| # taz.de -- Studieren in der Pandemie: Unis müssen digital begeistern | |
| > Das Studium gleicht momentan einem Abgrund. Einem Abgrund aus digitalen | |
| > schwarzen Kacheln. Läuft es so weiter, könnten ganze Jahrgänge verloren | |
| > gehen. | |
| Bild: Der Hörsaal leer, alle allein zuhause, so macht Studieren keinen Spaß | |
| Corona hat es geschafft: Studieren macht mir keinen Spaß mehr. Dabei geht | |
| es mir im Vergleich zu anderen Studierenden noch gut. Ich stehe kurz vor | |
| meinem Bachelor, musste mich also nicht ausgerechnet in einer Zeit, in der | |
| man die Wohnung nicht verlassen soll, an einer neuen Uni oder gar in einer | |
| neuen Stadt zurechtfinden. Das Campusleben habe ich noch kennengelernt, die | |
| Atmosphäre eines vollen Hörsaals genau wie den Geschmack von verkochtem | |
| Mensaessen, und mehr als einmal habe ich nach Seminarende auf dem | |
| Fakultätsflur noch spontane Diskussionen geführt. | |
| Bis vor einem Jahr dachte ich selten über den Wert dieser Erfahrungen nach. | |
| Sie waren selbstverständlich. Wer aber in den letzten beiden Semestern | |
| anfing zu studieren, kennt sie nur noch aus Erzählungen oder Filmen. Und | |
| auch für das dritte digitale Semester, [1][das am 1. April beginnt], ist | |
| Besserung nicht in Sicht. | |
| Als Friedrich Nietzsche schrieb „Und wenn du lange in einen Abgrund | |
| blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, meinte er nicht den | |
| digitalen Alltag an den Hochschulen seit März 2020. Doch dort ist das Zitat | |
| erschreckend aktuell. Das Studium gleicht momentan einem Abgrund. Einem | |
| Abgrund aus digitalen schwarzen Kacheln. | |
| Klappt man den Laptop auf, um mittels der Videokonferenz-Software Zoom an | |
| einer virtuellen Vorlesung oder einem digitalen Seminar teilzunehmen, | |
| blickt man oft in eine gähnende Leere. Kaum jemand hat seine Kamera an, | |
| zeigt freiwillig sein Gesicht. Umringt von schwarzen Kacheln ist es kaum | |
| möglich, Interesse und Begeisterung zu entwickeln. Man wird zum Zoombie. | |
| ## Studieren macht arm und krank | |
| Doch Forschung setzt Begeisterung voraus! Die Freude am Lernen und | |
| Entdecken, die Fähigkeit, im Team Thesen zu entwickeln und zu testen. Läuft | |
| es weiter wie jetzt, könnten ganze Jahrgänge potenzieller Forscher*innen | |
| verloren gehen. | |
| Im schlimmsten Fall macht Studieren momentan arm und krank. Vielen brechen | |
| die Nebeneinkünfte weg, vor allem weil die Gastronomiejobs fehlen. | |
| Produktiver persönlicher Austausch, ob in der Referatsgruppe, in der Mensa | |
| oder beim Bier in der Kneipe, ist kaum möglich. Emotionale Entlastung durch | |
| Fachschaftspartys oder Hochschulsport fehlt (und nicht zu vergessen: eine | |
| Universität ist ja auch eine riesige analoge Datingplattform). | |
| [2][Spazierengehen] half da noch nie. Isolation und Einsamkeit belasten | |
| Studierende in ganz Deutschland. Nicht wenige ziehen sogar zurück zu ihren | |
| Eltern. | |
| [3][Für das Sommersemester brauchen wir deshalb dringend Strategien], um | |
| den Verlust des Campuslebens auszugleichen. Digitales Lernen muss endlich | |
| Begeisterung wecken! Möglichkeiten dazu gibt es. Digitale Plattformen wie | |
| „Gather“, bei denen man sich als Avatar in verschiedenen Themenräumen | |
| treffen kann, sind eine Alternative zu Zoom. Sie helfen beim spielerischen | |
| und gruppenbasierten Lernen. Kein Campus, aber immerhin. | |
| Eine Bekannte von mir, die seit Herbst an der Uni Darmstadt studiert, | |
| erzählt, dass sie sich häufig mit dem Stoff allein gelassen fühlte. „Man | |
| bekommt seine Texte und das ist dann, als hätte man einfach nur | |
| Hausaufgaben. Nur kenne ich keinen meiner Kommilitonen, um mich darüber | |
| auszutauschen.“ Doch auch theoretische Texte können digital zusammen | |
| bearbeitet werden. Fragen, Gedanken und Widerspruch lassen sich problemlos | |
| in gemeinsamen Dateien teilen. Gegen das Gefühl von Isolation und | |
| Einsamkeit kann das helfen. | |
| Am Ende bewahrte ein Dozent, der regelmäßig zu Beginn seines Seminars | |
| offene Themenrunden veranstaltet, meine Bekannte vor dem Abbruch: „So | |
