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# taz.de -- Schulunterricht in Coronapandemie: Frieren oder filtern
> Trotz Teillockdown bleiben Schulen unter Auflagen offen. Kritiker:innen
> gehen diese nicht weit genug. Und das Thema Luftfilter sorgt für
> Irritation.
Bild: Unterricht in Pandemie-Zeiten an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Bonn
Berlin taz | Für ihre Argumentation benötigt Maike Wiedwald nur eine Zahl:
235,4. So viele neue Coronafälle pro 100.000 Einwohner:innen gibt es
derzeit in Frankfurt am Main. Nur in 12 Verwaltungsbezirken in ganz
Deutschland wütet die Pandemie momentan stärker. Und dennoch bleiben in
Frankfurt – wie überall sonst in der Republik – Schulen und Kitas geöffne…
So wie es vergangene Woche [1][Bund und Länder beschlossen] haben.
„Unfassbar“, sagt dazu Wiedwald. Die 53-Jährige ist Landesvorsitzende der
Bildungsgewerkschaft GEW in Hessen und unterrichtet in Frankfurt Biologie
und Sport. „Wie soll ich meinen Schülern erklären, dass man bei 50
Neuinfektionen möglichst alle Kontakte vermeiden muss, sie selbst bei über
200 Neuinfektionen aber noch alle in einem Klassenzimmer unterrichtet
werden?“
Mit ihrem Unverständnis ist Lehrerin Wiedwald nicht allein. Wie sich die
stark steigenden Infektionszahlen mit dem Regelbetrieb an Schulen vertragen
sollen, ohne die Ziele des Lockdowns – die Infektionszahlen stark zu senken
– zunichtezumachen, leuchtet vielen Bürger:innen nicht ein. Zwar haben fast
alle Bundesländer nach den Herbstferien die Maskenpflicht auch im
Unterricht verordnet, darunter Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Bremen,
Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen
und Schleswig-Holstein. Doch ist das genug, um das Virus einzudämmen?
In mehreren Bundesländern werfen Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen
der Politik Verantwortungslosigkeit und Untätigkeit vor. Es sei nicht
hinnehmbar, dass „Schülerinnen und Schüler sich ausrüsten müssen, als
gingen sie auf eine Polarexpedition“, heißt es etwa in einem offenen Brief
an Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler).
Wie andere Bildungsminister:innen hatte Piazolo den Schüler:innen geraten,
sich im Herbst und Winter während des Unterrichts [2][warm einzupacken], um
das regelmäßige Stoßlüften zu ermöglichen. Empfehlungen, die teilweise mit
beißendem Spott quittiert werden. So ätzte etwa der SPD-Schulexperte Jochen
Ott im nordrhein-westfälischen Landtag gegen das FDP-geführte Ministerium:
„Decken im Klassenzimmer verteilen? Kann man machen, ist aber kein
Konzept.“
Tatsächlich bauen alle Länder derzeit darauf, Schüler:innen und Lehrkräfte
mit einer Mischung aus Maskenpflicht und regelmäßigem Lüften ausreichend
schützen zu können. CO2-Messgeräte sollen anzeigen, wann das nächste Lüften
fällig wird. Spätestens nach 45 Minuten müssen die Fenster auf. In manchen
Bundesländern schreiben die Kultusministerien [3][dafür einen
20-Minuten-Takt vor.] So auch in Hessen.
Die GEW-Landesvorsitzende Maike Wiedwald hält diese Maßnahme für nicht
ausreichend und besonders im Winter für schwierig: „Es ist kaum möglich, so
guten Unterricht zu machen.“ Das ständige Öffnen und Schließen der Fenster
bringe sehr viel Unruhe, von dem Straßen- oder Fluglärm in der Stadt ganz
zu schweigen.
Zusammen mit Eltern- und Schüler:innenvertretung fordert die hessische
GEW, auf einen Wechselbetrieb mit geteilten Klassen umzustellen. Was
Wiedwald jedoch ärgert: Die schwarz-grüne Landesregierung sieht dafür nach
wie vor keine Notwendigkeit. „Die Schulen sollen offenbar um jeden Preis im
Regelbetrieb offen bleiben.“
Die Politik weist den Vorwurf zurück. Natürlich betrachte man das
Infektionsgeschehen sehr aufmerksam, sagt ein Sprecher des hessischen
Kultusministeriums der taz. Am Montag seien landesweit etwa 18.000
Schüler:innen und 2.000 Lehrkräfte in Quarantäne gewesen, etwa doppelt so
viele wie in der Vorwoche. Dennoch entspreche das gerade mal 2,5 Prozent
der Schüler:innen und nicht mal 4 Prozent der Lehrkräfte in Hessen.
Man habe nun mal nicht nur gute Erfahrungen mit dem Wechselbetrieb gemacht.
Gerade für Schüler:innen aus benachteiligten Familien sei der
Präsenzunterricht sehr wichtig. Deshalb sollen Schulen nur dann die Klassen
teilen, wenn die lokalen Gesundheitsämter dies als unbedingt notwendig
erachten.
Doch was aus medizinischer Sicht notwendig ist, ist umstritten. Zumindest
setzen die Länder längst nicht alle Empfehlungen aus der Wissenschaft um.
