# taz.de -- Studium während der Coronapandemie: Allein im Uni-Kosmos | |
> Die Pandemie stellt Studierende vor Herausforderungen. Wer nicht aus | |
> einem Akademikerhaushalt kommt, hat es schwer. | |
Bild: Vor der Pandemie: Erstsemester bei der Begrüßung an der Universität K�… | |
BERLIN taz | Matea Buzuk kämpft mit dem schlechten Gewissen. Die Studentin | |
der Kulturarbeit hat einen ihrer Nebenjobs in einer Veranstaltungslocation | |
zu Beginn der Pandemie verloren. Um über die Runden zu kommen, lieh sie | |
sich Geld – auch bei ihren Eltern. Dabei sei der Vater als Taxifahrer wegen | |
Corona ebenfalls von geringeren Einnahmen betroffen. BAföG erhält sie | |
nicht. Um ihre Eltern nicht mehr als unbedingt notwendig zu belasten, | |
versucht sie nun, nur das Nötigste einzukaufen und vereinzelte Aushilfsjobs | |
aufzutreiben. | |
Wie Buzuk haben Tausende Studierende während der Coronapandemie ihren | |
Nebenjob verloren. Allerdings geht eine im Mai veröffentlichte Studie des | |
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) davon aus, dass eine | |
Gruppe besonders betroffen ist: Die der sogenannten Arbeiterkinder, wie | |
Nichtakademikerkinder auch genannt werden. Sie jobben häufiger als ihre | |
KommilitonInnen aus Akademikerfamilien in gering qualifizierten Berufen – | |
hinter Bartresen und an Theatergarderoben. Und damit in Branchen, die seit | |
Monaten unter den Coronamaßnahmen ächzen. | |
Dabei sind gerade Kinder aus nichtakademischen Familien auf ihre Nebenjobs | |
angewiesen. Wie die 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zeigt, | |
macht der eigene Verdienst bei Studierenden ohne akademischen Hintergrund | |
30 Prozent des Gesamteinkommens aus. Bei Akademikerkindern sind es 20 | |
Prozent. | |
Barschicht statt Hiwi-Stelle, Einlass statt Elternfinanzierung – fällt der | |
Job weg, können Ausgaben für einen kaputten Laptop schnell zur | |
Schwierigkeit werden; steigende Mieten zur Dauerbelastung. „Die größte | |
Hürde im vergangenen und im jetzigen Semester ist die Studienfinanzierung“, | |
erklärt auch Julia Munack, Sprecherin der Organisation ArbeiterKind.de, die | |
Studierende aus Familien ohne Hochschulerfahrung vernetzen will. | |
Wer vor der Pandemie schon blank war, geht leer aus | |
Zwar gibt es Hilfen für Studierende, die in Geldnot geraten sind: Bis Ende | |
Mai 2021 bietet die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ein zinsloses | |
Darlehen von 650 Euro im Monat. BAföG-Anträge können schneller an ein | |
geändertes Elterneinkommen angepasst werden. Studierende mit finanziellen | |
Einbußen sollen im November wieder staatliche Nothilfen beantragen können. | |
Wie die erneute Unterstützungsrunde ausgestaltet wird, ist indes weitgehend | |
unklar. Noch sind die Antragsformulare nicht online verfügbar. | |
Auf Anfrage der taz erklärte ein Ministeriumssprecher allerdings, | |
Bildungsministerin Anja Karliczek könne sich vorstellen, dass die | |
Überbrückungshilfe auch über den November hinaus bis zum Ende des | |
Wintersemesters weiterlaufe. Außerdem sollen die Voraussetzungen für die | |
Antragstellung vereinfacht werden. | |
Das Programm, das im Oktober mit dem Verweis auf sinkende Antragszahlen | |
ausgesetzt wurde, hatte massive Kritik auf sich gezogen. Zum einen, weil | |
die Hilfen nur bei einem Kontostand unter 500 Euro ausgezahlt wurden. Vor | |
allem aber, weil Studierende, die schon vor der Pandemie in eine | |
finanzielle Schieflage geraten waren, leer ausgingen. Eine Regelung, die | |
die hochschulpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Nicole | |
