# taz.de -- Hochschulen im Onlinemodus: Frustwissenschaften, im 3. Semester | |
> Auch im kommenden Semester bleibt das Studium meist digital. Die | |
> Unzufriedenheit wächst – nicht nur unter Studierenden. | |
Bild: Leerer Hörsaal an der Freien Universität Berlin | |
Berlin taz | Am Donnerstag macht die Literaturwissenschaftlerin Giulia | |
Maria Chesi von der Berliner Humboldt-Universität (HU) etwas, was sie seit | |
über einem Jahr nicht mehr getan hat: Sie gibt ein Offline-Seminar. Vor | |
anwesenden Studierenden, ohne digitale Geräte, und – wegen Corona – im | |
Freien. | |
Los geht es um 14 Uhr vor dem Roten Rathaus, dem Sitz des Regierenden | |
Bürgermeisters Michael Müller (SPD). Der Ort ist bewusst gewählt. Müller | |
hat – in seinem Amt als Wissenschaftssenator, das er auch bekleidet – | |
gemeinsam mit den Berliner Hochschulen beschlossen, auch das kommende | |
Semester „im digitalen Modus“ zu starten. Wie auch andere Bundesländer. | |
Die dritte Welle der Pandemie durchkreuzt derzeit sämtliche Öffnungspläne. | |
Auch die der Unis. Anfang März haben die Hochschulrektor:innen noch | |
lautstark die Rückkehr zum Präsenzbetrieb verlangt und dafür Schnelltests | |
ins Spiel gebracht. Vergangene Woche ruderten sie zurück: Die aktuelle | |
Situation, erklärten sie in einer gemeinsamen Stellungnahme, erlaube dies | |
noch nicht. Eine Ansicht, die die Landesregierungen teilen – auch wenn | |
manche Länder die letztliche Entscheidung den Rektor:innen überlassen. | |
Für die meisten der drei Millionen Studierenden in Deutschland heißt das: | |
ein weiteres Online-Semester, das dritte in Folge. Bei vielen Betroffenen | |
sorgt diese Aussicht für Verzweiflung. Auch bei HU-Dozentin Chesi: „Wir | |
sind vor dem Burnout“, sagt die 44-Jährige und meint Studierende und | |
Dozierende gleichermaßen. Die physischen und psychischen Belastungen seien | |
enorm, die Qualität der Lehre leide. Chesi begrüßt, dass die HU ein „sehr | |
gutes Beratungsangebot“ geschaffen habe. Aber ewig so weitergehen könne es | |
nicht. Deshalb fordert sie eine „vorsichtige Rückkehr“ zur Präsenzlehre. | |
## Studierende fordern Präsenzlehre | |
Giulia Maria Chesi ist eine von 1.600 Personen, die einen offenen Brief an | |
den Berliner Senat und die Berliner Hochschulen unterschrieben haben. | |
Initiiert wurde er von Studierenden. Darin fordern sie, die Präsenzlehre | |
„auch unter Corona“ zu ermöglichen. Wie das angesichts der steigenden | |
Inzidenzwerte möglich sein soll, wissen die Initiator:innen von | |
#NichtNurOnline selbst nicht so genau. „Wir verlangen ja keine sofortige | |
Rückkehr zur Präsenzlehre“, sagt Lucie Gröschel, die an der Freien | |
Universität Berlin (FU) Politikwissenschaften studiert. | |
„Uns stört aber, dass es keine Öffnungsperspektive gibt“. Für Läden, | |
Fußballstadien, Opernhäuser gebe es Pilotprojekte, wie man das | |
gesellschaftliche Leben wieder hochfahren kann. „Die Hochschulen werden | |
komplett vergessen“, glaubt Gröschel. Als Beweis dient ihr, dass auch der | |
jüngste Bund-Länder-Beschluss Studierende mit keinem Wort erwähnt. | |
Warum Studierende unzufrieden mit dem reinen Online-Studium sind, zeigt | |
eine bundesweite Befragung durch das Deutsche Zentrum für Hochschul- und | |
Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem vergangenen Jahr. Demnach empfand | |
jede:r dritte die Umsetzung des digitalen Angebots als misslungen. Jede:r | |
fünfte gab an, dass die eigene Wohnsituation nicht für das Home-Studium | |
geeignet sei. 80 Prozent der Befragten fehlte der persönliche Austausch mit | |
Mitstudierenden. Von [1][finanziellen Nöten] ganz zu schweigen. | |
Auch Bachelor-Studentin Lucie Gröschel hält die Isolation für ein großes | |
Problem: „Mein Studiengang lebt von Austausch“. Der lasse sich digital aber | |
kaum erreichen. Vor allem Studienanfänger:innen stelle der digitale | |
Betrieb vor ein Problem. Einfach mal die Sitznachbarin fragen geht nicht | |
mehr. | |