Für Risikogebiete, also Kreise, in denen der Infektionswert über 50 pro
100.000 Einwohner:innen liegt, rät das Robert-Koch-Institut
beispielsweise, Abstandsregeln im Unterricht wieder einzuführen und Klassen
in Lerngruppen zu teilen.
Am Montag hat die nordrhein-westfälische Stadt Solingen angekündigt, die
Schulen ab Mittwoch wieder [4][im Schichtbetrieb laufen] zu lassen. Eine
Entscheidung, die Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) demonstrativ nicht
begrüßen wollte. „Wir wollen alles tun, um den Präsenzunterricht
aufrechtzuerhalten“, gab Laschet lediglich bekannt.
Günstige Luftfilter, großer Effekt
Ähnlich zurückhaltend verhalten sich die Kultusministerien bei der Frage,
ob die Klassenzimmer mit Luftfiltern ausgestattet werden sollten. Vom
Lehrerverbandschef bis hin zur Grünen-Vorsitzenden hat diese Forderung
viele Anhänger:innen. Auch Joachim Curtius hält dies für sinnvoll. Er ist
Professor für Experimentelle Atmosphärenforschung an der Goethe-Universität
Frankfurt. Seit Jahren forscht er zu Aerosolen, wenn auch bislang nicht im
Innenbereich.
Dass Raumfilter im Winter helfen könnten, das Covid-19-Ansteckungsrisiko in
geschlossenen Räumen zu verringern, ist für ihn dennoch naheliegend. Im
August schlug er hessischen Ministerien vor, Luftfilter an einer Schule zu
testen – und stieß damit auf Skepsis. „Ich wurde nicht gerade ermutigt, die
Studie durchzuführen“, erinnert sich Curtius. Schließlich habe er die
Erlaubnis erhalten, die Studie auf eigene Kosten zu machen.
Erst als er im Oktober [5][seine Ergebnisse vorstellte], habe sich das
Ministerium interessierter gezeigt. Denn was Curtius unter Realbedingungen
getestet hat, dürfte vielen Ministerien, Schulämtern und Schulleitungen bei
anstehenden Entscheidungen helfen: Selbst günstige Hepa-Luftfilter können
über 90 Prozent der Aerosole in kurzer Zeit aus einem Klassenzimmer
filtern. „Für 1.000 bis 1.200 Euro pro Klasse kann man für einen sinnvollen
ergänzenden Schutz sorgen“, resümiert Curtius.
Mittlerweile haben fünf Länder erklärt, mobile Luftfilter an Schulen
anschaffen zu wollen: Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, NRW und Hessen. Die
Geräte sind zunächst für Klassenräume gedacht, die nicht ausreichend
belüftet werden können. Hessen gibt dafür 10 Millionen Euro aus. Am
heutigen Mittwoch soll der Haushaltsausschuss im Landtag die Mittel
freigeben. „Die Frage ist jetzt natürlich, wie schnell die Schulen mit
Luftfiltern ausgestattet werden können“, so Curtius.
Luftfilter-Spende mit Hindernissen
Formell sind für die Ausstattung der Schulen die Schulträger
verantwortlich. Wie schwer sie sich tun, zügig nachzurüsten, hat sich
zuletzt bei der Digitalisierung gezeigt. Vor Dezember wird wohl gar nichts
passieren, vermutet der SPD-Politiker Ott aus NRW. Wie langwierig die
Anschaffung von Luftfiltern sein kann, zeigt ein kurioser Fall aus Hessen.
Ein Vater hat drei Luftfilter gekauft, um sie der Schule seiner Tochter zu
spenden. Bislang ohne Erfolg.
Der Schulleiter wollte nicht auf eigene Faust agieren, das Schulamt knüpfte
die Spende an Bedingungen: Nicht eine Privatperson dürfe die Luftfilter
spenden, sondern nur ein Förderverein. Der teilte dem Vater mit, man könne
nicht nur für eine bestimmte Klasse spenden. Dann müsse er gleich für die
gesamte Schule spenden. „Ach ja“, sagt Alexander Kornbrust, der verhinderte
Spender, genervt am Telefon, „und natürlich soll ich die Haftung
übernehmen.“ Falls wegen des Luftfilters die Schule abbrennen sollte, muss
das Land ihn ja verklagen können.
Die Bürokratie sei das eine, so Kornbrust. Was ihn jedoch ärgere: dass die
Ministerien für sich selbst Hepa-Filter anschafften, die Ausstattung der
Schulen aber zu teuer finden. Bisher lehnt die Hälfte der Länder es ab,
Luftfilter zu kaufen – oder den Schulträgern die Anschaffung zu empfehlen.
Noch.
3 Nov 2020
## LINKS
[1] /Die-wichtigsten-Fragen-zum-Teil-Lockdown/!5722287
[2] /Bayerns-Kultusminister-ueber-Schulstart/!5709788
[3] /Lueftungskonzepte-in-Schulen-und-Corona/!5708102
[4] /Schulen-in-der-Coronakrise/!5691074
[5] https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/studie-zeigt-luftreiniger-bese…
## AUTOREN
Ralf Pauli
## TAGS
Schule
Pandemie
Luftfilter
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