| konnte man wenigstens mal hören, dass es Anderen ähnlich geht.“ | |
| Die technischen Voraussetzungen sind durchaus da, man muss sie nur nutzen – | |
| und die Studierenden auch dazu aktiv ermuntern. Gerade gegenüber | |
| Erstsemestern, die noch vom Frontalunterricht der Schulen geprägt sind, | |
| geht mit dem Lehrauftrag auch eine pädagogische Verpflichtung einher. Das | |
| macht die Situation momentan auch für die Dozent*innen belastend. Viele | |
| scheinen sich ihrer neuen Verantwortung allerdings gar nicht bewusst zu | |
| sein. Ändert sich das nicht bald, besteht die Gefahr, dass der | |
| wissenschaftliche Nachwuchs verloren geht. | |
| Schon jetzt gibt es vor allem in den Geisteswissenschaften Probleme. An der | |
| Universität Freiburg haben sich für den normalerweise beliebten | |
| Anglistik-Master nur drei Menschen neu immatrikuliert, in der Allgemeinen | |
| Sprachwissenschaft sogar nur einer. Fehlt aber der Forschungsnachwuchs, | |
| werden irgendwann auch Gelder gekürzt. | |
| Stattdessen werden andere Wege immer attraktiver. In Bayern steigt die Zahl | |
| der dual Studierenden stark an. Nachvollziehbar, denn Unternehmensbindung | |
| und ein festes Ausbildungsgehalt versprechen eine Sicherheit, die viele | |
| Studiengänge nicht bieten können. Klare Berufsorientierung erscheint | |
| wichtiger denn je. | |
| Klar bietet die aktuelle Situation auch Vorteile: Internationale | |
| Konferenzen sind digital leichter zugänglich und Forschungs-Communitys auf | |
| diese Weise unabhängiger von räumlichen Gegebenheiten. Das Problem dabei | |
| ist: Ein bereits vorhandenes Forschungsinteresse kann so vielleicht | |
| vertieft werden – Begeisterung beim Nachwuchs weckt das kaum. | |
| Für einen kurzfristigen Motivationsschub könnte bereits eine | |
| Öffnungsperspektive oder eine belastbare politische Strategie sorgen. Doch | |
| darüber wird – anders als bei Baumärkten, Hotels, Open-Air-Konzerten oder | |
| Fußpflegestudios – nicht einmal öffentlich diskutiert. Ich fühle mich als | |
| Student vergessen, vernachlässigt, abgehängt. | |
| So lange nichts passiert, liegt die Verantwortung bei den Hochschulen. Sie | |
| müssen wieder das Feuer der Wissenschaft entfachen. Sonst wird der | |
| akademische Nachwuchs in Zukunft nicht nur zahlenmäßig weniger, sondern | |
| auch schlechter werden. | |
| 27 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Berlins-Hochschulen-in-der-Coronakrise/!5761513 | |
| [2] /Spazieren-als-Beruf/!5749925 | |
| [3] /Hochschulen-im-Onlinemodus/!5757041 | |
| ## AUTOREN | |
| Marius Ochs | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Studierende | |
| Universität | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Studium | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Berliner Hochschulen | |
| Hochschule | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Studierende in der Pandemie: Sie wollen zurück in den Hörsaal | |
| Die Pandemie hat das Studium stark verändert: Vorlesungen finden nur noch | |
| digital statt. Das wollen einige Studierende nun ändern. | |
| Prüfungsstress unter Jurist*innen: Wenn das Studium krank macht | |
| Wer sich für das juristische Staatsexamen vorbereitet, ist enormem | |
| Leistungsdruck ausgesetzt. Eine grundlegende Reform wird aber dauern. | |
| Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Sieben-Tage-Inzidenz steigt auf 125 | |
| CDU-Vize Stroble fordert einen allumfassenden Lockdown. | |
| Intensivmediziner:innen appellieren an die Politik. Brandenburg | |
| führt die Luca-App ein. | |
| Berlins Hochschulen in der Coronakrise: Auf zum Protest-Seminar | |
| Im April beginnt das bereits dritte Online-Semester in Folge. Studierende | |
| und Dozent:innen fordern deshalb Konzepte für Lehre in Präsenz. | |
| Hochschulen im Onlinemodus: Frustwissenschaften, im 3. Semester | |
| Auch im kommenden Semester bleibt das Studium meist digital. Die | |
| Unzufriedenheit wächst – nicht nur unter Studierenden. | |
| Vier Studierende übers digitale Semester: Die Meinungen gehen auseinander | |
| Corona hat auch das Studieren stark verändert. Die einen fanden das toll – | |
| die anderen miserabel: Vier Protokolle zum Ende des digitalen Semesters. |