## Uni kaum von innen gesehen | |
Und die Zahl derer, die ihre Uni nie oder so gut wie nie von innen gesehen | |
haben, wächst. Fast 500.000 haben im vergangenen Jahr ihr Studium | |
aufgenommen. Zum Sommersemester im April kommen Zehntausende neu hinzu. | |
Viele Hochschulen wollen nun für Erstsemester möglichst viel Präsenzkurse | |
ermöglichen – doch reicht das, um sie gut in das Studium einzuführen? | |
Den Frust der Studierenden kann Oliver Jahraus „absolut verstehen“. Jahraus | |
ist einer der fünf Vizepräsident:innen der | |
Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und für den Bereich Studium | |
zuständig. „Für alle Beteiligten ist die Situation sehr unbefriedigend“, | |
erzählt der Germanist am Telefon. Doch die jüngste | |
Infektionsschutzmaßnahmenverordnung der Bayerischen Landesregierung vom 5. | |
März sei unmissverständlich: „Dort steht klipp und klar: ‚An den | |
Hochschulen finden keine Präsenzveranstaltungen statt.‘“ | |
Jahraus bezweifelt, dass sich das im Lauf des Sommersemesters noch ändern | |
könnte. „Mit baldiger Präsenzlehre schaut es schlecht aus.“ Er hofft, dass | |
das Wintersemester dann zumindest hybrid laufen wird, das Studium sowohl | |
digitale als auch Veranstaltungen vor Ort umfasst. Dafür könnte man | |
beispielsweise die Seminargruppen verkleinern. | |
Entsprechende Konzepte habe die LMU bereits letzten Sommer entwickelt, aber | |
bisher nicht anwenden können. Regelmäßige Schnelltests wie an Schulen, wie | |
die Hochschulrektor:innen sie vorschlagen, hält Jahraus für große | |
Universitäten wie die LMU jedoch kaum umsetzbar: „Wir haben 54.000 | |
Studierende, die 8.000 Lehrveranstaltungen an 150 Standorten besuchen. Das | |
wird schwer.“ | |
## Bibliotheken sind großes Anliegen | |
In Berlin hingegen könnten Schnelltests bald zum Einsatz kommen. Das | |
zumindest stellte der zuständige Staatssekretär Steffen Krach am Montag in | |
Aussicht. Der Krisenstab der Senatskanzlei und der Hochschulen sei im | |
Gespräch, wie genau die Tests eingesetzt werden können. Die Ergebnisse | |
werden im Laufe dieser Woche erwartet. | |
Ein großes Anliegen der Studierenden: dass bald wieder die Bibliotheken | |
öffnen. Nach einer aktuellen Umfrage des Centrum für Hochschulentwicklung | |
(CHE) unter 27.000 Studierenden konnte im Wintersemester nur ein Viertel | |
von ihnen einen ungestörten Lernraum an der Uni aufsuchen. Die Möglichkeit, | |
Termine zum Lernen in den Bibliotheken zu buchen, gibt es längst nicht | |
überall. Und – das hat soeben ein Berliner Verwaltungsgericht in einem | |
Eilverfahren entschieden – Studierende haben auch kein Anrecht darauf, für | |
ein Staatsexamen in der Bibliothek lernen zu dürfen. | |
Wie viel Stress die aktuelle Situation für Studierende bedeute, kann | |
Brigitte Reysen-Kostudis erzählen. In einem sechsköpfigen Team ist die | |
Psychologin an der FU Berlin für die psychologische Beratung von | |
Studierenden zuständig – und hat derzeit alle Hände voll zu tun. Während | |
die Zahl der Beratungsanfragen im vergangenen Jahr trotz Pandemiebeginn | |
relativ konstant geblieben sei, meldeten sich seit Jahresbeginn immer mehr | |
Studierende bei Reysen-Kostudis und ihren Kolleg:innen. | |
Auch die Anliegen hätten sich verändert: Im vergangenen Jahr ging es noch | |
hauptsächlich um Lernblockaden, Entscheidungsprobleme, Zweifel am Studium | |
und Schwierigkeiten, sich selbst zu organisieren. „Jetzt hat jede zweite | |
Anfrage mit Verunsicherung aufgrund der unsicheren Situation zu tun“, sagt | |
Reysen-Kostudis. „Den Studierenden fehlt der Zeithorizont, wie lange sie | |
noch durchhalten müssen.“ Was die Psychologin auch beobachtet: Die Zahl der | |
Studierenden, die die Beratungsstelle wegen depressiver Verstimmungen | |
aufsuchten, habe sich „massiv erhöht“. | |
## Viele Inhalte verlorengegangen | |
Ob ihre Studierenden vermehrt überlegen, das Studium abzubrechen? Das | |
verneint Reysen-Kostudis. Sie rät aber dringend, die bisherigen Erfahrungen | |
