinbekommen, und das geht nur
über den Quereinstieg. Leute, die mitten im Leben stehen und zwei Kinder
haben, können es sich finanziell und zeitlich oft nicht leisten, ein
mehrjähriges duales Ausbildungssystem zu durchlaufen. Wir müssen uns also
überlegen, wie wir den Quereinstieg für diese Menschen organisieren können,
ohne die Qualitätsstandards völlig abzusenken.
Aber ein bisschen absenken, geht schon?
Wir haben hier im Land vereinbart, dass helfende Hände keine pädagogische
Arbeit übernehmen. Denn das würde die Qualität senken. Aber die
Erzieher*innen selbst sagen uns: Wenn wir jemanden an der Seite haben,
würde uns das entlasten, dann können wir uns auf die pädagogische Arbeit
konzentrieren. Das passiert bei uns in Schleswig-Holstein auch schon. Die
schlechteste Qualität ist doch, wenn die Kitas zu sind und keine Betreuung
stattfindet.
Wie viel Hoffnung setzen Sie da auf das [7][Fachkräfteeinwanderungsgesetz,
das ebenfalls 2023 kommen soll]?
Es kommt nicht nur auf Fachkräfte, sondern auf das Gesamtpaket an: Wir
brauchen schnellere Asylverfahren, damit die Leute auch schneller arbeiten
können. Und die Frage der Staatsangehörigkeit ist stark daran gekoppelt, ob
wir als Land attraktiv sind für Fachkräfte. Sonst gehen die Menschen in ein
englischsprachiges Land, wo sie viel leichtere Bedingungen haben. Es wird
nicht mehr mit der Arroganz gehen, mit der die Bundesrepublik in den
letzten Jahrzehnten unterwegs war.
Sie haben eine Säule nicht erwähnt: [8][die Rückführungsoffensive]. Die ist
der Union ebenso wie der FDP wichtig.
Auch die Rückführungsoffensive gehört zu den Koalitionsvorhaben der Ampel.
Sind schnellere Rückführungen die bittere Pille, die Sie als Grüne
schlucken müssen?
Die politische Debatte wird manchmal so geführt, als würden Rückführungen
nicht stattfinden. Wir haben in unserem Aufenthalts- und Asylrecht
Bedingungen formuliert, wann Menschen zurückgeführt werden müssen. Wenn sie
bestimmte Straftaten begangen haben zum Beispiel.
Es macht keinen Sinn, diese Frage kategorisch mit Ja oder Nein zu
beantworten. Es passiert jeden Tag, die Frage ist: unter welchen
Bedingungen. Gleichzeitig muss man sich aber stärker die Gruppe derer
anschauen, die in Duldung stecken, sich aber nichts haben zuschulden kommen
lassen. Sie müssen wir auch als Teil unserer Fachkräftestrategie sehen. Und
zwar in ihrem eigenen Interesse und im Interesse Deutschlands.
Wie ist die Zusammenarbeit auf Landesebene in diesen Fragen mit der CDU?
Gut.
Echt?
Ja. Die starke Polarisierung, die es auf Bundesebene gibt, erleben wir hier
nicht.
Und wie erleben Sie Daniel Günther als Ministerpräsidenten? Wäre er ein
guter nächster Bundeskanzler?
Ich hoffe nicht, dass es Schwarz-Grün auf Bundesebene gibt.
Müssten Sie jetzt nicht sagen: Wir Grünen streben eine grüne Kanzlerin an?
Natürlich tun wir das. Wenn schon, dann Grün-Schwarz und mit einer grünen
Kanzler*in.
Sie sind also für Annalena Baerbock und gegen Robert Habeck als
Kanzlerkandidatin?
Kanzler*in habe ich gesagt. Mir ist es egal. Ich finde, sie machen das
beide gut.
26 Dec 2022
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## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
Anna Lehmann
Tobias Schulze
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