# taz.de -- Prüfungsstress unter Jurist*innen: Wenn das Studium krank macht | |
> Wer sich für das juristische Staatsexamen vorbereitet, ist enormem | |
> Leistungsdruck ausgesetzt. Eine grundlegende Reform wird aber dauern. | |
Bild: Viele bunte Zettelchen: Prüfungsvorbereitung unter Jurist*innen | |
BERLIN taz | Schon immer hatte Dana Haas davon geträumt, Richterin zu | |
werden. Alles sprach dafür, dass das klappen sollte. Aus der Schule war die | |
heute 31-Jährige erfolgsverwöhnt und gewohnt, dass man durch Lernen viel | |
erreichen kann. Nach dem Abitur begann Haas ihr Jurastudium. | |
„Mein Leben kippte mit der Examensvorbereitung“, erzählt Haas. Im privaten | |
Vorbereitungskurs für die Abschlussprüfung wurde ihr geraten, acht bis zehn | |
Stunden täglich zu lernen. Haas, die eigentlich anders heißt, hielt sich | |
daran – traf keine Freunde und machte keinen Sport mehr. Im letzten halben | |
Jahr vor dem Examen verließ sie das Haus nur noch zum Einkaufen. „Es | |
herrscht ein Riesendruck, dass du bei dieser einen Prüfung alles abrufen | |
musst“, erinnert sie sich. | |
Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich stetig. Schon morgens hatte sie | |
keine Kraft mehr zum Lernen. Nachts kämpfte sie mit Weinkrämpfen und | |
Suizidgedanken. Hinzu kamen psychosomatische Hals- und Kopfschmerzen. | |
Anderthalb Jahre bereiten sich angehende Jurist*innen im Durchschnitt | |
auf das Staatsexamen vor. Psychische Erkrankungen sind da keine Seltenheit, | |
denn auf den [1][Studierenden] lastet ein enormer Druck: Die | |
durchschnittliche Durchfallquote liegt bei fast 30 Prozent, wiederholen | |
darf man die Prüfung im Regelfall nur ein weiteres Mal. Zudem streben viele | |
Studierende als Note ein „Vollbefriedigend“ an, das sogenannte Prädikat, | |
welches den Zugang zu sämtlichen juristischen Berufsfeldern eröffnen soll. | |
Dieses erreichen aber nur etwa 17 Prozent aller Examenskandidat*innen. | |
Wie schwer die Prüfungen auf der Psyche der Studierenden lasten, beobachtet | |
Irina Theisen, Leiterin der psychologisch-psychotherapeutischen | |
Beratungsstelle des Studierendenwerks in Berlin. Im Vergleich zu anderen | |
Studienfächern seien [2][psychische Belastungen] unter Jurist*innen sehr | |
verbreitet, so Theisen. Typisch seien depressive Verstimmungen bis hin zu | |
Lebensmüdigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Panikattacken sowie | |
Angststörungen, insbesondere in Form von Prüfungsangst. | |
Die Psychologin sieht die Ursachen in der Struktur des Studiengangs. „Ich | |
denke, es liegt an dieser wahnsinnig langen Vorbereitungszeit ohne | |
vorherige Rückmeldung, am immensen Lernstoff und am ständigen sich | |
Infragestellen.“ Der Aufbau des Studiengangs hat Tradition: Die heutige | |
Jurist*innenausbildung basiert weitgehend auf dem zweistufigen | |
preußischen System von 1869. Nach dem Studium muss ein erstes, nach einer | |
praktischen Ausbildung, dem Referendariat, ein zweites Staatsexamen | |
abgelegt werden. | |
Das erste juristische Staatsexamen besteht neben einer mündlichen Prüfung | |
je nach Bundesland aus fünf bis acht schriftlichen Prüfungen, die die | |
Kandidat*innen in der Regel innerhalb von zehn bis vierzehn Tagen zu | |
absolvieren haben, in Klausuren von je fünf Stunden. Für die | |
Examensvorbereitung begeben sich viele zu teuren Wiederholungskursen, | |
sogenannten Repetitorien. | |