mit der Onlinelehre gründlich auszuwerten – und den Öffnungsplan | |
entsprechend zu gestalten. | |
Manche werden die Unis verlassen haben, bis die Öffnungen kommen. Zum | |
Beispiel Lisa Winkelmann, die in Erfurt Literaturwissenschaften studiert. | |
Im nächsten Semester muss sie noch ihre Masterarbeit schreiben, danach ist | |
ihr Studium zu Ende. Auch Winkelmann fand das digitale Studium anstrengend | |
und bedauert, dass viele Inhalte durch die Onlinelehre verlorengegangen | |
sind. | |
In manchen Seminaren sind Winkelmann und ihre Kommiliton:innen nur zu | |
zehnt. Dennoch hat sie Verständnis dafür, dass ihr Institut unabhängig von | |
den Teilnehmerzahlen auf Onlinelehre umgestellt hat: „Man muss ja kein | |
unnötiges Risiko eingehen und es ist weniger Hin und Her“. Ein bisschen | |
traurig ist Winkelmann aber schon: „Mir wurden meine [2][letzten drei | |
Unisemester] genommen“. | |
24 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Studium-waehrend-der-Coronapandemie/!5723903 | |
[2] /Wintersemester-der-Unis/!5716086 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
Franziska Schindler | |
## TAGS | |
Hochschule | |
Humboldt-Universität | |
Universität | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
GNS | |
Protest | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Studierende | |
Studium | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Berliner Hochschulen | |
Lockdown | |
Berliner Hochschulen | |
Prekäre Arbeit | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Universitätsbesetzungen sind zurück: Ab in die Hörsäle | |
Studierende sind von vielen Krisen direkt betroffen. Nun entdecken sie die | |
Besetzung von Universitäten als Protestform wieder. | |
Studierende in der Pandemie: Sie wollen zurück in den Hörsaal | |
Die Pandemie hat das Studium stark verändert: Vorlesungen finden nur noch | |
digital statt. Das wollen einige Studierende nun ändern. | |
Lockerungen auch an den Hochschulen: Mal wieder richtig Uni haben | |
Rektoren-Chefin Kunst und Regierungschef Müller kündigen | |
Lehrveranstaltungen ab dem 4. Juni für bis zu 25 Personen an, ab dem 18. | |
Juni für bis zu 40. | |
Steinmeiers Rede zum Semesterstart: „Das sorgt mich“ | |
Bundespräsident Steinmeier hat die finanzielle Not der Studierenden | |
bedauert – und sendet damit eine klare Botschaft an Bildungsministerin | |
Karliczek. | |
Prüfungsstress unter Jurist*innen: Wenn das Studium krank macht | |
Wer sich für das juristische Staatsexamen vorbereitet, ist enormem | |
Leistungsdruck ausgesetzt. Eine grundlegende Reform wird aber dauern. | |
Studieren in der Pandemie: Unis müssen digital begeistern | |
Das Studium gleicht momentan einem Abgrund. Einem Abgrund aus digitalen | |
schwarzen Kacheln. Läuft es so weiter, könnten ganze Jahrgänge verloren | |
gehen. | |
Berlins Hochschulen in der Coronakrise: Auf zum Protest-Seminar | |
Im April beginnt das bereits dritte Online-Semester in Folge. Studierende | |
und Dozent:innen fordern deshalb Konzepte für Lehre in Präsenz. | |
Auswege aus dem Dauerlockdown: Neue Perspektiven, bitte! | |
Trotz Lockdown werden die Infektionszahlen weiter steigen. Es ist an der | |
Zeit, kontrollierte Öffnungen zu ermöglichen – verbunden mit Schnelltests. | |
Lockerungen an Universitäten: Studierende haben den Online-Blues | |
Im April beginnt das dritte Digital-Semester. Die Initiative | |
#NichtNurOnline fordert Präsenzlehre – und kritisiert politische | |
Konzeptlosigkeit. | |
Prekär Beschäftigte in der Wissenschaft: An den Unis tickt die Uhr | |
Prekär Beschäftigte an Bremer Hochschulen sind in der Pandemie noch | |
unsicherer aufgestellt. Die Gewerkschaft GEW fordert mehr Zeit und Geld für | |
sie. | |
Künstlerisches Studium in der Pandemie: Schauspielunterricht per Zoom? | |
Mit der Geige vorm Computer, darstellendes Spiel im WG-Zimmer – so ist ein | |
Studium kaum möglich, sagen Lehrende. Student*innen sind verunsichert. |