Gohlke, in dessen Plenardebatte zuletzt als „unterlassene Hilfeleistung“ | |
bezeichnete. | |
„Es hat sich bereits in den vergangenen Monaten gezeigt, dass zu viele | |
Anträge abgelehnt werden mussten, da die Notlage nicht pandemiebedingt war, | |
sondern unabhängig davon schon davor bestand“, findet auch die | |
stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack. Zudem müsse die Höhe der | |
Hilfe überdacht werden, da die bisherigen maximal 500 Euro Zuschuss im | |
Monat die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten nicht im Ansatz deckten. | |
Antragstellung zu kompliziert | |
Gegenüber der taz beklagt ArbeiterKind.de-Sprecherin Munack darüber hinaus | |
auch noch bürokratische Hürden: Manche Studierende hätten ihrer | |
Organisation gegenüber angegeben, die Überbrückungshilfe gar nicht erst | |
beantragt zu haben, weil der Antrag zu kompliziert gewesen sei und es wenig | |
Hilfe dabei gegeben habe. | |
Indes ist das BAföG nur für wenige Studierende eine Stütze. Lediglich 11 | |
Prozent erhalten das staatliche Darlehen. Den Höchstsatz von derzeit 861 | |
Euro bekommt etwa die Hälfte von ihnen. Als Grund für die niedrigen Zahlen | |
wird oft ein zu niedriger Freibetrag beim Elterneinkommen genannt: Derzeit | |
liegt der bei 1.890 Euro für verheiratete Paare. | |
Und selbst wer den Höchstsatz bekommt, dürfte angesichts der in diesem Jahr | |
weiter gestiegenen Mietpreise in deutschen Unistädten schnell auf | |
zusätzliche Einnahmen angewiesen sein. In München kostet eine | |
durchschnittliche Studierendenwohnung laut MLP Studentenwohnreport 2020 | |
momentan 724 Euro warm. | |
Angesichts der Pandemie hat die Debatte über eine Reform des BAföG erneut | |
an Fahrt aufgenommen. Die Linke will die Elternfreibeträge um 10 Prozent | |
anheben, das BAföG in einen rückzahlungsfreien Vollzuschuss umwandeln und | |
die Wohnpauschale „ortsangemessen erhöhen“. | |
Die Grünen schlagen eine studentische Grundsicherung vor. Dabei sollen alle | |
Studierenden bis 25 Jahre einen monatlichen Garantiebetrag von 290 Euro | |
erhalten, außerdem gäbe es einen einkommensabhängigen Bedarfszuschuss – | |
ohne Rückzahlung. Die SPD strebt an, einen Notfallmechanismus im BAföG zu | |
etablieren, mit dem Studierende in Krisenzeiten unterstützt werden können. | |
Wie es um dessen Umsetzung steht, ist ungewiss. | |
Doch es sind nicht nur die finanziellen Probleme, die den Studierenden in | |
der Pandemie zu schaffen machen. Hinter ihnen liegt ein Semester vor dem | |
heimischen PC, vor ihnen ein [1][„Hybridsemester“], wie manche Hochschulen | |
die angestrebte Mischung aus vielen Onlineveranstaltungen und wenigen | |
Präsenzseminaren optimistisch nennen. Gerade für Studierende ohne | |
akademischen Hintergrund birgt das zusätzliche Herausforderungen. | |
„Wir erleben oft, dass Studierende aus Arbeiterfamilien sich fremd an der | |
Uni fühlen, weil der Habitus ein ganz anderer ist, als der, den sie bislang | |
gewöhnt waren“, berichtet Munack. Von 100 eingeschulten Arbeiterkindern | |
finden durchschnittlich ohnehin nur 21 den Weg an die Hochschulen, und | |
damit 53 weniger als bei den Akademikerkindern. „Das ist wie eine andere | |
Sphäre zu Beginn des Studiums. Man hat vor den Lehrenden teilweise auch | |
Ehrfurcht, weil die so viel erreicht haben, ist selbst völlig neu und | |
unbedarft in der akademischen Welt und will auch nicht auffallen.“ | |
Finden Seminare online statt, fehlen SitznachbarInnen, die bei | |
Unsicherheiten unkompliziert befragt werden können. Gerade Erstsemester, | |
die noch keine Gelegenheit hatten, ein soziales Netz an den Unis | |