Wer zweimal durchfällt, hat nicht mal einen Bachelor in der Tasche. „Es | |
herrscht Angst, sich etwas zu verbauen“, berichtet Theisen. Als Therapeutin | |
fühle sie sich dabei oft hilflos, räumt sie ein. „Weder ich noch die | |
Studierenden können etwas an dem System ändern.“ | |
## Kritiker*innen: Sorgen werden tabuisiert | |
Auch Shayan Mokrami vom Bundesverband der rechtswissenschaftlichen | |
Fachschaften kennt den Leistungsdruck und die Versagensängste unter den | |
Examenskandidat*innen. An den Fakultäten werde darüber nicht ausreichend | |
gesprochen, sondern die Sorgen eher tabuisiert, so Mokrami. „In Bezug auf | |
das Jurastudium ist zu kritisieren, dass Wert auf eine gute, anspruchsvolle | |
Ausbildung gelegt wird, ohne die gesundheitlichen Risiken für die | |
Studierenden genügend zu berücksichtigen.“ | |
Dana Haas war bewusst, dass ihr nur eine Psychotherapie helfen konnte. | |
Dennoch entschied sie sich dagegen, weil eine Therapie der späteren | |
Aufnahme in den Richterdienst entgegenstehen kann. Sie kämpfte sich durch | |
die Vorbereitungszeit bis zu den schriftlichen Prüfungen. „Vor der ersten | |
Klausur konnte ich nicht schlafen, nicht mal eine Stunde, und konnte nicht | |
essen. Ich habe mich morgens noch übergeben.“ | |
Nichtsdestotrotz schloss sie das Examen am Ende als eine der Besten ab. | |
Doch ihre Schlafstörungen und Panikattacken verschwanden nicht. | |
Mittlerweile ist bei Haas eine Angststörung durch eine chronisch gewordene | |
Belastungssituation diagnostiziert worden. | |
Nicht alle Jurastudierenden erkranken derart während ihrer Ausbildung. | |
„Menschen reagieren unterschiedlich auf Stress“, erklärt Prof. Dr. Stefan | |
Wüst von der Universität Regensburg. Der Psychologe leitet seit drei Jahren | |
das „JurSTRESS“-Projekt, das bayernweit das Stresslevel von über 500 | |
Examenskandidat*innen während der Prüfungsvorbereitung untersucht. | |
Die Ergebnisse sollen Mitte dieses Jahres veröffentlicht werden. Es wird | |
die erste Studie sein, die konkrete Daten zu den psychischen und | |
biologischen Belastungsreaktionen von Jurastudierenden präsentiert. | |
„Akuter Stress ist, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in keiner Form | |
schlecht“, sagt Wüst. Krankheitsrelevant werde die Situation allerdings, | |
„wenn ich dauerhaft oder sehr intensiv das Gefühl habe, ich bin | |
überfordert“. Insbesondere die von Wüst genannten Faktoren Dauer und | |
Intensität spielen bei der Stressbelastung während der Examenszeit eine | |
zentrale Rolle. Denn die Prüfungsvorbereitung ist extrem lang und der | |
Abschluss sehr bedeutsam für den späteren beruflichen Erfolg. | |
Um den Druck auf die Examenskandidat*innen zu reduzieren, müsste nach | |
Ansicht der Psychologin Irina Theisen zum einen der Lernstoff gekürzt und | |
zum anderen in „kleinen Häppchen“ abgefragt werden. | |
Für eine solche Umstrukturierung bräuchte es eine tiefgreifende Reform der | |
juristischen Ausbildung. Dazu müssten sowohl der Bundesgesetzgeber als auch | |
die Bundesländer tätig werden. Denn der Bund regelt die grundsätzlichen | |
Anforderungen an die juristischen Staatsexamina im Deutschen Richtergesetz, | |
die Länder konkretisieren die Vorgaben in ihren jeweiligen | |
Ausbildungsordnungen. | |
So kommt es, dass Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen den | |
Examenskandidat*innen aktuell ermöglichen, die schriftlichen | |
