# taz.de -- Doku-Reihe „Futur Wir“: Hoffnung, dass noch was geht | |
> Die 3sat-Doku-Reihe „Futur Wir“ versammelt junge Stimmen, um Utopien für | |
> die Zukunft zu finden. Einen großen Entwurf entwickelt sie nicht. | |
Bild: Diskutieren über Zukunft: Maria Popov, Sineb El Masrar und Sascha Chai… | |
Die Zeiten des politischen Stillstands sind erst einmal vorbei. Allerdings | |
nicht wegen einer plötzlich grassierenden Aufbruchstimmung, sonder eben | |
aufgrund der seit zweieinhalb Jahren anhaltenden Krisensituation. Mit | |
großen Visionen oder gar Utopien haben politische Maßnahmen wie das | |
geplante 49-Euro-Ticket und die Einführung des Bürgergeldes oder die neue | |
Normalität des Homeoffice [1][dementsprechend wenig zu tun]. | |
Es sind eher verwaltend-pragmatische Antworten auf die Herausforderungen | |
unserer Zeit, sie sollen entlasten und das Schlimmste abwenden, statt | |
proaktiv politisch zu gestalten. Dem möchte die dreiteilige Doku-Reihe | |
„Futur Wir“, die derzeit auf 3sat ausgestrahlt wird, entschieden etwas | |
entgegensetzen und den günstigen Moment des Umbruchs nutzen, um durchaus | |
über Visionen, ja sogar Utopien zu reflektieren. | |
Dafür diskutieren Moderatorin Maria Popov („funk“-Format „Auf Klo“), | |
Journalistin und Autorin Sineb El Masrar sowie der Chefredakteur des | |
ZEITmagazins Sascha Chaimowicz mit einer Vielzahl an „Medien- und | |
Meinungsmacher*innen“, wie es im Begleittext heißt. Man könnte auch sagen: | |
mit dem jungen „Who’s who“ der Spiegel-Bestsellerliste und | |
Twitter-Prominenz, also durchaus den diskursprägenden Stimmen unserer Zeit. | |
So kommen in der ersten der jeweils knapp 35-minütigen Folgen etwa [2][der | |
Lyriker Max Czollek] („Desintegriert euch!“), der Rapper und [3][Autor | |
Hendrik Bolz] („Nullerjahre“), „Apsilon“ – ebenfalls Rapper sowie | |
Medizinstudent – und schließlich Düzen Tekkal („#GermanDream“) zu Wort. | |
Unter dem Titel „Wie wollen wir leben“ stellt Maria Popov ihren Gästen in | |
Einzelinterviews stets ähnliche Fragen nach der [4][Sinnhaftigkeit von | |
Leitkultur], nach der Bedeutung von Zugehörigkeit, der Definition von | |
Identität und gelebter Vielfalt. | |
## Bedeutung von Erfolgsgeschichten | |
Was dabei schnell auffällt: Während jedes Gespräch aufgrund sehr | |
unterschiedlicher Biografien interessante Perspektiven zutage fördert, | |
sticht in den gegebenen Antworten doch eine gewisse Einhelligkeit ins Auge, | |
die sich auf das erfreuliche, aber wenig überraschende Credo „Mehr | |
ernstgemeinte Vielfalt, weniger einengende Leitkultur“ herunterbrechen | |
lässt. Ideen für ein gelungenes Miteinander der Zukunft werden dabei | |
weniger thematisiert als die bekannten Schwachstellen des Status quo. | |
Am stärksten weichen Düzen Tekkals Ausführungen ab, die – bei aller | |
dringend notwendigen Kritik an Diskriminierung von Migrant*innen und den | |
ungerechten Strukturen, die zu systematischer Benachteiligung führen – | |
immerhin die Bedeutung von Erfolgsgeschichten betont, um | |
Einwander*innen Mut zu machen, den Traum vom guten Leben in Deutschland | |
allen Widerständen zum Trotz zu verfolgen. | |
Konkretere Visionen bringt die zweite Episode hervor, die um das Thema | |
Liebe und Geschlechterrollen kreist. Neben Heinrich Horwitz, ein*e | |
Mitunterzeichner*in des Manifests #ActOut, das mehr queere Diversität | |
in der Filmwelt einfordert, interviewt Sineb El Masrar den Autor Friedeman | |
Karig („Wie wir lieben“), der vom befreienden Potenzial der Polyamorie als | |
Gegenentwurf zur politisch gewollten Monogamie schwärmt. [5][Şeyda Kurt] | |
(„Radikale Zärtlichkeit“) setzt dem Konzept der Liebe, die im Kapitalismus | |
dem Tauschhandel unangenehm ähnelt, wiederum das Konzept des „zärtlichen | |
Handelns“ gegenüber. | |
## Drei progressive Stimmen, eine konservative | |
War Tekkal der geladene Partycrasher der ersten Folge, erfüllt diese Rolle | |
hier [6][Mirna Funk] („Who Cares“), die im Gegensatz zu den anderen | |
Gesprächspartner*innen auf die Eigenverantwortung der Frauen auf dem | |
Weg zum persönlichen Erfolg und damit auf eine Art „Girlboss“-Feminismus | |
setzt, anstatt die Systemfrage aufzuwerfen. Egal, ob man für die Positionen | |
Tekkals und Funks Sympathie empfindet: Sie sind es, die dafür sorgen, dass | |
der von überraschend viel Gleichgestimmtheit geprägten Reihe der | |
Debattencharakter nicht verlorengeht. | |
Drei progressive Stimmen und ein letzter, vergleichsweise konservativer | |
Beitrag werden schließlich auch in der abschließenden Meta-Folge, die | |
ergründet, wie „radikal“ für den Wandel gestritten werden darf, | |
gegenübergestellt. | |
Während sich [7][die Politikerin Marina Weisband] ebenso wie die | |
[8][Fridays-for-Future-Sprecherin Annika Rittmann] für radikale Forderungen | |
im Klimaschutz aussprechen und [9][Autor Mohamed Amjahid] („Der weiße | |
Fleck“) selbiges für die Antirassismus-Bewegung tut, grenzt sich | |
Zeit-Redakteurin Yasmin M’Barek („Radikale Kompromisse“) ab, indem sie die | |
Bedeutung der Verständigung unterstreicht. Radikale Idealisten brauche es | |
für die Impulsgebung unbedingt. Fehlt allerdings die parlamentarische | |
Mehrheit, drohe beim sturen Verharren auf eigenen Positionen schlicht der | |
Stillstand. | |
## Keine echte Utopie | |
Auf eine echte Utopie, gar eine, die für mehr als einzelne Lebensbereiche | |
oder gesellschaftliche Gruppierungen gelten könnte, stößt „Futur Wir“ so… | |
Ende nicht. Um sehenswert zu sein, hat die Doku-Reihe eine solche | |
unwahrscheinliche Entdeckung allerdings auch nicht nötig. Interessante | |
Anregungen liefert sie allein durch die schiere Vielzahl an | |
herausfordernden, in der knappen Spielzeit freilich nur angerissenen | |
Positionen – und sei es nur für den nächsten Bücherkauf. | |
Ganz nebenbei sind die drei Filme der Reihe, in denen sie nur partikulare | |
Visionen einer besseren Zukunft ausfindig macht, auch eine treffende | |
Diagnose einer Zeit, der der stille Glaube an ein wahrlich besseres Morgen | |
für alle abhandengekommen ist. Die hartnäckige Hoffnung, dass trotzdem noch | |
was geht, aber offensichtlich nicht. | |
26 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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