aufzubauen, leiden darunter. | |
„Ich kannte keine Kommilitonen, ich kannte keine Profs, ich kannte | |
eigentlich niemanden. Und [2][dann ging es online los] und da waren ganz | |
viele Namen und der Professor, den man als einzigen gesehen hat“, erzählt | |
Philipp Guppenberger von seinen ersten Hochschultagen. Wie viele | |
Nichtakademikerkinder entschied sich der 22-Jährige zunächst für eine | |
Ausbildung, begann dann im Sommersemester ein BWL-Studium – in einer neuen | |
Stadt, mitten im digitalen Nirgendwo. | |
„Als die erste Hausarbeit anstand, fiel mir total die Decke auf den Kopf, | |
weil ich überhaupt keinen Plan hatte“, so Guppenberger, „Wir mussten das | |
Thema festlegen, eine Gliederung erstellen und ich war völlig überfordert.“ | |
Seine Eltern hätten sich zwar zum Korrekturlesen bereit erklärt, allerdings | |
nie selbst eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben. Rat fand er | |
schließlich nicht an der Uni, sondern bei einer Freundin. | |
Zu der Unsicherheit im digitalen Unikosmos gesellten sich Existenzsorgen: | |
Seinen ursprünglich an Land gezogenen Nebenjob in einem Restaurant, der | |
neben BAföG und elterlichen Zuschüssen die Studienfinanzierung sichern | |
sollte, konnte der gelernte Koch nie antreten, obwohl er recht schnell | |
Ersatz in einer Tankstelle fand. Ein weiterer Stressfaktor, der nicht zu | |
unterschätzen ist: Eine im Auftrag von Juso-Hochschulgruppen durchgeführte | |
Befragung weist darauf hin, dass Arbeiterkinder während der Coronapandemie | |
doppelt so häufig unter Existenzängsten leiden, wie ihre KommilitonInnen | |
aus Akademikerhaushalten. | |
Die im Juli veröffentlichte Studie ist zwar nicht repräsentativ, weitere | |
Auswertungen würden laut Studienautorin Jacqueline Niemietz allerdings | |
nahelegen, dass sich die Existenzangst der Studierenden auch negativ auf | |
deren Produktivität auswirkt. „Das heißt, je höher meine Existenzangst ist, | |
desto weniger Kurse werde ich im Semester belegen“, so Niemietz. | |
„Ich kann nicht sagen: Ich mach mal langsam“ | |
Gerade für Arbeiterkinder scheint eine schnelle Beendigung ihres Studiums | |
aber schon aus finanziellen Gründen oft wichtig. „Ich kann jetzt nicht | |
sagen, dann mache ich dieses Semester mal langsam und schaue, was auf mich | |
zukommt“, sagt etwa Julia Wirth. Die Soziologiestudentin ist die erste aus | |
ihrer Familie an einer Uni. Von ihren Eltern habe sie wenig Unterstützung | |
bei der Studienentscheidung bekommen. | |
Weil deren Gehalt knapp über der BAföG-Einkommensgrenze läge, sei sie neben | |
Studijobs aber auf ihre finanzielle Hilfe angewiesen. Ein Umstand, der | |
schon zu Streitigkeiten geführt habe. „Wenn ich jetzt weniger Prüfungen | |
mache, dann hinke ich noch mehr hinterher. Wie soll ich meinen Eltern | |
erklären, dass ich länger brauche?“ Dass viele Bundesländer die | |
Regelstudienzeit wegen Corona um ein weiteres Semester verlängern wollen, | |
hilft der 23-Jährigen kaum. | |
Ob die Coronapandemie langfristig zu höheren Studienabbruchzahlen | |
insbesondere bei Arbeiterkindern führen wird, lässt sich derzeit kaum | |
absehen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und | |
Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem Jahr 2017 zeigt aber, dass | |
Arbeiterkinder ihr Studium öfter als Akademikerkinder aus finanziellen | |
Gründen abbrechen. Gründe, die angesichts des pandemiebedingten | |
Teillockdowns verstärkt zum Tragen kommen könnten. | |
10 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jessica Kliem | |
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