Prüfungen in zwei oder drei zeitlich getrennten Abschnitten anzufertigen. | |
Im Zuge einer Reform des Juristenausbildungsgesetzes in NRW soll diese | |
Möglichkeit allerdings abgeschafft werden. | |
Linke setzt Thema auf politische Agenda | |
Das Thema ist im Bundestag angekommen. Treibende Kraft ist die | |
Linken-Fraktion, die dazu im November einen Antrag eingebracht hat. Darin | |
fordert sie unter anderem, dass die Prüflinge die Klausuren bundesweit in | |
zwei oder drei getrennten zeitlichen Abschnitten absolvieren dürfen. | |
Darüber hinaus sollen Gesetzeskommentare oder der Zugriff auf juristische | |
Datenbanken auch im ersten Staatsexamen als Hilfsmittel erlaubt sein, um | |
den Stoff zu reduzieren, den Kandidat*innen auswendig lernen müssen. | |
Schließlich schlägt die Linksfraktion vor, deutschlandweit neben dem | |
juristischen Staatsexamen einen Bachelor-Abschluss zu ermöglichen. | |
Rückendeckung erhielt die Linke bei einer Anhörung vor dem Rechtsausschuss | |
des Bundestags im Dezember durch Elisa Hoven, Strafrechtlerin an der | |
Universität Leipzig. Auch sie hält das erste juristische Staatsexamen für | |
dringend reformbedürftig. | |
Das derzeitige Prüfungssystem honoriere Auswendiglernen und unreflektiertes | |
„Runterschreiben“ und nicht ein grundlegendes Verständnis des juristischen | |
Denkens und Arbeitens, beklagte Hoven. Zudem hat die Professorin das | |
Befinden der Nachwuchsjurist*innen im Blick. Bei einer Befragung unter | |
Jurastudierenden an der Universität Leipzig gaben 97 Prozent an, dass sie | |
das Staatsexamen psychisch belaste. | |
„Grundstruktur muss erhalten bleiben“ | |
Einen studienbegleitenden Bachelor, wie es ihn als Rückfallposition beim | |
nicht bestandenen Examen bereits an Universitäten in Berlin und Brandenburg | |
gibt, begrüßt auch Martin Groß, Präsident des Gemeinsamen Juristischen | |
Prüfungsamtes Berlin-Brandenburg. Für ihn besteht darüber hinaus jedoch | |
kein grundlegender Reformbedarf des Staatsexamens. | |
„Die Grundstruktur werden wir in der Form erhalten müssen“, so Groß. Die | |
Ausbildung sei als Zugang zum Gerichtssaal konzipiert. Als Richter*in, | |
Rechtsanwalt oder Staatsanwältin brauche man genau das, was dort gelernt | |
werde. Die juristische Ausbildung führe zu verantwortungsvollen Berufen, | |
weshalb eine Barriere in dem System nicht verzichtbar sei. Mittlerweile hat | |
der Rechtsausschuss empfohlen, den Antrag der Linken abzulehnen. | |
Haas hat trotz ihrer Erkrankung als Juristin promoviert und danach das | |
Referendariat erfolgreich abgeschlossen. So, wie sie es sich lange | |
gewünscht hatte, konnte sie als Proberichterin an einem Landgericht | |
anfangen. | |
Doch den beruflichen Erfolg zu genießen, blieb ihr verwehrt. „Der Einstieg | |
ins Richteramt hat mich psychisch so zurückgeworfen, dass ich den Beruf | |
wahrscheinlich nicht ausüben kann, weil ich noch zu belastet bin“, | |
berichtet sie. Nach zwei Wochen musste sie sich krankschreiben lassen. Erst | |
mit der Zeit ging es ihr wieder besser. Ob sie noch einmal Jura studieren | |
würde? Darauf antwortet Haas mit einem klaren Nein. „Es ist immer noch mein | |
Traumstudium und Traumberuf, aber trotzdem nein, denn das Studium hat mich | |
krank gemacht.“ | |
7 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Larissa Rickli | |
Valeria Nickel | |
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